18.10.2024
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Sozialgericht Berlin Urteil11.12.2015

Unionsbürger auf Arbeitsuche hat keinen Anspruch auf Sozia­l­leis­tungenSozialgericht Berlin widerspricht dem Bundes­so­zi­al­gericht

Ein EU-Bürger, der in Deutschland nur ein Aufent­haltsrecht zur Arbeitsuche hat, hat weder Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ("Hartz IV") noch auf Sozialhilfe nach dem SGB XII. Mit dieser Begründung wies das Sozialgericht Berlin die Klage eines 1980 geborenen Bulgaren auf Leistungen zur Sicherung des Existenz­mi­nimums ab.

Der 1980 geborene Kläger des zugrunde liegenden Verfahrens ist bulgarischer Staats­an­ge­hö­rigkeit und lebt seit 2010 bei seiner Mutter in Berlin. Zumindest bis Ende 2013 ging er keiner Beschäftigung nach. Seinen im Februar 2013 gestellten Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes lehnte das beklagte Jobcenter Berlin Treptow-Köpenick im Herbst 2013 ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass der Kläger sich nur zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalte und deshalb von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Mit seiner im Dezember 2013 erhobenen Klage machte der Kläger geltend, dass der Leistungs­aus­schluss gegen EU-Recht verstoße.

Sozialgericht verneint Anspruch auf Sozialhilfe und "Hartz IV"

Das Sozialgericht Berlin wies die Klage ab. Umstritten sei der Leistungs­an­spruch von Februar bis Dezember 2013. In diesem Zeitraum habe der Kläger, der – soweit ersichtlich – keine Arbeits­be­mü­hungen entfaltet habe, höchstens eine Aufent­haltsrecht zur Arbeitsuche gehabt. Damit sei er von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Dieser Leistungs­aus­schluss sei mit dem Europäischen Unionsrecht vereinbar, wie der Europäische Gerichtshof und auch der 4. Senat des Bundes­so­zi­al­ge­richts bestätigt hätten. Anders als das Bundes­so­zi­al­gericht entschieden habe, habe der Kläger indes auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe, weshalb der Sozia­l­hil­fe­träger am Prozess auch nicht zu beteiligen gewesen sei. Personen, die – wie der Kläger – dem Grunde nach, also nach ihrem Gesund­heits­zustand, erwerbsfähig seien, unterfielen nämlich gar nicht dem Regelungs­bereich des Sozia­l­hil­fe­rechts (vgl. § 21 Satz 1 SGB XII). Dies habe der Gesetzgeber auch unmiss­ver­ständlich in seiner Geset­zes­be­gründung klargestellt. Soweit das Bundes­so­zi­al­gericht meine, sich über diesen eindeutigen Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen zu können, sei dies verfas­sungs­rechtlich nicht haltbar. Durch das "Einlegen" von Regelungszielen in eine Norm, die der Gesetzgeber gerade nicht verfolgt habe, werde die Grenze der richterlichen Geset­zes­aus­legung überschritten und damit das Prinzip der Gewaltenteilung durchbrochen.

Deutsche Staat ist bei Unionsbürgern nur zur Gewährung von Überbrü­ckungs­leis­tungen verpflichtet

Der Kläger habe auch nicht von Verfassungs wegen einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes. Bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Existenz­mi­nimums komme dem Gesetzgeber nämlich ein Gestal­tungs­spielraum zu. Anders als Asylbewerbern sei es Unionsbürgern regelmäßig möglich, ohne drohende Gefahren für hochrangige Rechtsgüter in ihr Heimatland zurückzukehren und dort staatliche Unter­stüt­zungs­leis­tungen zu erlangen. Der deutsche Staat sei deshalb regelmäßig nur zur Gewährung von Überbrü­ckungs­leis­tungen verpflichtet, welche insbesondere die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthaltes in Deutschland erfassten. Derartige Leistungen habe der Kläger vorliegend jedoch nicht begehrt.

Zum Hintergrund:

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozial­ge­setzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) sieht einen Leistungs­aus­schluss für EU-Bürger vor, die nur zur Arbeitsuche in Deutschland sind. Rechtmäßigkeit und Anwen­dungs­bereich dieser Vorschrift sind unter den deutschen Sozialrichtern hoch umstritten. Erst zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes stellten klar, dass die Vorschrift mit dem Europarecht vereinbar ist (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil v. 11.11.2014 - C-333/13 - und Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil v. 15.09.2015 - C-67/14 -). In mehreren Urteilen vom 3. Dezember 2015 entschied der 4. Senat des Bundes­so­zi­al­ge­richts daraufhin, dass arbeitsuchende EU-Bürger zwar keinen Hartz IV-Anspruch hätten, stattdessen aber bei einer "tatsächlichen Aufent­halts­ver­fes­tigung" (nach sechs Monaten) Anspruch auf Sozialhilfe.

Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online

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