21.11.2024
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Dokument-Nr. 14772

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Beschluss08.11.2012Bundesverfassungsgericht1 BvR 22/12
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • DVBl 2013, 169Zeitschrift: Das Deutsche Verwaltungsblatt (DVBl), Jahrgang: 2013, Seite: 169
  • EuGRZ 2013, 73Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ), Jahrgang: 2013, Seite: 73
  • KommJur 2013, 73Zeitschrift: Kommunaljurist (KommJur), Jahrgang: 2013, Seite: 73
  • ZD 2013, 126Zeitschrift für Datenschutz (ZD), Jahrgang: 2013, Seite: 126
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss08.11.2012

Dauer­ob­ser­vation eines entlassenen Sicherungs­verwahrten kann nur vorläufig auf polizei­rechtliche Generalklausel gestützt werdenÜberwachung muss sich auf hinreichend aktuelle Tatsa­chen­grundlagen zur Einschätzung der Gefährlichkeit stützen

Auch im Eilrechts­schutzverfahren muss sich die verwaltungs­gerichtliche Prüfung, ob die Dauer­ob­ser­vation eines aus der Sicherungs­verwahrung entlassenen Mannes rechtmäßig ist, auf hinreichend aktuelle Tatsa­chen­grundlagen zur Einschätzung seiner Gefährlichkeit stützen. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und wies den Fall daher an das Verwal­tungs­gericht Freiburg zurückverwiesen. Nicht beanstandet hat das Gericht, dass die Verwal­tungs­ge­richte die polizei­rechtliche Generalklausel im Eilrechts­schutzverfahren noch als ausreichende Rechtsgrundlage für die Dauer­ob­ser­vation des Beschwer­de­führers angesehen haben. Die Generalklausel kann den Behörden ermöglichen, auf unvor­her­ge­sehene Gefah­ren­si­tua­tionen auch mit im Grunde genommen näher regelungs­bedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren. Das Schließen etwaiger Regelungslücken liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers.

Die Polizeigesetze der Länder enthalten jeweils eine so genannte Generalklausel (wie zum Beispiel § 1 in Verbindung mit § 3 des baden-württem­ber­gischen Polizeigesetzes). Sie regelt die Befugnisse der Polizeibehörden nur allgemein und in sehr offen formulierter Weise: Danach können diese zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung diejenigen Maßnahmen treffen, die ihnen nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen. Wegen der Unbestimmtheit und Offenheit dieser Klausel dürfen auf sie normalerweise nur Maßnahmen gestützt werden, die kein großes Eingriffs­gewicht haben. Für besonders schwere Grund­recht­s­ein­griffe wie z. B. eine Wohnungs­durch­suchung oder eine Ingewahr­samnahme braucht die Polizei grundsätzlich spezielle Befugnisnormen, die die genauen Voraussetzungen und Bedingungen detailliert regeln und damit solche Maßnahmen näher begrenzen (z. B. durch besondere Anforderungen an die Dringlichkeit der Gefahr, an die Art der Gefahr - etwa das Erfordernis einer Leib- oder Lebensgefahr - oder an das Verfahren - etwa das Erfordernis einer vorherigen richterlichen Entscheidung -). Das baden-württem­ber­gische Polizeirecht kennt eine Rechtsgrundlage, die ausdrücklich auf die längerfristige Observation von gefährlichen Personen zum Schutz Dritter bezogen ist, nicht. Ob und wieweit die bestehenden Rechts­grundlagen hierfür ausreichen, haben die Verwal­tungs­ge­richte bisher noch nicht abschließend geklärt.

Beschwerde richtet sich gegen längerfristige Observation

Die Verfas­sungs­be­schwerde richtet sich gegen Entscheidungen im verwal­tungs­ge­richt­lichen Eilrechts­schutz­ver­fahren über die längerfristige Observation des aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Beschwer­de­führers.

Polizei­di­rektion ordnet mit Entlassung aus Siche­rungs­ver­wahrung längerfristige Observation an

Das Landgericht S. hatte den Beschwer­de­führer im Jahre 1985 wegen zwei Verge­wal­ti­gungen zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren mit anschließender Siche­rungs­ver­wahrung verurteilt. Mit Beschluss vom 10. September 2010 erklärte das Oberlan­des­gericht - im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - die Siche­rungs­ver­wahrung für erledigt. Mit der Entlassung des Beschwer­de­führers aus der Siche­rungs­ver­wahrung hat die Polizei­di­rektion Freiburg die längerfristige Observation des Beschwer­de­führers zunächst für die Dauer von vier Wochen angeordnet und diese Anordnung seither regelmäßig, das heißt seit nunmehr länger als zwei Jahren, verlängert.

Polizeibeamte halten sich permanent in unmittelbarer Nähe des Beschwer­de­führers auf

Nach seinen im Ausgangs­ver­fahren unwidersprochen gebliebenen Angaben bewohnt der Beschwer­de­führer ein Zimmer in einer in einem Hinterhaus gelegenen Unterkunft. Im Hof vor diesem Hinterhaus parkt ständig ein Polizeifahrzeug, in dem sich drei Polizeibeamte aufhalten. Zwei weitere Beamte halten sich in der Küche der Unterkunft auf, wenn sich der Beschwer­de­führer in seinem Zimmer befindet. Eine direkte Beobachtung des Beschwer­de­führers in seinem eigentlichen Wohnraum findet nicht statt. Außerhalb seiner Wohnung begleiten ständig Polizisten den Beschwer­de­führer. Bei Gesprächen des Beschwer­de­führers mit Ärzten, Rechtsanwälten und Bediensteten von Behörden sind die Beamten angewiesen, Abstand zu halten. Nimmt der Beschwer­de­führer ansonsten Kontakt zu Frauen auf, weisen die Polizisten sie mit einer so genannten Gefähr­de­te­n­an­sprache auf den Grund der Observation hin.

VG und VGH lehnen einstweiligen Anordnung zur Unterbindung der Observation ab

Einen Antrag des Beschwer­de­führers, seine Observation im Wege der einstweiligen Anordnung zu unterbinden, lehnte das Verwal­tungs­gericht Freiburg mit Beschluss vom 16. August 2011 ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg mit Beschluss vom 8. November 2011 zurück.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde gegen diese beiden Beschlüsse zur Entscheidungen angenommen und ihnen stattgegeben.

Gerichte dürfen vorläufigen Rechtschutz nur bei Vorliegen besonderer Gründe versagen

Die für die Beurteilung der Verfas­sungs­be­schwerde maßgeblichen verfas­sungs­recht­lichen Grundsätze hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits entwickelt: Die Gerichte sind gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders wichtige Gründe entgegenstehen. Dann muss die Prüfung eingehend genug sein, um den Antragsteller vor erheblichen und unzumutbaren, anders weder abwendbaren noch reparablen Nachteilen effektiv zu schützen. Bei solchen Nachteilen können sich die Gerichte nur insoweit auf eine ansonsten ausreichende summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage beschränken, als dies durch besondere Gründe auch angesichts der in Frage stehenden Nachteile gerechtfertigt ist; außerdem müssen sie Fragen des Grund­rechts­schutzes einbeziehen.

Grundrechte von Beschwer­de­führer durch Gerichte nicht ausreichend gewürdigt

Diesen Anforderungen entsprechen die Entscheidungen im Ausgangs­ver­fahren nicht in jeder Hinsicht. Zunächst haben die Verwal­tungs­ge­richte richtigerweise erkannt, dass die dauernde Observation des Beschwer­de­führers einen schwerwiegenden Grund­recht­s­eingriff darstellt. Jedoch haben sie das besondere grundrechtliche Gewicht des Begehrens des Beschwer­de­führers nicht ausreichend gewürdigt.

Verwal­tungs­ge­richte durften polizeiliche Generalklausel im Polizeirecht als noch ausreichende Rechtsgrundlage für dauerhafte Observation ansehen

Nicht zu beanstanden ist es allerdings, dass die Verwal­tungs­ge­richte für das Eilrechts­schutz­ver­fahren die polizeiliche Generalklausel im baden-württem­ber­gischen Polizeirecht als noch ausreichende Rechtsgrundlage für die dauerhafte Observation des Beschwer­de­führers angesehen haben. Zwar ist es zweifelhaft, ob die geltende Rechtslage hinreichend differenzierte Rechts­grundlagen enthält, die die Durchführung solcher Observationen auf Dauer tragen können. Vielmehr handelt es sich wohl um eine neue Form einer polizeilichen Maßnahme, die bisher vom Landes­ge­setzgeber nicht eigens erfasst worden ist und aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer ausdrücklichen, detaillierten Ermäch­ti­gungs­grundlage bedarf. Es begegnet jedoch keinen durchgreifenden verfas­sungs­recht­lichen Bedenken, wenn die Gerichte angesichts des Gewichts der in Frage stehenden Rechtsgüter die vorhandene Grundlage im vorläufigen Rechts­schutz­ver­fahren als noch tragfähig ansehen und die Frage der Rechtsgrundlage erst im Haupt­sa­che­ver­fahren einer abschließenden Klärung zuführen. Der Sache nach verstehen sie damit die polizeiliche Generalklausel dahingehend, dass sie es den Behörden ermöglicht, auf unvor­her­ge­sehene Gefah­ren­si­tua­tionen auch mit im Grunde genommen näher regelungs­be­dürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen so dem Gesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. Dies ist - bei Beachtung strenger Verhält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­rungen - verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt dann in der Verantwortung des Gesetzgebers hierauf zu reagieren oder in Kauf zu nehmen, dass solche Maßnahmen von den Gerichten auf Dauer als von der geltenden Rechtslage nicht als gedeckt angesehen werden.

Fast durchgehende polizeiliche Beobachtung darf nicht auf veraltete Vermutungen auf Gutachten gestützt werden

Die angegriffenen Entscheidungen genügen jedoch aus einem anderen Grund nicht den Voraussetzungen für die gebotene Prüfungs­in­tensität im Bereich des grund­rechts­re­le­vanten einstweiligen Rechtsschutzes. Die Gerichte haben ihre Entscheidung maßgeblich auf ein psychiatrisches Gutachten vom 5. März 2010 gestützt. Die Begutachtung erfolgte zu einem Zeitpunkt, als der Beschwer­de­führer sich noch in Siche­rungs­ver­wahrung befand. Der Gutachter konnte allenfalls vermuten, wie der Beschwer­de­führer sich nach Jahrzehnten der Haft und der Siche­rungs­ver­wahrung in Freiheit verhalten würde. Nunmehr lebt der Beschwer­de­führer aber seit geraumer Zeit unter vollständig veränderten Umständen, die es nicht angezeigt erscheinen lassen, eine so weitreichende Entscheidung wie die über die Fortsetzung einer fast durchgehenden polizeilichen Beobachtung auf veraltete Vermutungen zu stützen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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