21.11.2024
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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Beschluss22.09.2015

Chronische Schmer­zer­krankung: Krankenkasse muss Kosten für Cannabis-Extrakt-Tropfen im Einzelfall vorläufig übernehmenGericht verurteilt Krankenkasse zur Kostenübernahme bis zur Entscheidung im Haupt­sa­che­ver­fahren

Das Landes­so­zi­al­gericht Niedersachsen-Bremen hat im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden, dass eine gesetzliche Krankenkasse im Einzelfall die Kosten für Cannabis- Extrakt-Tropfen zur Behandlung einer schwersten chronischen Schmer­zer­krankung vorläufig übernehmen muss.

Der im Jahre 1961 geborene Antragsteller des zugrunde liegenden Verfahrens leidet seit dem 9. Lebensjahr an einem Morbus Bechterew mit progredientem Verlauf und chronischem Schmerz, der nach Darstellung des behandelnden Arztes im Tagesverlauf bis zu nahezu unerträglichem Schmerz zunimmt. Im Laufe der Erkrankung wurden seit 1982 verschiedenste schul­me­di­zi­nische Versuche mit Analgetika erfolglos unternommen.

Antragsteller verlangt Kostenübernahme für Cannabis-Extrakt-Tropfen durch Krankenkasse

Der Antragsteller verfügt über eine vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)-Bunde­s­o­pi­um­stelle- erteilte Ausnah­me­er­laubnis nach § 3 Abs. 2 Betäu­bungs­mit­tel­gesetz (BtMG) zum Erwerb von Cannabis zu Therapiezwecken. Er beantragte bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für Cannabis-Extrakt-Tropfen. Die Krankenkasse lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass eine solche Therapie nicht zur vertrag­s­ärzt­lichen Versorgung gehöre.

Leistungs­an­spruch kann im Rahmen des einstweiligen Rechts­schutz­ver­fahrens noch nicht mit endgültiger Sicherheit beurteilt werden

Das Landes­so­zi­al­gericht Niedersachsen-Bremen hat die Krankenkasse im einstweiligen Rechts­schutz­ver­fahren verpflichtet, die Kosten für die Schmerztherapie mit Cannabis-Extrakt-Tropfen vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung im Fall des Obsiegens der Krankenkasse im Haupt­sa­che­ver­fahren zu übernehmen. Es könne im Rahmen des einstweiligen Rechts­schutz­ver­fahrens noch nicht endgültig mit hinreichender Sicherheit beurteilt werden, ob ein Leistungs­an­spruch auf das streitbefangene Präparat bestehe. Zwar habe der Antragsteller durch Vorlage ärztlicher Atteste glaubhaft gemacht, dass die Therapie in seinem Falle zur Linderung von massiven Schmerzen erforderlich sei. Auf schul­me­di­zi­nischem Wege könne dies nicht in ausreichendem Maße erfolgen. Das Gericht stütze jedoch seine Entscheidung auf eine Folgenabwägung, da die Krankenkasse zu Recht einen Sachleis­tungs­an­spruch innerhalb des Regel­leis­tungs­ka­talogs der gesetzlichen Krankenkasse abgelehnt habe. Es handele sich um eine neue Untersuchungs- und Behand­lungs­methode im Sinne des § 135 SGB V, für die eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschuss (nach den Richtlinien nach § 92 SGB V) bisher nicht vorliege.

Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache für Antragsteller nicht zumutbar

Allerdings komme - so das Gericht weiter - ein darüber hinausgehender Anspruch aus § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V in Betracht. Zwar liege eine lebens­be­drohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung im Falle des Antragstellers nicht vor. Das Gericht hält es aber für möglich, eine schwerste chronische Schmer­zer­krankung dann wertungsmäßig gleichzustellen, wenn sie in ihren (funktionalen) Auswirkungen dem Verlust von herausgehobenen Körper­funk­tionen gleichsteht. Ob diese Voraussetzungen beim Antragsteller vorliegen, müsse im Haupt­sa­che­ver­fahren geklärt werden. In Anbetracht der zahlreichen, im Eilverfahren nicht aufklärbaren medizinischen Tatsachenfragen und der bestehenden Schmerzen sei es dem Antragsteller nicht zuzumuten, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Sozial­ge­setzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Kranken­ver­si­cherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) in der Fassung vom 22. Dezember 2011 (gültig seit 1. Januar 2012) zitiert nach juris

§ 2 Leistungen

Erläuterungen

(1a) Versicherte mit einer lebens­be­droh­lichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank­heits­verlauf besteht.

Die Krankenkasse erteilt für Leistungen nach Satz 1 vor Beginn der Behandlung eine Kosten­über­nah­me­er­klärung, wenn Versicherte oder behandelnde Leistungs­er­bringer dies beantragen.

Quelle: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen/ra-online

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