21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil08.07.2011

EGMR: Beschwerden gegen das Minarett-Bauverbot in der Schweiz unzulässigBeschwer­de­führer weder als unmittelbare noch als potentielle Opfer anzusehen

Die Verfas­sung­s­än­derung, die den Bau von Minaretten in der Schweiz verbietet, ist mit der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) vereinbar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und erklärte die gegen das Minarett-Bauverbot gerichteten Beschwerden für unzulässig, da die Beschwer­de­führer weder als unmittelbare noch als potentielle Opfer anzusehen sind.

Der Beschwer­de­führer im ersten Verfahren, Hafid Ouardiri, ist muslimischen Glaubens und war von 1978 bis 2007 Sprecher der Genfer Moschee. Derzeit ist er Mitglied der in Genf ansässigen Stiftung Fondation de l’Entre-connaissance. Die Beschwer­de­führer im zweiten Verfahren sind drei Vereine und eine Stiftung nach Schweizer Recht, die den Zweck verfolgen, in der Schweiz lebende Muslime sozial und geistlich zu betreuen: Die Liga der Muslime in der Schweiz (Ligue des musulmans de Suisse), ein in Prilly ansässiger Verein; die muslimische Gemeinschaft Genf (Communauté musulmane de Genève), eine Stiftung; der muslimische Kulturverein Neuchâtel (Association culturelle des musulmans de Neuchâtel) sowie der Genfer muslimische Verein (Association genevoise des Musulmans).

Volksinitiative fordert Verbot des Baus von Minaretten

Am 8. Juli 2008 wurde die Volksinitiative „Gegen den Bau von Minaretten“ mit 113.540 Unterschriften Schweizer Bürger bei der Schweizerischen Bundeskanzlei eingereicht, die eine Verfas­sung­s­än­derung zum Verbot des Baus von Minaretten forderte. Am 28. Juli 2008 stellte die Bundeskanzlei das Zustandekommen der Initiative fest und am 12. Juni 2009 nahm die Bundes­ver­sammlung einen Beschluss an, der die Gültigkeit der Initiative bestätigte und über ihre Vorlage zur allgemeinen Volksabstimmung verfügte.

Verfas­sungs­zusatz zum Verbot des Baus von Minaretten mit Volksabstimmung angenommen

Die Volksabstimmung wurde am 29. November 2009 abgehalten. 57,5 % der Wähler sowie 17 Kantone und fünf Halbkantone unterstützten die Initiative; folglich war der Verfas­sungs­zusatz angenommen. Artikel 72 Absatz 3 (neu) der Verfassung lautet: „Der Bau von Minaretten ist verboten.“

Beschwer­de­führer sehen sich durch Minarett­bau­verbot in Religi­o­ns­freiheit verletzt und wegen ihrer Religion diskriminiert

Unter Berufung auf Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit) und Artikel 14 (Diskri­mi­nie­rungs­verbot) machten die Beschwer­de­führer geltend, dass das Minarett­bau­verbot ihre Religionsfreiheit verletzte und sie wegen ihrer Religion diskriminiere. Unter Berufung auf Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) rügte Hafid Ouardiri außerdem, dass er kein wirksames Rechtsmittel habe, um eine gerichtliche Feststellung zu erwirken, wonach der Verfas­sungs­zusatz konven­ti­o­ns­widrig sei. Die Beschwerden wurden am 15. und 16. Dezember 2009 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Für Zulässigkeit der Beschwerde muss Beschwer­de­führer unmittelbar Opfer einer Verletzung der Konvention sein

Der Gerichtshof unterstrich, dass eine Beschwerde, um für zulässig erklärt zu werden, von einer Person eingelegt werden muss, die behaupten kann, Opfer einer Verletzung der Konvention zu sein (Artikel 34 der Konvention). Dies trifft vor allem auf direkte Opfer der vermeintlichen Konven­ti­o­ns­ver­letzung zu, d.h. Personen, die unmittelbar von dem Sachverhalt, der einen vermeintlichen Verstoß darstellt, betroffen sind. Allerdings erkennt der Gerichtshof in Ausnahmefällen auch Personen, die von diesem Sachverhalt beeinträchtigt werden könnten, als indirekte oder potenzielle Opfer einer Konven­ti­o­ns­ver­letzung an.

Beschwer­de­führer hier keine unmittelbaren Opfer der vermeintlichen Konven­ti­o­ns­ver­letzung

Die Beschwer­de­führer in den vorliegenden Verfahren rügten hauptsächlich, dass der Verfas­sungs­zusatz sie in ihren religiösen Überzeugungen verletze; sie behaupteten jedoch nicht, dass dieser irgendeine konkrete Auswirkung auf sie hätte. Nach Auffassung des Gerichtshofs sind sie daher keine unmittelbaren Opfer der vermeintlichen Konven­ti­o­ns­ver­letzung. Sie sind auch keine indirekten Opfer.

Beschwer­de­führer auch nicht als potentielle Opfer ansehbar

Schließlich musste der Gerichtshof prüfen, ob sie behaupten konnten, potenzielle Opfer zu sein. Der Gerichtshof hob hervor, dass die Beschwer­de­führer nicht argumentiert hatten, sie könnten in nächster Zeit planen, eine Moschee mit Minarett zu bauen. Folglich hatten sie nicht gezeigt, dass die Verfas­sung­s­än­derung auf sie angewendet werden könnte. Die bloße Möglichkeit, dass dies in fernerer Zukunft geschehen möge, war nach Auffassung des Gerichtshofs nicht ausreichend. Da die Beschwerden lediglich darauf abzielten, eine verfas­sungs­rechtliche Bestimmung anzufechten, die in der Schweiz allgemein anwendbar war, befand der Gerichtshof, dass die Beschwer­de­führer nicht gezeigt hatten, dass besonders außer­ge­wöhnliche Umstände vorlagen, die sie zu potenziellen Opfern machen könnten.

Beschwerden in beiden Verfahren unzulässig

Weiterhin war der Gerichtshof der Auffassung, dass die Schweizer Gerichte in der Lage sein würden, zu prüfen, ob eine etwaige Ablehnung einer Baugenehmigung für ein Minarett mit der Konvention vereinbar ist. Der Gerichtshof bezog sich in diesem Zusammenhang auf ein kürzlich ergangenes Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts. Der Gerichtshof erklärte daher die Beschwerden in beiden Verfahren für unzulässig und wies sie gemäß Artikel 35 §§ 3 und 4 der Konvention zurück.

Beschwerde Hafid Ouardiris ebenfalls offensichtlich unbegründet

Der Gerichtshof hob hervor, dass Artikel 13 kein Rechtsmittel garantiert, das es erlauben würde, die Gesetzgebung eines Staates vor einem inner­staat­lichen Gericht als mit der Konvention unvereinbar anzufechten. Die Beschwerde war folglich offensichtlich unbegründet. Der Gerichtshof erklärte sie daher für unzulässig und wies sie gemäß Artikel 35 §§ 3 und 4 der Konvention zurück.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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