21.11.2024
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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil22.10.2015

Verdachts­unabhängige Perso­nen­kon­trolle der Bundespolizei im ICE rechtswidrigUnzulässige Verdachts­unabhängige Perso­nen­kon­trolle eines Dunkelhäutigen im ICE

Das Verwal­tungs­gericht Stuttgart hat eine von Beamten der Bundespolizei in einem ICE durchgeführte Identitäts­fest­stellung mit anschließendem Datenabgleich eines in Kabul geborenen deutschen Staats­an­ge­hörigen mit dunkler Hautfarbe für rechtswidrig erklärt.

Der Kläger des zugrunde liegenden Verfahrens, ein 30-jähriger deutscher Staats­an­ge­höriger mit dunkler Hautfarbe, macht mit seiner Klage geltend, dass er am 19. November 2013 gegen 22.30 Uhr von drei Beamten der Bundespolizei in der 1. Klasse des ICE 377 zwischen Baden-Baden und Offenburg in rechtswidriger Weise kontrolliert worden sei. Der Kläger hielt die bei ihm durchgeführte Perso­na­li­en­fest­stellung für rechtswidrig und trug zur Begründung vor, dass mit dieser Feststellung in sein Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung eingegriffen und gegen den Gleich­heits­grundsatz verstoßen worden sei, weil nur er in dem Waggon und nur wegen seiner Hautfarbe kontrolliert worden sei.

Bundespolizei hält erfolgte Perso­nen­kon­trolle für zulässig und rechtmäßig

Die Bundes­bahn­po­li­zei­di­rektion Stuttgart, welche in dem Fall die Bundesrepublik Deutschland vertrat, berief sich ihrerseits darauf, dass die Kontrolle rechtmäßig gewesen sei. Der Bundespolizei obliege der Grenzschutz im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km. Im Grenzgebiet wie vorliegend könne die Bundespolizei nach § 23 des Bundes­po­li­zei­ge­setzes zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreisen in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten die Identität einer Person feststellen. Da in der Vergangenheit immer wieder unerlaubt eingereiste Ausländer in den Zügen festgestellt worden seien, sei eine Personenkontrolle des Klägers aufgrund der Lageer­kenntnisse angebracht und notwendig gewesen.

Voraussetzungen für eine zulässige polizeiliche Perso­nen­kon­trolle

Das Verwal­tungs­gericht Stuttgart entschied, dass die Bundespolizei grundsätzlich nicht berechtigt ist, im Grenzgebiet zu einem anderen Schengen-Staat (hier: Frankreich) verdachts­u­n­ab­hängige Perso­nen­kon­trollen zur Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet vorzunehmen. Der Vorrang des Unionsrechts steht der Anwendung der im Bundes­po­li­zei­gesetz für derartige Kontrollen enthaltenen Ermäch­ti­gungs­grundlage (§ 23 Abs. 1 Nr. 3 des Bundes­po­li­zei­ge­setzes - BPolG) entgegen. Nach dem in allen Staaten des Schengen-Raums unmittelbar anwendbaren Schengener Grenzkodex, einer am 13. Oktober 2006 in Kraft getretenen Verordnung der EU, dürfen an den Binnengrenzen keine Perso­nen­kon­trollen durchgeführt werden. Ebenfalls unzulässig sind Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben. Polizeiliche Perso­nen­kon­trollen auf der Grundlage des nationalen Rechts sind demgegenüber zulässig, wenn sie (1.) keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, (2.) auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenz­über­schrei­tenden Kriminalität abzielen, (3.) in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Perso­nen­kon­trollen an den Außengrenzen unterscheidet, und (4.) auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.

Ermäch­ti­gungs­grundlage im Bundes­po­li­zei­gesetz genügt nicht den zu beachtenden Anforderungen an Polizei­kon­trollen

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bereits 2010 zur vergleichbaren Rechtslage in Frankreich entschieden, dass eine nationale Regelung, die den Polizeibehörden eine Befugnis zur Durchführung von verdachts­u­n­ab­hängigen Identi­täts­kon­trollen im Grenzgebiet zu anderen Schengenstaaten einräumt, den erforderlichen Rahmen für die diesen Behörden eingeräumte Befugnis vorgeben muss, um insbesondere das Ermessen zu lenken, über das sie bei der tatsächlichen Handhabung der Befugnis verfügen. Dieser Rahmen muss gewährleisten, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identi­täts­kon­trollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenz­über­tritts­kon­trollen haben kann (EuGH, Urteil vom 22.06.2010 - C-188/10 und C-189/10). Diesen auch vom deutschen Gesetzgeber zu beachtenden Anforderungen genügt die vorliegend herangezogene Ermäch­ti­gungs­grundlage im Bundes­po­li­zei­gesetz nicht. Es fehlt an verbindlichen Regelungen hinsichtlich Intensität und Häufigkeit der Kontrollen.

§ 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG könnte danach als Ermäch­ti­gungs­grundlage für verdachts­u­n­ab­hängige Perso­nen­kon­trollen nur dann herangezogen werden, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage der Art. 23 ff. des Schengener Grenzkodex vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betreffenden Binnengrenze einführt. Dies war zum Zeitpunkt der hier zu beurteilenden Perso­nen­kon­trolle im November 2013 nicht der Fall.

Gericht lässt Frage einer möglichen Kontrolle aufgrund der Hautfarbe offen

Die Frage, ob möglicherweise die Hautfarbe des Klägers bei der Entscheidung, gerade ihn und nicht andere Mitreisende in dem betreffenden Waggon zu kontrollieren, eine Rolle gespielt hat, und wie dies rechtlich zu bewerten wäre, hat das Gericht offen gelassen.

Quelle: Verwaltungsgericht Stuttgart/ra-online

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