23.11.2024
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Oberlandesgericht Hamm Beschluss07.02.2017

Maßregelvollzug muss sich auf Unter­brin­gungsrecht einstellenOLG Hamm zur Frage, wann eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt werden kann

Der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit kann den Staat dazu zwingen einem seit über 30 Jahren im geschlossenen Maßregelvollzug Untergebrachten Lockerungen - vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim - zu gewähren und die Lockerungen bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten; dies alles mit dem Ziel einer möglichst baldigen Erledigung der Unterbringung oder ihrer Aussetzung zur Bewährung. Darauf hat das Oberlan­des­gericht Hamm mit seiner Entscheidung hingewiesen.

Im vorliegenden Streitfall verurteilte das Landgericht Bielefeld den Betroffenen im Jahre 1985 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Gleichzeitig ordnete es die Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus an. In dem Urteil (dem schwer­punktmäßig Taten des sog. "Schen­kel­verkehrs" ohne Anwendung von Gewalt zu Grunde lagen) gelangte die Strafkammer zu der Feststellung, dass der Betroffene infolge einer Intel­li­genz­min­derung nicht in der Lage sei, seinem Triebverlangen die erforderlichen rationalen Hemmungen entge­gen­zu­setzen, und dass mit hoher Wahrschein­lichkeit weiterhin mit sexuellen Übergriffen des Betroffenen auf Kinder zu rechnen sei.

Neue pädophile Taten möglich

Seit dem Jahr 1985 befindet sich der Betroffene im geschlossenen Maßregelvollzug. Die Fortdauer der Unterbringung wurde gerichtlich jährlich überprüft und angeordnet, zuletzt durch die zuständige Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts Paderborn im Juli 2016. Der Betroffene stelle, so die Straf­voll­stre­ckungs­kammer bei ihrer letzten Beschluss­fassung, nach wie vor eine Gefahr für Kinder dar. Ohne feste Strukturen gehe von ihm ein unkal­ku­lierbares Risiko neuer, einschlägiger pädophiler Taten aus. Es müsse zunächst abgewartet werden, inwieweit eine - bislang nicht vorhandene - Bereitschaft des Betroffenen, in ein Wohnheim zu ziehen, dazu führe, dass für ihn eine Rehabi­li­ta­ti­o­ns­per­spektive erarbeitet werden könne.

Beschwerde als unbegründet verworfen

Die vom Betroffenen gegen die Entscheidung der Straf­voll­stre­ckungs­kammer eingelegte Beschwerde ist erfolglos geblieben. Nach Anhörung der Verfah­rens­be­tei­ligten und eines externen Sachver­ständigen hat das Oberlan­des­gericht Hamm die Beschwerde als unbegründet verworfen. Derzeit sei die Fortdauer der Unterbringung des Betroffenen anzuordnen. In seiner Entscheidung geht der Senat ausführlich auf die Frage ein, ob die Unterbringung aufgrund der zum 01.08.2016 in Kraft getretenen Neuregelung der einschlägigen Vorschrift des § 67 d Abs. 6 Strafgesetzbuch (StGB) durch das Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären ist.

Erneute Übergriffe des Betroffenen nach festgestellter Intel­li­genz­min­derung und Störung der Sexualpräferenz wahrscheinlich

Diese Frage sei zu verneinen. Nach der neuen Rechtslage sei eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die bereits mindestens zehn Jahre andauere, (zwingend) dann für erledigt zu erklären, wenn nicht die Gefahr bestehe, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Diese Gefahr sei hier positiv festzustellen: Neben der Intel­li­genz­min­derung bestehe bei dem Betroffenen eine Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer Pädophilie. Ohne die ihn unterstützenden und begrenzenden Strukturen einer Unterbringung sei mit hoher Wahrschein­lichkeit zu erwarten, dass der Betroffene erneut Kontakt zu Kindern aufnehme und es zu sexuellen Übergriffen komme, wie sie der Betroffene vor der Unterbringung begangen habe. Die Taten des sog. "Schen­kel­verkehrs" seien als Taten zu bewerten, durch welche die Opfer jedenfalls seelisch schwer geschädigt werden. Allerdings nähere sich die Unterbringung des Betroffenen der Unver­hält­nis­mä­ßigkeit nach der allgemeinen Verhält­nis­mä­ßig­keits­re­gelung in § 67 d Abs. 6 S. 1 StGB.

Je länger die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus desto strenger die Voraussetzungen des Freiheits­entzugs

Die zum 01.08.2016 in Kraft getretene Neuregelung habe die Rechtslage insoweit nicht grundlegend geändert. So sei die allgemeine Verhält­nis­mä­ßig­keits­re­gelung durch die Schaffung der Regelun­ver­hält­nis­mä­ßigkeit nach sechs Jahren (gem. § 67 d Abs. 6 S. 2 StGB) bzw. den strengeren Fortdau­e­r­vor­aus­set­zungen ab zehn Jahren Maßre­gel­voll­streckung (gem. § 67 d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 S. 1 StGB) nicht obsolet geworden. Vielmehr zeige die gesetzliche Systematik, dass die weiteren Verhält­nis­mä­ßig­keits­re­ge­lungen nur konkretisierte Unterfälle einer Erledigung der Unterbringung wegen allgemeiner Unver­hält­nis­mä­ßigkeit darstellten. Damit gelte der schon vor der gesetzlichen Novellierung bestehende Grundsatz fort, dass die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheits­entzugs umso strenger seien, je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauere. Das Freiheits­grundrecht gewinne - wegen des sich durch eine fortdauernde Unter­brin­gungsdauer verschärfenden Eingriffs - immer stärkeres Gewicht.

32jährige Unterbringung unver­hält­nismäßig

Gemessen an diesen Grundsätzen nähere sich die nunmehr rund 32-jährige Unterbringung des Betroffenen der Unver­hält­nis­mä­ßigkeit. Zwar gehe von ihm die Gefahr nicht unerheblicher Sexualdelikte eines mittleren Schweregrades zulasten besonders verletzlicher Opfer aus. Allerdings sei er nunmehr bereits mehr als doppelt so lange freiheits­ent­ziehend untergebracht als ein voll schuldfähiger Täter für die begangenen Taten im Höchstfalle habe bestraft werden können. Der Betroffene habe rund die Hälfte seines bisherigen, bereits fortge­schrittenen Lebens in Freiheitsentzug verbracht.

Unvorbereitete Entlassung erhöht Gefah­ren­wahr­schein­lichkeit

Auf eine Entlassung aus dem Maßregelvollzug sei der Betroffene derzeit allerdings nicht vorbereitet. Der Umstand, dass der Betroffene im Falle einer unvorbereiteten Entlassung mit hoher Wahrschein­lichkeit mit den Anlasstaten vergleichbare Sexualdelikte begehen könnte, hindere das Gericht daran, die weitere Unterbringung wegen Unver­hält­nis­mä­ßigkeit bereits jetzt für erledigt zu erklären. Die sich abzeichnende Unver­hält­nis­mä­ßigkeit einer weiteren Unterbringung veranlasste das Gericht allerdings zu folgenden Hinweisen:

OLG: Unverzügliche Lockerungen für Betroffenen

Dem Betroffenen seien nunmehr unverzüglich Lockerungen (vorübergehende Beurlaubung in einem geschlossenen Heim) zu gewähren, die bei erfolgreicher Erprobung auszuweiten seien. Dem Staat obliege es, die Gefahr weiterer Straftaten durch einen Untergebrachten mithilfe eines Überlei­tungs­pro­zesses zu verringern. Auch beim Betroffenen hielten es die behandelnde Klinik sowie der Sachverständige grundsätzlich für vertretbar, ihn in ein geschlossenes Heim zu beurlauben, weil dort sein Rückfallrisiko durch flankierende Maßnahmen ausreichend reduziert werden könne. Insoweit sei nicht von entscheidender Bedeutung, dass der Betroffene dieser Unterbringung bislang nicht uneingeschränkt zugestimmt habe. Er sei aufgrund seiner eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten nicht in der Lage, die Situation in einem geschlossenen Heim ausreichend einzuschätzen. Ihm müsse aber die Möglichkeit gegeben werden, durch ein kurzfristiges Probewohnen seine bisherigen negativen Vorstellungen und Befürchtungen durch konkrete Erfahrungen in dem potentiellen neuen Lebensumfeld zu korrigieren.

Erläuterungen

Seit der zum 01.08.2016 in Kraft getretenen Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus lauten § 67 d Abs. 6 und Abs. 3 Satz 1Straf­ge­setzbuch wie folgt:

(6) 1Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unver­hält­nismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt . ²Dauert die Unterbringung sechs Jahre, ist ihre Fortdauer in der Regel nicht mehr verhältnismäßig, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oderseelischen Schädigung gebracht werden. ³Sind zehn Jahre der Unterbringung vollzogen, gilt Absatz 3 Satz 1 entsprechend. 4Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungs­aufsicht ein. 5Das Gericht ordnet den Nichteintritt der Führungs­aufsicht an, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird.

(3) 1Sind zehn Jahre der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung vollzogen worden, so erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden

Quelle: Oberlandesgericht Hamm/ra-online

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