23.11.2024
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Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Urteil13.04.2017

Rechts­re­fe­rendarin darf juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst mit Kopftuch antretenKopftuchverbot kann nicht allein durch abstrakte Gefährdung der staatlichen Neutralität gerechtfertigt werden

Das Verwal­tungs­gericht Frankfurt am Main hat in einem Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes entschieden, dass eine Rechts­re­fe­rendarin islamischen Glaubens ihren juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst einschließlich eventuell durch­zu­füh­render Beweisaufnahmen und staats­anwalt­schaft­licher Sitzungs­vertretungen sowie der Leitung von Anhörungs­ausschüssen mit einem Kopftuch, das Haare und Hals bedeckt, versehen darf.

Die Antragstellerin des zugrunde liegenden Rechtsstreits trat im Januar 2017 den juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst am Landgericht Frankfurt am Main an. Als Ausdruck ihrer individuellen Glaubens­über­zeugung trägt sie ein Kopftuch, das Haare und den Hals bedeckt.

OLG legt über Hinweisblatt Auswirkungen für Referen­da­ri­at­stä­tigkeit durch Tragen des Kopftuches dar

Schon vor Aufnahme des Referen­da­r­dienstes hat sie über das zuständige Oberlan­des­gericht Frankfurt am Main ein Hinweisblatt erhalten, das folgenden Inhalt hat: "Das hessische Ministerium der Justiz hat mich angewiesen, Sie über folgende Umstände zu belehren: Auch Rechts­re­fe­ren­da­rinnen im juristischen Vorbe­rei­tungs­dienst haben sich gegenüber Bürgerinnen und Bürgern politisch, weltanschaulich und neutral zu verhalten. Das bedeutet, dass sie, wenn sie während ihrer Ausbildung ein Kopftuch tragen, keine Tätigkeit ausüben dürfen, bei denen sie von Bürgerinnen und Bürgern als Repräsentantin der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden können. Praktisch bedeutet dies insbesondere, dass Referendarinnen die ein Kopftuch tragen, bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank sitzen dürfen, sondern im Zuschauerraum der Sitzung beiwohnen können, keine Sitzungsleitung und / oder Beweisaufnahmen durchführen können, keine Sitzungs­ver­tre­tungen für die Staats­an­walt­schaft übernehmen können, während der Verwal­tungs­station keine Anhörungs­aus­schuss­sit­zungen leiten können [...]".

Antragstellerin fühlt sich durch Hinweisblatt in Vorbe­rei­tungs­dienst eingeschränkt und diskriminiert

Die Antragstellerin hat beim zuständigen Verwal­tungs­gericht Frankfurt am Main um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht, weil sie sich durch dieses Hinweisblatt in ihrem Vorbe­rei­tungs­dienst eingeschränkt und diskriminiert sieht. Sie habe einen Anspruch auf eine diskri­mi­nie­rungsfreie, gleich­be­rechtigte Durchführung des Referendariats. Die Nichtvornahme der einzelnen Tätigkeiten im Rahmen des Referendariats könne für sie zu wesentlichen Nachteilen führen. Sie selbst trage das Kopftuch aus tiefer religiöser Überzeugung. Das Tragen des Kopftuches stelle für sie ein religiöses Gebot dar und die Nichtbeachtung dieses Gebots stürze sie in einen schwerwiegenden Gewis­sens­konflikt. Das erhaltene Hinweisblatt richte sich explizit an muslimische, kopftuch­tragende Referendarinnen. Durch diesen Hinweis werde sie gegenüber anderen Rechts­re­fe­ren­da­rinnen benachteiligt. Außerdem werde sie in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit beeinträchtigt. Denn das Land Hessen habe letztendlich ein Ausbil­dungs­monopol im Bereich der Juris­te­n­aus­bildung. Daher müsse sie die Ausbildung auch so absolvieren können, wie es das Juris­te­n­aus­bil­dungs­gesetz (JAG) vorsehe.

Land Hessen hält Eingriff in Religi­o­ns­freiheit für gerechtfertigt

Das Land Hessen trat dieser Ausführung mit der Begründung entgegen, dass der Antragstellerin mit dem Hinweisblatt zwar mehrere Tätigkeiten, wie zum Beispiel Sitzungs­ver­tretung für die Staats­an­walt­schaft und die Durchführung von Beweisaufnahmen und die Übernahme von Anhörungs­aus­schüssen im Rahmen der Verwal­tungs­station untersagt, und damit in ihre Religionsfreiheit nach Art. 4 GG eingegriffen würde. Dies sei aber gerechtfertigt, weil der hessische Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Sicherung der staatlichen Neutralität eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff in die Religi­o­ns­freiheit geschaffen habe. § 45 Hessisches Beamtengesetz ermächtige den hessischen Gesetzgeber, Regelungen zur Sicherung der staatlichen Neutralität zu treffen. Diese Regelung sei in analoger Verweisung auch auf Rechts­re­fe­ren­da­rinnen anwendbar. Die Ausübung des Vorbe­rei­tungs­dienstes mit der Übernahme staatlicher Funktionen und der Repräsentation nach außen mit religiös konnotierter Bekleidung verstoße gegen das Neutra­li­tätsgebot in der Justiz. Mit dem Hinweisblatt, das der Antragstellerin ausgehändigt wurde, habe man auf diese Rechtslage hingewiesen.

VG erklärt Antrag im Wege des vorläufigen Rechts­schutz­ver­fahrens für zulässig

Dieser Einschätzung vermochte das Verwal­tungs­gericht Frankfurt am Main nicht zu folgen. Zunächst führte das Gericht aus, dass der Antrag im Wege des vorläufigen Rechts­schutz­ver­fahrens zulässig sei. Die Antragstellerin befinde sich im Referendariat und daher könne sie nicht auf ein eventuell durch­zu­füh­rendes Haupt­sa­che­ver­fahren verwiesen werden, da sie unter Umständen Nachteile während ihrer jetzigen Ausbildungszeit hinnehmen müsse. Die Antragstellerin sei auch antragsbefugt, weil die Vorgaben des Hinweisblattes des Hessischen Justiz­mi­nis­teriums in den Schutzbereich der Religions- und Glaubens­freiheit des Art. 4 GG sowie in den aus Art. 12 GG resultierenden verfas­sungs­recht­lichen Auftrag, die Freiheit der Berufswahl zu ermöglichen, eingreifen könnten.

Gesetzliche Grundlagen für auferlegte Einschränkungen im Hinblick auf Tragen eines Kopftuches nicht gegeben

In der Sache weist das Gericht darauf hin, dass es für die der Antragstellerin auferlegten Einschränkungen im Hinblick auf das Tragen des Kopftuches keine gesetzliche Grundlage gäbe. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, wonach behördliche Eingriffe in Form von Verboten oder wirkung­s­ähn­lichen Maßnahmen, die den Schutzbereich eines Grundrechts betreffen, grundsätzlich nur aufgrund eines förmlichen Parla­ments­ge­setzes möglich sind, wird das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage moniert. Rechts­s­taats­prinzip und Demokratiegebot verpflichteten den Gesetzgeber, die für die Grund­rechts­ver­wirk­lichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen und nicht der Exekutive zu überlassen.

VG bejaht Einschränkungen der Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit sowie der Berufs­wahl­freiheit

Das Verwal­tungs­gericht stellte weiter fest, dass eine vorliegende Grund­recht­s­ein­schränkung im Sinn der Einschränkung der Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit des Art. 4 GG aber auch der Berufs­wahl­freiheit des Art. 12 GG durch das Verbot des Tragens des Kopftuches während wesentlicher Teile des Vorbe­rei­tungs­dienstes gegeben sei. Die Antragstellerin habe zur Überzeugung des Gerichts eine religiöse Motivation für das von ihr aus Glaubensgründen verpflichtend dargestellte Gebot des Tragens des Kopftuches geltend gemacht. Ihre Berufs­wahl­freiheit sei auch betroffen, da Rechts­re­fe­rendare und Rechts­re­fe­ren­da­rinnen einem (faktischen) staatlichen Ausbil­dungs­monopol unterlägen.

Aufein­an­der­treffen konkurrierender grund­recht­licher Freiheitsrechte und verfas­sungs­recht­licher Prinzipien erfordert gesetz­ge­be­rische Lösung

Diesen Grund­recht­s­ein­schrän­kungen auf Seiten der Antragstellerin stünden weitere grundlegende verfas­sungs­rechtliche Prinzipien, wie die staatliche Neutralität - gerade im Bereich der Justiz von herausragender Bedeutung- sowie die negative Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit von weiteren Verfah­rens­be­tei­ligten gegenüber. Diese könnten sich durch eine Referendarin, die die staatliche Autorität repräsentiert und zugleich religiös konnotierte Kleidung trägt, beeinträchtigt fühlen oder aber Zweifel an der Neutralität dieser Person und damit eventuell auch an der Justiz haben. Dieses Aufein­an­der­treffen miteinander konkurrierender grund­recht­licher Freiheitsrechte und verfas­sungs­recht­licher Prinzipien erfordere eine gesetz­ge­be­rische Lösung. Der Gesetzgeber habe zwar mit dem Gesetz zur Sicherung der staatlichen Neutralität eine ausdrückliche Nominierung zur Neutra­li­täts­pflicht für Beamte im Hessischen Beamtengesetz und für Referendare und Referendarinnen im schulischen Vorbe­rei­tungs­dienst geschaffen. Für Rechts­re­fe­rendare und Rechts­re­fe­ren­da­rinnen, die bereits seit dem Jahr 2002 nicht mehr in einem Beamten­ver­hältnis auf Widerruf gestanden hätten, sei eine derartige Regelung nicht erfolgt. Das Gericht ist der Auffassung, dass in Bereichen, in denen die Grenzen der Religi­o­ns­freiheit bestimmt und sichergestellt werden müssen, Eingriffe nur sehr eingeschränkt und ausschließlich durch den parla­men­ta­rischen Gesetzgeber möglich seien. Allein ein Erlass oder ein Hinweisblatt entspreche diesen Anforderungen nicht.

Religiös motiviertes Tragen eines Kopftuches bei Rechts­re­fe­ren­da­rinnen ist auch im Hinblick auf Verfah­rens­frieden hinzunehmen

Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass eine gesetzliche Regelung für Berufsbeamte und Richter getroffen worden ist. Für Richterinnen und Richter ist über das hessische Richtergesetz vor dem Hintergrund der staatlichen Neutralität und der negativen Glaubens- und Bekennt­nis­freiheit der Verfah­rens­be­tei­ligten festgelegt, dass diese ohne Glaubens- bzw. Bekennt­nis­symbole in Außenkontakt mit Verfah­rens­be­tei­ligten treten. Denn Beamte und Beamtinnen sowie Richter und Richterinnen sind Amtsträger und damit der Neutralität des Staates verpflichtet. Hiervon unterscheidet sich aber die Stellung einer Rechts­re­fe­rendarin bzw. eines Rechts­re­fe­rendars. Im Hinblick auf die Glaubens- und Gewis­sens­freiheit und den hohen Stellenwert der Berufs­wahl­freiheit – gerade auch auf im Hinblick auf den ungeschmälerten und vollständigen Ausbil­dungs­umfang – sei es unver­hält­nismäßig, diesen in der Ausbildung befindlichen Menschen in religiös-weltan­schau­licher Hinsicht die gleichen Verhal­tenspflichten aufzuerlegen wie den ernannten Richtern. Allein eine abstrakte Gefährdung der staatlichen Neutralität könne hier einen derartigen Eingriff nicht rechtfertigen. Auch im Hinblick auf den Verfah­rens­frieden sei das religiös motivierte Tragen des Kopftuches bei Rechts­re­fe­ren­da­rinnen hinzunehmen. Es bestünden hinreichende Möglichkeiten, die Beteiligten eines Verfahrens- bzw. Rechtsstreits im Einzelfall angemessen darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Rechts­re­fe­rendar, der Rechts­re­fe­rendarin um eine in Ausbildung befindliche Person handele. Auch soweit die Referendarin als Sitzungs­ver­treterin der Staats­an­walt­schaft eigen­ver­ant­wortlich die Anklage in einem Strafprozess vertreten müsse, könne der Vorsitzende des Strafgerichts entsprechende Hinweise auf die Ausbil­dungs­si­tuation an die Verfah­rens­be­tei­ligten geben. Sollte es dennoch zu Unzuträg­lich­keiten im konkreten Einzelfall kommen, so könne die Antragstellerin dann diesen Dienst nicht mehr wahrnehmen ohne sich auf ein Diskri­mi­nie­rungs­verbot berufen zu können.

Quelle: Verwaltungsgericht Frankfurt am Main/ra-online

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