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Sozialgericht Gießen Urteil22.11.2017

Keine Minderung des Arbeits­lo­sen­geldes nach Kündigung während der ProbezeitKündigung durch Arbeitnehmer während Probezeit kann "wichtiger Grund" im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II sein

Das Sozialgericht Gießen hat entschieden, dass die Kündigung eines Arbeitnehmers während der Probezeit ein "wichtiger Grund" im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist. Der Begriff "wichtiger Grund" in § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist ein unbestimmter Gesetzesbegriff. Eine Sanktion tritt nur dann ein, wenn dem Leistungs­berechtigten unter Berück­sich­tigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung seiner Interessen und den öffentlichen Interessen ein anderes Verhalten zugemutet werden kann.

Der Kläger des zugrunde liegenden Falls bezog vom Jobcenter Wetterau Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Am 23. Juni 2016 nahm er ein Arbeits­ver­hältnis als Mitarbeiter in der Produktion bei einem Kunststoff verarbeitenden Betrieb auf. Das Arbeits­ver­hältnis sollte am 30. Juni 2018 enden. Am 22. Juli 2016 kündigte der Kläger und erklärte gegenüber dem Jobcenter, seine Aufgaben hätten ziemlich viel Konzentration und Schnelligkeit gefordert. Hierin lägen gerade seine Schwächen. Sein Chef sei ein Choleriker gewesen. Er sei mit dem Arbeitsklima nicht klar gekommen und habe angefragt, ob es ein anderes Arbeiten für ihn gäbe. Dies sei abgelehnt worden. Mit den Bescheiden vom 11. August und 6. September 2016 stellte das Jobcenter eine Minderung des Arbeits­lo­sen­geldes II für die Zeit vom 1. September bis zum 30. November 2016 fest.

Nach körperlichem und geistigem Leistungs­vermögen nicht zumutbare Arbeit stellt berechtigten Grund für Kündigung dar

Die hiergegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht Gießen wies darauf hin, dass ein berechtigter Grund für die Beendigung eines Arbeits­ver­hält­nisses durch den Leistungs­be­rech­tigten vorliege, wenn ihm die Arbeit nach seinem körperlichen und geistigen Leistungs­vermögen nicht zugemutet werden könne. Da die Angaben des Klägers plausibel seien, sei er überfordert gewesen. Bei dieser Situation müsse dem Kläger wie jedem anderen Arbeitnehmer das Recht zugestanden werden, solange er sich in einem Probearbeitsverhältnis befinde, dieses Arbeits­ver­hältnis zu lösen. Arbeit im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sei nicht unterschiedslos jedes Beschäf­ti­gungs­ver­hältnis. Auch ein Probe­a­r­beits­ver­hältnis sei generell ein Arbeits­ver­hältnis, dieses Arbeits­ver­hältnis stelle aber bis zu einem Übergang in ein unbefristetes Arbeits­ver­hältnis (Ende der Probefrist) bzw. zum Fristablauf ein Arbeits­ver­hältnis mit Sonderrechten dar. Dem Sonderrecht der begrün­dungslosen Lösung eines Probe­a­r­beits­ver­hält­nisses hätten auch die Vorschriften des SGB II Rechnung zu tragen. Es sei rechtlich nicht vertretbar, dass das Geltend machen von Rechten eines Arbeitsnehmers - hier Kündigung während der Probezeit - davon abhängig sein solle, ob der Betroffene anschließend einen Grund­si­che­rungs­leis­tungs­an­spruch geltend machen wolle oder nicht. Dies gelte umso mehr, wenn die Vermittlung in eine solche Arbeit nicht durch das Jobcenter vorgenommen worden sei, sondern der Leistungs­be­rechtigte sich die Beschäftigung selbst gesucht habe. Dem Steuerzahler entstehe im letzteren Fall kein Schaden, da der Leistungs­be­rechtigte ohne diese Tätigkeit weiter Leistungs­be­zieher des Jobcenters gewesen wäre.

Kündigen erst nach Finden eines Anschluss­a­r­beits­platzes nicht zumutbar

Der Kläger könne auch nicht darauf verwiesen werden, dass er eine Kündigung erst hätte vornehmen dürfen, wenn er einen Anschluss­a­r­beitsplatz gefunden habe. Eine solche Handhabung der Vorschrift des § 31 Abs. 1 SGB II würde in Zeiten einer schwächeren Konjunktur zwangsläufig dazu führen, dass ein Leistungs­be­rech­tigter, der aus einer Arbeits­lo­sigkeit heraus eine Arbeit aufnehme, grundsätzlich sein Beschäf­ti­gungs­be­en­di­gungsrecht im Rahmen eines Probe­a­r­beits­ver­hält­nisses verlieren würde. Da nicht ersichtlich sei, dass der Gesetzgeber durch § 31 Abs. 1 SGB II das arbeits­ver­traglich unbestrittene Vertragsrecht auf eine Probezeit mit entsprechenden rechtlichen Folgen der Arbeits­ver­trags­partei einschränken wolle und ferner der Kläger infolge Überforderung auch einen "wichtigen Grund" im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II gehabt habe, seien die Bescheide des Beklagten aufzuheben gewesen.

Quelle: Sozialgerichtsbarkeit/ra-online

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