21.11.2024
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Oberlandesgericht Stuttgart Urteil06.10.2010

"Stuttgart 21": Erbe des Architekten unterliegt im Urheber­rechtsstreit gegen die Deutsche Bahn AGGericht wägt zwischen Erhal­tungs­in­teresse des Urhebers und Verän­de­rungs­in­teresse des Eigentümers ab

Der Erbe des Architekten Paul Bonatz, der seinerzeit den Stuttgarter Hauptbahnhof plante, kann keine Urheber­per­sön­lich­keits­rechte seines Großvaters an einer Unver­än­der­lichkeit des Stuttgarter Bahnhofs gegenüber der Deutschen Bahn AG geltend machen. Dies entschied das Oberlan­des­gericht Stuttgart. Die Klage auf Wiederaufbau des Nordflügels und Unterlassung des Abbruchs des Südflügels und der Treppe der großen Schalterhalle blieb damit erfolglos.

Im hiesigen Rechtsfall ist der Kläger der Erbe des Architekten Paul Bonatz, der den Stuttgarter Hauptsbahnhof gemeinsam mit Friedrich Eugen Scholer geplant und dessen Bauausführung in den Jahren 1914 bis 1928 geleitet hat. Nach der Ausschreibung eines Archi­tek­ten­wett­bewerbs zum Umbau des Hauptbahnhofs in Stuttgart im Februar 1997 wurde am 4. November 1997 als Siegerentwurf der Vorschlag des damaligen Büros Ingenhoven, Overdiek, Kahlen und Partner gekürt. Danach sollen die Seitenflügel des Kopfbahnhofs und die Treppenanlage in der großen Schalterhalle abgerissen werden. Der Planfest­stel­lungs­antrag vom 30. Oktober 2001 endete mit dem Planfest­stel­lungs­be­schluss des Eisen­bahn­bun­desamts vom 28. Januar 2005, der am 28. Februar 2005 öffentlich bekannt gemacht wurde. Der Kläger hatte bereits im Planfest­stel­lungs­ver­fahren Einwendungen erhoben, die zurückgewiesen wurden. Der Planfest­stel­lungs­be­schluss, der den Umbau und den Abbruch erlaubt, ist bestandskräftig. Nach einem so genannten "Memorandum of Understanding" vom 19. Juli 2007 wurden am 2. April 2009 die Finan­zie­rungs­verträge für das Projekt unterzeichnet.

Unterlassung des Abrisses abgewiesen

Das Landgericht Stuttgart hat die auf Unterlassung des Abrisses der Seitenflügel und der Treppe der großen Schalterhalle erhobene Klage mit Urteil vom 20. Mai 2010 abgewiesen.

Erhal­tungs­in­teresse hinter Änderungs­in­teresse gestellt

Der Planfest­stel­lungs­be­schluss stehe einer Geltendmachung von urheber­recht­lichen Unter­las­sungs­ansprüchen zwar nicht entgegen. Der Kläger könne aber keine Unterlassung verlangen, da die Abwägung der maßgeblichen Gesichtspunkte ergebe, dass das Erhal­tungs­in­teresse hinter den überwiegenden Änderungs­in­teressen der Beklagten zurücktrete. Wegen der hohen Gestaltungshöhe und des hohen künstlerischen Wert des Bahnhofs­ge­bäudes bestehe zwar ein gesteigertes urheber­recht­liches Interesse an seiner Erhaltung, dieses Erhal­tungs­in­teresse sei jedoch im Hinblick auf den Zeitablauf von mehr als 54 Jahren seit dem Tod des Urhebers abgeschwächt (insgesamt beträgt die Schutzdauer 70 Jahre). Dem Erhal­tungs­in­teresse stünden gewichtige Interessen des Eigentümers gegenüber.

Sachverhalt

Die Parteien streiten sich darüber, ob der Kläger als Erbe des Architekten Paul Bonatz die so genannten Urheberpersönlichkeitsrechte seines Großvaters an einer Unver­än­der­lichkeit des Bahnhofs geltend machen kann oder ob im Rahmen einer vorzunehmenden Inter­es­se­n­ab­wägung die Verän­de­rungs­in­teressen der Beklagten an einer Modernisierung des Bahnhofs als so genannter Zweckbau überwiegen.

Berufung vom Senat zurückgewiesen

Im Berufungs­ver­fahren hat der Kläger wegen des mittlerweile erfolgten Abbruchs des Nordflügels dessen Wiederaufbau gefordert und begehrt weiter die Unterlassung des Abbruchs des Südflügels und der Treppe der großen Schalterhalle. Der Senat hat die Berufung zurückgewiesen, also entsprechende Ansprüche des Klägers verneint, weil die Interessen der Beklagten im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung überwiegen.

Urheber­recht­liches Änderungsverbot anerkannt

Dabei ist anerkannt, dass ein so genanntes urheber­recht­liches Änderungsverbot existiert. Dieses Änderungsverbot bestimmt, dass auch der Eigentümer des Werkoriginals (das ist hier das Bahnhofsgebäude, in dem sich die urheber­rechtliche Leistung verkörpert) grundsätzlich keine in das fremde Urheberrecht eingreifenden Änderungen an dem ihm gehörenden Original vornehmen darf. Der Urheber hat ein recht darauf, dass das von ihm geschaffene Werk in einer unveränderten Gestalt erhalten bleibt. Da sich insbesondere bei Werken der Baukunst - urheber­rechtlich geschützten Gebäuden - im Laufe der Zeit ein Bedürfnis des Eigentümers an Veränderungen ergeben kann, ist jedoch anerkannt, dass dieser Konflikt zwischen Urheberrecht und Eigentum durch eine Abwägung der jeweils betroffenen Interessen im konkreten Einzelfall zu lösen ist. Abzuwägen sind das Bestands- und Integri­täts­in­teresse des Urhebers an der Erhaltung des Werks und die Interessen des Eigentümers an einer Beein­träch­tigung und Veränderung des Werks, also das Erhal­tungs­in­teresse des Urhebers gegen das Änderungs­in­teresse des Eigentümers. Für die Abwägung dieser Interessen hat die Rechtsprechung Kriterien entwickelt.

Insoweit gelten aber keine starren und allgemein gültigen Regeln, sondern maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles.

Urheber muss mit Bedarf nach Veränderung rechnen

Maßgeblicher und wesentlicher Abwägungsfaktor ist zunächst der individuelle Schöpfungsgrad, der Rang des Werkes. Je höher die Gestaltungs- und Schöpfungshöhe ist, desto stärker sind die Erhal­tungs­in­teressen zu gewichten. Das Erhal­tungs­in­teresse hängt weiter von der Art und dem Ausmaß des Eingriffs ab. Auch können die Urhebe­r­in­teressen Jahre und Jahrzehnte nach dem Tod des Urhebers an Gewicht verlieren. Weiter ist maßgeblich der Gebrauchszweck und die bestim­mungs­gemäße Verwendung des Bauwerks. Der Urheber muss mit wechselnden Bedürfnissen des Eigentümers und des Lebens rechnen. Er weiß, dass der Eigentümer das Bauwerk für einen bestimmten Zweck verwenden möchte und muss daher damit rechnen, dass sich aus wechselnden Bedürfnissen ein Bedarf nach Veränderungen ergeben kann. In diesem Zusammenhang spielen auch die so genannten Moder­ni­sie­rungs­in­teressen des Eigentümers eine Rolle, wirtschaftliche Gesichtspunkte können ebenfalls eine Rolle spielen. Demgegenüber sind bloße ästhetische und geschmackliche Gründe unbeachtlich.

Eigen­tü­me­r­in­teressen überwiegen

Im Rahmen der Inter­es­se­n­ab­wägung waren für den Senat folgende Gesichtspunkte entscheidend: Trotz des hohen Schöpfungsgrads und des überragenden Rangs des Bahnhofs als Werk der Baukunst und einem deshalb hohen Erhal­tungs­in­teresse des Urhebers und trotz des erheblichen Eingriffs in das Gesamtbauwerk überwiegen im hier vorliegenden Sachverhalt die Eigen­tü­me­r­in­teressen der Beklagten. Das Bestands- und Integri­täts­in­teresse des Urhebers Bonatz damit tritt hinter dem Verän­de­rungs­in­teresse der Beklagten zurück. Maßgeblich und wesentlich ist insoweit, dass die berechtigten Moder­ni­sie­rungs­in­teressen der Beklagten bei dem ca. 90 Jahre alten Bahnhof als Zweck- und Verkehrsbau - Änderung des Kopfbahnhofs in einen Durch­gangs­bahnhof - nach dem von der Bahn geplanten Entwurf nur mit einem Abriss der Seitenflügel und einer Veränderung der Treppenanlage in der großen Schalterhalle erreicht werden können, da der Durch­gangs­bahnhof die Seitenflügel durchsticht und in deren Fundamente hereinragt, die neue Decke des Tiefbahnhofs die Flügel statisch nicht tragen kann und die Treppenanlage nicht mehr als Zugang zu den Bahngleisen dienen kann. Der Abriss ist daher erforderlich, um den Durch­gangs­bahnhof wie geplant schaffen zu können.

Der funktionale Zweck der Seitenflügel wird (zumindest teilweise) entfallen. Die Seitenflügel haben beim Stuttgarter Bahnhof neben dem Zweck einer Abgrenzung des Südflügels zum Schlossgarten hin, der Nordflügel dient als Anschluss zur Kopfseite der Kopfbahn­steighalle, weiter die Funktion einer Einfassung der Gleise des Kopfbahnhofs. Die Einfassungs- und Abgren­zungs­funktion entfällt aber durch den Wegfall des Kopfbahnhofs. Die tiefer gelegten Gleise und der neue Tiefbahnhof müssen nicht mehr umfasst werden.

Urhebe­r­in­teressen verlieren angesichts verbleibender kurzer Schutzdauer erheblich an Gewicht

Zudem kommt, dass die Urhebe­r­in­teressen angesichts der verbleibenden Schutzdauer von lediglich 16 Jahren erheblich an Gewicht verloren haben, und ferner, dass die Beklagten mit dem Umbau des Bahnhofs ihrer öffentlichen Pflicht genügen, der Allgemeinheit eine moderne Verkehrs­in­fra­s­truktur zur Verfügung zu stellen.

Städtebauliche Gesichtspunkte nicht zu berücksichtigen

Soweit die Beklagten geltend gemacht haben, im Rahmen der Inter­es­se­n­ab­wägung seien auch städtebauliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, ist der Senat dem nicht gefolgt. Es handelt sich nicht um originäre Eigeninteressen der Bahn. Die von den Beklagten geltend gemachten städtebaulichen Interessen betreffen nicht den Abriss der Seitenflügel und die Umgestaltung der Treppenanlage. Sie soll vielmehr im wesentlichen auf den freiwerdenden dahinter liegenden Gleisflächen erfolgen. Doch wurden die Interessen der Beklagten an der Schaffung einer modernisierten Verkehrs­in­fra­s­truktur im Rahmen der Abwägung anerkannt.

Pflicht zur Prüfung weiterer Planungs­va­rianten nicht gegeben

Der Senat ist der vom Kläger vertretenen Auffassung, es bestehe eine Pflicht zur Prüfung von weniger einschneidenden Planungs­va­rianten, nicht gefolgt. Zwar muss der Eigentümer eines urheber­rechtlich geschützten Bauwerks bei Abänderungen grundsätzlich eine die urheber­recht­lichen Interessen möglichst wenig berührende Lösung suchen. Wenn der Eigentümer sich aber für eine bestimmte Lösung entschieden hat, geht es bei der Inter­es­se­n­ab­wägung nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs nur noch darum, ob die geplanten konkreten Änderungen des Bauwerks zumutbar sind. Ob daneben noch andere, dem Urheber gegebenenfalls weniger beein­träch­tigende Lösungen denkbar sind, ist hierfür nicht mehr von entscheidender Bedeutung.

Nicht entschieden hat der Senat die Frage, ob und inwieweit der Planfest­stel­lungs­be­schluss des Eisen­bahn­bun­desamts der Klage entgegensteht.

Quelle: Oberlandesgericht Stuttgart/ra-online

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