18.10.2024
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Hessisches Landessozialgericht Urteil23.08.2019

Teilweise erwer­bs­ge­min­derter Arbeitnehmer kann auch ohne Antrag auf Teilzeit­tä­tigkeit Anspruch auf Vollzeitrente habenRenten­ver­si­cherung muss bei Verschlos­senheit des Tei­lzeit­arbeits­marktes Vollzeitrente gewähren

Versicherte haben einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung trotz eines nur teilweise geminderten Rest­leistungs­vermögens, wenn der Teil­zeit­arbeits­markt verschlossen ist. Ruht das Arbeits­ver­hältnis, so kann die Renten­ver­si­cherung nicht verlangen, dass der Versicherte im Rahmen seiner Mit­wirkungs­pflichten gegenüber seinem Arbeitgeber eine Reduzierung der Arbeitszeit beantragt. Dies entschied das Hessische Landes­so­zi­al­gericht.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein 1959 geborener Bauzeichner war im öffentlichen Dienst beschäftigt. Im Jahr 2012 wurde er aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung arbeitsunfähig und erhielt zunächst Krankengeld, anschließend Arbeits­lo­sengeld. Der Versicherte, dessen Arbeits­ver­hältnis aufgrund tarif­ver­trag­licher Regelung ruht, beantragte eine Rente wegen Erwer­bs­min­derung, da er nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten könne. Die Renten­ver­si­cherung gewährte ihm allerdings lediglich eine Rente wegen teilweiser Erwer­bs­min­derung. Sie verwies darauf, dass er gegenüber seinem Arbeitgeber seinen Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit geltend machen müsse. Der erkrankte Versicherte verwies darauf, dass sein Arbeitgeber erklärt habe, keinen leidens­ge­rechten Arbeitsplatz zur Verfügung stellen zu können.

Versicherten steht bei verschlossenem Teilzeit­a­r­beitsmarkt Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung zu

Das Sozialrecht und das Hessische Landes­so­zi­al­gericht gaben dem Versicherten Recht. Er habe einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung, da der Teilzeit­a­r­beitsmarkt verschlossen sei (sogenannte Arbeits­ma­rk­trente). Versicherte hätten einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung trotz eines nur teilweise geminderten Restleis­tungs­ver­mögens, wenn der Teilzeit­a­r­beitsmarkt verschlossen sei, der Versicherte also praktisch nicht damit rechnen könne, dass sich ihm eine Gelegenheit zur entgeltlichen Nutzung seiner reduzierten Arbeits­fä­higkeit biete. Eine Verschlos­senheit des Arbeitsmarktes liege nach jahrzehn­te­langer ständiger Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts vor, wenn weder der Renten­ver­si­che­rungs­träger noch die Agentur für Arbeit dem Versicherten innerhalb eines Jahres nach Rente­n­an­trag­stellung einen entsprechenden Arbeitsplatz anbieten könnten. In der Praxis sähen die Renten­ver­si­che­rungs­träger allerdings bislang wegen der geringen Vermitt­lung­s­chancen grundsätzlich von einer Prüfung im Einzelfall ab.

Nicht verschlossen sei der Arbeitsmarkt, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz tatsächlich innehabe und daraus Arbeitsentgelt beziehe. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall, da das konkrete Arbeits­ver­hältnis ruhe. Auch sei dem Versicherten von seinem Arbeitgeber kein leidens­ge­rechter Arbeitsplatz angeboten worden.

Versicherten obliegt weder gesetzliche noch ungeschriebene Mitwir­kungs­pflicht

Dass der Versicherte eine Reduzierung der Arbeitszeit nicht beantragt habe, stehe dem Anspruch auf Vollzeitrente nicht entgegen. Zwar kämen gesetzliche und tarif­ver­tragliche Ansprüche auf Teilzeitbeschäftigung in Betracht, soweit eine solche für den Arbeitgeber zumutbar sei bzw. betriebliche Gründe nicht entgegenstünden. Auf diese arbeit­neh­mer­recht­lichen Ansprüche könne sich die Renten­ver­si­cherung jedoch nicht berufen. Dem Versicherten obliege weder eine gesetzliche noch eine ungeschriebene Mitwir­kungs­pflicht, diese Ansprüche gegenüber seinem Arbeitgeber geltend zu machen. Das Verhalten des Versicherten sei auch nicht rechts­miss­bräuchlich.

Hinweise zur Rechtslage

Erläuterungen

§ 43 Sozial­ge­setzbuch Sechstes Buch (SGB VI)

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regel­al­ters­grenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwer­bs­min­derung, wenn sie

1. teilweise erwer­bs­ge­mindert sind,

2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwer­bs­min­derung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt der Erwer­bs­min­derung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwer­bs­ge­mindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regel­al­ters­grenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung, wenn sie

1. voll erwer­bs­ge­mindert sind,

2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwer­bs­min­derung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt der Erwer­bs­min­derung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwer­bs­ge­mindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwer­bs­ge­mindert sind auch

1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und

2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwer­bs­ge­mindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

§ 164 Sozial­ge­setzbuch Neuntes Buch (SGB IX)

(5) [...] Schwer­be­hinderte Menschen haben einen Anspruch auf Teilzeit­be­schäf­tigung, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art oder Schwere der Behinderung notwendig ist; Absatz 4 Satz 3 gilt entsprechend.

(4) [...] Ein Anspruch [...] besteht nicht, soweit seine Erfüllung für den Arbeitgeber nicht zumutbar oder mit unver­hält­nis­mäßigen Aufwendungen verbunden wäre [...]

§ 8 Teilzeit und Befris­tungs­gesetz

(1) Ein Arbeitnehmer, dessen Arbeits­ver­hältnis länger als sechs Monate bestanden hat, kann verlangen, dass seine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit verringert wird.

(4) Der Arbeitgeber hat der Verringerung der Arbeitszeit zuzustimmen und ihre Verteilung entsprechend den Wünschen des Arbeitnehmers festzulegen, soweit betriebliche Gründe nicht entgegenstehen.

Quelle: Hessisches Landessozialgericht/ra-online (pm/kg)

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