23.11.2024
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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil28.07.2017

VG Stuttgart: Baden-Württemberg muss mehr gegen die Luftverpestung in Stuttgart tun - Fahrverbot für Dieselautos in Stuttgart möglichDeutsche Umwelthilfe hat Anspruch auf Fortschreibung des Luftrein­hal­te­planes der Stadt Stuttgart

Das Verwal­tungs­gericht Stuttgart hat der Klage der Deutschen Umwelthilfe e.V. gegen das Land Baden-Württemberg stattgegeben. Die Deutsche Umwelthilfe hat einen Anspruch auf Fortschreibung des Luftrein­hal­te­planes Stuttgart um Maßnahmen, die zu einer schnellst­mög­lichen Einhaltung der überschrittenen Immissions­grenz­werte für NO2 in der Umweltzone Stuttgart führen.

Die wesentlichen Gründe der Entscheidung hat Richter am Verwal­tungs­gericht Wolfgang Kern in der heutigen Urteils­ver­kündung am 28. Juli 2017 wie folgt dargelegt: Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Fortschreibung des Luftrein­hal­te­planes Stuttgart um Maßnahmen, die zu einer schnellst­mög­lichen Einhaltung der seit mindestens 2010 überschrittenen Immissionsgrenzwerte für Stick­stoff­dioxid in der Umweltzone Stuttgart führen.

Dies folgt aus § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 3 BImSchG, wonach die für die Aufstellung von Luftrein­hal­te­plänen zuständige Planbehörde (hier: Regie­rungs­prä­sidium Stuttgart) einen Luftreinhalteplan aufzustellen oder fortzuschreiben hat, wenn die nach europa- und bundes­recht­lichen Vorschriften einzuhaltenden Immis­si­ons­grenzwerte für Luftschadstoffe nicht eingehalten werden.

Luftrein­hal­tungsplan muss um die zur Einhaltung der Immis­si­ons­grenzwerte erforderlichen Maßnahmen ergänzt werden

1. Das ist hier der Fall, weil in der Umweltzone Stuttgart die Immis­si­ons­grenzwerte für Stick­stoff­dioxid seit 2010 bis zum heutigen Tage nicht eingehalten werden.

2. Dieser Verpflichtung, den Luftrein­hal­tungsplan Stuttgart um die zur Einhaltung dieser Immis­si­ons­grenzwerte erforderlichen Maßnahmen zu ergänzen, ist die Planbehörde mit dem vorgelegten Planentwurf der „3. Fortschreibung des Luftrein­hal­tungs­planes zur Minderung der Feinstaub- und Stick­stoff­dioxid-Belastungen“ nicht im gebotenen Umfang nachgekommen.

Von den in M1, M2a, M2b und M2c geregelten Verkehrsverboten kann keines als ausreichende und geeignete Luftrein­hal­te­plan­maßnahme zur schnellst­mög­lichen Einhaltung der überschrittenen Immis­si­ons­grenzwerte eingestuft werden.

Für das Verkehrsverbot M1 folgt dies daraus, dass dieses frühestens zum 01.01.2020 umgesetzt werden soll und deshalb bereits wegen dieses späten Umset­zungs­zeit­punktes zu einer schnellst­mög­lichen Einhaltung der überschrittenen Immis­si­ons­grenzwerte nichts beitragen kann.

Für die Verkehrsverbote M2a, M2b und M2c gilt dies deshalb, weil die Umsetzung dieser Verkehrsverbote ausnahmslos an weitere Bedingungen geknüpft ist, deren Eintritt bereits zum heutigen Zeitpunkt ausgeschlossen werden kann (M2a und M2b), ungewiss ist (M2c) oder dieses Verkehrsverbot aber jedenfalls von seinem Wirkungsgrad offensichtlich ungeeignet ist, die Überschreitung der Immis­si­ons­grenzwerte nennenswert zu reduzieren (M2c).

Auch die Regelungen M3 bis M20 enthalten keine geeigneten Luftrein­hal­te­plan­maß­nahmen im Sinne des § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 3 BImSchG, weil diese - selbst wenn man sie im weitesten Sinne als Luftrein­hal­te­plan­maß­nahmen einstufen könnte und sie auch tatsächlich alle (zeitnah) umgesetzt würden - die vorliegende Überschreitung der Stick­stoff­dioxid-Immis­si­ons­grenzwerte zusammen um höchstens 15 % reduzieren könnten.

Ganzjährig geltendes Verkehrsverbot für Kraftfahrzeuge der Schad­s­toff­klasse Euro 3 und Euro 6/VI in Stuttgarter Umweltzone

3. Nach den Feststellungen im Gesamt­wir­kungs­gut­achten des Beklagten handelt es sich bei dem in Maßnahme M1 beschriebenen, in der Umweltzone Stuttgart ganzjährig geltenden Verkehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit benzin- oder gasbetriebenen Ottomotoren unterhalb der Schad­s­toff­klasse Euro 3 sowie für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Schad­s­toff­klasse Euro 6/VI um die effektivste und derzeit einzige Luftrein­hal­te­plan­maßnahme zur Einhaltung der überschrittenen Immis­si­ons­grenzwerte und zugleich auch zur schnellst­mög­lichen Einhaltung, wenn dieses bereits zum 01.01.2018 in Kraft gesetzt wird.

4. Alle anderen von der Planungsbehörde in Betracht gezogenen Maßnahmen (Geschwin­dig­keits­be­schrän­kungen, Verkehrsverbote nach Kfz-Kennzeichen, City-Maut, Nahver­kehr­s­abgabe und sog. „Nachrüstlösung“) sind von ihrem Wirkungsgrad nicht gleichwertig.

Dies gilt insbesondere auch für die von der Landesregierung und der zuständigen Planbehörde zuletzt als vorzugswürdig erachtete sog. „Nachrüstlösung“, weil diese - selbst bei einer angenommenen freiwilligen Umrüstquote von 100 % bis 2020 und einer ausnahmslos angenommenen Reduzierung der realen Emissionen im Straßenverkehr durch die Nachrüstung um mindestens 50 % - nach der eigenen Einschätzung der Gutachter des Beklagten bis 2020 lediglich zu einer Reduzierung der überschrittenen Stick­stoff­dioxid-Immis­si­ons­grenzwerte um maximal 9 % führen kann.

Verkehrsverbot verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit

5. Die Einführung des vom Beklagten mit der Maßnahme M1 beabsichtigten Verkehrs­verbotes begegnet auch im Hinblick auf die gesetzlichen Vorgaben des § 47 Abs. 4 Satz 1 BImSchG keinen rechtlichen Bedenken.

Das Verkehrsverbot verstößt insbesondere unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gegen den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit, weil - wovon auch die Planbehörde ausgeht und was zwischen den Beteiligten deshalb unstreitig ist - der Schutz der Rechtsgüter Leben und Gesundheit der von den Immissionen betroffenen Wohnbevölkerung in der Umweltzone Stuttgart höher zu gewichten ist, als die dagegen abzuwägenden Rechtsgüter (Eigentum und allgemeine Handlungs­freiheit) der von dem Verkehrsverbot betroffenen Kraft­fahr­zeu­gei­gentümer.

Eine Unver­hält­nis­mä­ßigkeit des Verkehrs­verbotes lässt sich auch nicht aus dem zur schnellst­mög­lichen Einhaltung der überschrittenen Stick­stoff­dioxid-Immis­si­ons­grenzwerte notwendigen Umset­zungs­zeitpunkt 01.01.2018 herleiten. Insbesondere besteht keine rechtliche Notwendigkeit, das Verkehrsverbot so lange zu verschieben, bis die Zahl der davon betroffenen Verkehrs­teil­nehmer nur noch 20 % des Flotten­be­standes Stuttgart betrifft. Hierbei handelt es sich um eine von der Planbehörde willkürlich vorgenommene Begrenzung des vom Verkehrsverbot betroffenen Adres­sa­ten­kreises, für die es keine sachliche Rechtfertigung gibt.

Eine solche Rechtfertigung lässt sich insbesondere nicht aus den von der Beklagten zuletzt noch vorgetragenen „unzulässigen Ausweich­ver­kehren“ herleiten, zu denen es angeblich kommen soll, wenn die Zahl der vom Verkehrsverbot betroffenen Verkehrs­teil­nehmer über 20 % liegt. Denn diese wurden bislang nicht hinreichend belegt. Doch selbst wenn es durch eine Einführung des Verkehrs­verbotes bereits zum 01.01.2018 zu solchen unzulässigen Ausweich­ver­kehren kommen sollte, berechtigt dies die Planbehörde nicht dazu, die Festlegung des Verkehrs­verbotes zu unterlassen oder dessen Umset­zungs­zeitpunkt zu verschieben. In diesem Falle wäre die Planbehörde vielmehr verpflichtet, diese unzulässigen Ausweich­verkehre durch geeignete weitere Planmaßnahmen ebenfalls zu unterbinden.

Die Planbehörde ist auch nicht befugt, das zur Einhaltung der überschrittenen Immis­si­ons­grenzwerte sofort (01.01.2018) erforderliche Verkehrsverbot wegen der von ihr zuletzt bevorzugten sog. „Nachrüstlösung“ auf einen erheblich späteren Zeitpunkt (hier 01.01.2020) zu verschieben.

"Nachrüstlösung" stellt keine rechtlich gleichwertige Alternative zum Verkehrsverbot dar

Dem stehen bereits rechtliche Gründe entgegen, weil die „Nachrüstlösung“ - wovon die Planbehörde auch selbst ausgeht - nicht als verbindliche Maßnahme in den Luftrein­hal­teplan aufgenommen werden kann. Die „Nachrüstlösung“ stellt deshalb bereits keine rechtlich gleichwertige Handlung­s­al­ter­native dar, für die sich die Planbehörde im Rahmen ihres planerischen Entschei­dungs­spielraums nach § 47 Abs. 4 Satz 1 BImSchG anstelle des Verkehrs­verbotes entscheiden könnte.

Soweit die Planbehörde dieser „Nachrüstlösung“ trotzdem den Vorzug geben will, würde sie damit zudem einen Handlungs­spielraum zu Lasten des zur Einhaltung der überschrittenen Immis­si­ons­grenzwerte sofort gebotenen Verkehrsverbots in Anspruch nehmen, der ihr gemäß § 47 Abs. 1 BImSchG ebenfalls nicht zusteht, wenn die Stick­stoff­dioxid-Immis­si­ons­grenzwerte bereits seit so langer Zeit wie in der Umweltzone Stuttgart überschritten sind.

Darüber hinaus kann die Planbehörde der „Nachrüstlösung“ auch aus tatsächlichen Gründen nicht den Vorzug vor dem sofort gebotenen Verkehrsverbot einräumen, weil diese „Nachrüstlösung“ selbst bei einem maximal erfolgreichen Verlauf lediglich ein Immis­si­ons­min­de­rungs­po­tenzial von ca. 9 % besitzt. Dies bedeutet, dass die „Nachrüstlösung“ selbst dann nicht zur Einhaltung der zulässigen Stick­stoff­dioxid-Immis­si­ons­grenzwerte in der Umweltzone Stuttgart führen könnte, wenn bis zum Jahr 2020 ausnahmslos alle nachrüstbaren Diesel-Kraftfahrzeuge auch tatsächlich nachgerüstet und hierdurch bei jedem nachgerüsteten Kraftfahrzeug die schädlichen Abgasemissionen halbiert würden.

Bei dieser Sachlage würde die Planbehörde mit einem Festhalten an der „Nachrüstlösung“ und gleichzeitiger Verschiebung des sofort gebotenen Verkehrs­verbotes bis zum 01.01.2020 den bereits seit über 7,5 Jahre andauernden rechtswidrigen Zustand der erheblichen Überschreitung der Stick­stoff­dioxid-Immis­si­ons­grenzwerte in der Umweltzone Stuttgart um mindestens weitere 2,5 Jahre verlängern, anstatt diesen rechtswidrigen Zustand so schnell wie möglich zu beenden. Mit einem Festhalten an der „Nachrüstlösung“ würde die Planbehörde also in ganz erheblichem Maße gegen ihre gesetzliche Verpflichtung zur schnellst­mög­lichen Minimierung der gesund­heits­schäd­lichen Luftver­un­rei­ni­gungen und - da der Planbehörde der völlig unzureichende Wirkungsgrad der „Nachrüstlösung“ bekannt ist - auch in voller Kenntnis dieser unstreitigen Sachlage gegen ihre Handlungs­pflichten aus § 47 Abs. 1 BImSchG verstoßen.

Verkehrsverbot ist mit Straßen­ver­kehrs­ordnung durchsetzbar

6. Das Verkehrsverbot ist mit dem Instrumentarium der Straßenverkehrsordnung (StVO) durchsetzbar. Zwar ist das bislang allein existierende Zusatzzeichen für die Freistellung vom Verkehrsverbot in einer bestehenden Umweltzone mit seinem derzeit maximal möglichen Regelungsinhalt (Grüne Plakette frei) nicht ausreichend, um das vorliegend umzusetzende Verkehrsverbot bekannt zu machen. Auch ist die für Fälle der vorliegenden Art deshalb dringend gebotene Ergänzung der einschlägigen Verordnungen durch den Bundes­ver­ord­nungsgeber bislang nicht erfolgt und derzeit auch nicht absehbar.

In Anbetracht der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Einhaltung der unionsrechtlich vorgegebenen Umwelt­schutz­standards und des aus Art. 2 Abs. 2 GG resultierenden Schutzauftrags für das Leben und die Gesundheit von Menschen kann dieses vom Bundes­ver­ord­nungsgeber ohne sachlichen Grund bislang nicht behobene Regelungs­defizit jedoch nicht dazu führen, dass das vorliegend zum Schutz der menschlichen Gesundheit gebotene Verkehrsverbot unterbleibt.

Da die Aufzählung der Zusatzzeichen in der StVO zudem nicht abschließend ist, ist der Beklagte deshalb rechtlich befugt und verpflichtet, das im vorliegenden Fall notwendige Zusatzzeichen selbst zu gestalten. Auch in Bezug auf den hier notwendigen Textumfang, mit dem eine Freistellung vom Verkehrsverbot für Dieselfahrzeuge Euro 6 und sonstige Kraftfahrzeuge (Kraftfahrzeuge mit Ottomotoren) ab Euro 3 geregelt werden müsste, bestehen keine rechtlichen Bedenken.

Quelle: Verwaltungsgericht Stuttgart, ra-online (pm)

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