21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil08.12.2011

EGMR: Rückwirkende Änderung der Fristen für Rückgabeanträge von in der DDR verstaatlichten Grundstücken verstößt gegen Eigentumsrechte der ErbenGericht bejaht Verletzung des Schutzes auf Eigentum gemäß der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention

Die rückwirkende Änderung der Fristen für Rückgabeanträge von in der DDR verstaatlichten Grundstücken stellt eine Verletzung von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 (Schutz des Eigentums) zur Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Die Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Streitfalls, neun deutsche Staats­an­ge­hörige, sind die Erben eines Geschäfts­in­habers, der 1939 mehrere Grundstücke in einer Gesamtgröße von etwa 3000 m² in Potsdam-Babelsberg von einem Berliner Unternehmen erwarb. Ursprünglich gehörten die Grundstücke jüdischen Eigentümern, die unter der Naziherrschaft 1938 zum Verkauf gezwungen waren und als Opfer der Judenverfolgung starben. 1953 wurden die Grundstücke in der DDR enteignet und in „Volkseigentum“ überführt. Die Tochter einer der jüdischen Voreigentümer, die in die USA hatte emigrieren können, stellte dort einen Antrag auf Entschädigung für den Verlust der Grundstücke nach einem amerikanischen Programm, in dem US-Staats­an­ge­hörige Ansprüche anmelden konnten, denen in der DDR Vermögen entzogen oder deren Eigentum in der Nazizeit unter Zwang verkauft worden war. Die amerikanische Kommission zur Regelung von Vermögensfragen im Ausland (Foreign Claims Settlement Commission) erkannte 1980 ihren Anspruch auf Entschädigung an.

Beschwer­de­führer stellen Antrag auf Rückgabe der Grundstücke nach dem Gesetz über die Regelung offener Vermögensfragen von 1990

Nach der deutschen Wieder­ver­ei­nigung übernahm die Bundesanstalt für verei­ni­gungs­be­dingte Sonderaufgaben als einzige Anteilseignerin einer GmbH die Grundstücke. Zugleich stellten die Beschwer­de­führer im Oktober 1990 einen Antrag auf Rückgabe der Grundstücke nach dem Gesetz über die Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz) von 1990. Das Gesetz sieht vor, dass Grundstücke, die in der DDR in Volkseigentum überführt wurden, an die Voreigentümer zurückgegeben werden, sofern die Rückga­be­ansprüche bis zum 31. Dezember 1992 angemeldet wurden; es sieht außerdem die Rückgabe von Grundstücken aus DDRVolks­ei­gentum an Personen (bzw. deren Erben) vor, die in der Nazizeit zum Verkauf gezwungen waren. Im Fall konkurrierender Rückga­be­ansprüche auf dasselbe Grundstück sind nach dem Gesetz die „Erstge­schä­digten“, also die Erben von jüdischen Vorbesitzern, die ein Grundstück in der Nazizeit unter Zwang verkauften, vorrangig berechtigt. In solchen Fällen haben die Erben von Käufern, die das Grundstück in der Nazizeit erwarben und durch dessen Überführung in DDR-Volkseigentum geschädigt wurden, Anspruch auf eine geringere finanzielle Wieder­gut­machung.

BRD zahlt zur Abgeltung von Ansprüchen Abfin­dungs­betrag an die USA

Im Mai 1992 schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die USA ein Abkommen über die Regelung bestimmter Vermö­gens­ansprüche, das eine pauschale Abwicklung der Ansprüche von US-Staats­an­ge­hörigen aus dem Programm über Ansprüche gegen die DDR vorsah. 1997 zahlte die Bundesrepublik zur Abgeltung dieser Ansprüche einen Abfin­dungs­betrag von insgesamt 102 Millionen US-Dollar an die USA. Im Oktober 1998 wurde das Vermögensgesetz dahingehend geändert, dass die Frist für Anträge auf Rückgabe von Grundstücken nicht für die aus diesem Abkommen resultierenden Ansprüche der Bundesrepublik gilt.

Klagen auf Rückgabe der Grundstücke vor deutschen Gerichten erfolglos

Im Juli 2001 wies das Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen den Antrag der Beschwer­de­führer auf Rückgabe der Grundstücke ab, die 1997 zu Inves­ti­ti­o­ns­zwecken an ein Unternehmen verkauft worden waren, und entschied, dass der Verkaufserlös der Bundesrepublik zustehe. Nach dem Vermögensgesetz in Verbindung mit dem deutsch-amerikanischen Abkommen über die Regelung bestimmter Vermö­gens­ansprüche sei die Bundesrepublik Rechts­nach­folgerin der Erbin der jüdischen Vorbesitzer, die mit der Zahlung der Abfindung auf ihre Ansprüche an die Bundesrepublik verzichtet hatte. Die Beschwer­de­führer klagten vor dem Verwal­tungs­gericht Potsdam, das die Entscheidung im November 2002 bestätigte. Im Januar 2004 wies das Bundes­ver­wal­tungs­gericht die Berufung der Beschwer­de­führer zurück. Am 14. August 2004 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, ihre Verfas­sungs­be­schwerde zur Entscheidung anzunehmen. In seinem Nicht­an­nah­me­be­schluss befand das Bundes­ver­fas­sungs­gericht insbesondere, der Gesetzgeber habe mit der Änderung des Vermö­gens­ge­setzes 1998 einen fairen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen getroffen.

Antrag auf finanzielle Wieder­gut­machung wegen Fristablaufs ebenfalls erfolglos

Im Januar 2005 stellten die Beschwer­de­führer beim Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen einen Antrag auf finanzielle Wieder­gut­machung für den Verlust der umstrittenen Grundstücke. Der Antrag wurde im März 2007 abgewiesen, da die Beschwer­de­führer ihn nicht fristgerecht innerhalb von sechs Monaten nach der endgültigen Ablehnung des Antrags auf Rückgabe gestellt hätten. Ein Verfahren, mit dem die Beschwer­de­führer diese Entscheidung anfochten, ist vor dem Verwal­tungs­gericht Potsdam anhängig.

Beschwer­de­führer sehen sich in Recht auf Achtung ihres Eigentums verletzt

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 1 Protokoll Nr. 1 machten die Beschwer­de­führer geltend, dass das Vermögensgesetz in seiner Fassung von 1998 und dessen Anwendung durch die deutschen Gerichte ihr Recht auf Achtung ihres Eigentums verletzten. Die Beschwerde wurde am 11. Februar 2005 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Erben durften auch nach Fristablauf berech­tig­terweise von Rückgabe der Grundstücke ausgehen

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Garantien aus Artikel 1 Protokoll Nr. 1 im vorliegenden Fall anwendbar sind. Die Beschwer­de­führer hatten einen Rückgabeantrag nach dem Vermögensgesetz gestellt, während die deutsche Bundesregierung keinen solchen Antrag innerhalb der von dem Gesetz in seiner Fassung vor der Änderung 1998 vorge­schriebenen Frist gestellt hatte. Da von Seiten der Bundesregierung, der einzigen Rechts­nach­folgerin der Erbin der jüdischen Vorbesitzer, kein Antrag vorlag, konnten die Beschwer­de­führer, auch wenn sie als Erben eines Besitzers von in der DDR verstaatlichten Grundstücken Zweit­ge­schädigte waren, nach Ablauf der Frist berech­tig­terweise davon ausgehen, dass sie ihr Recht auf Rückgabe der Grundstücke würden geltend machen können.

Änderung des Vermö­gens­ge­setzes stellt Eingriff in Recht auf Achtung des Eigentums dar

Infolge der rückwirkenden Änderung des Vermö­gens­ge­setzes 1998, wonach die Frist für Rückgabeanträge nicht für die Ansprüche der Bundesregierung gilt, verloren die Beschwer­de­führer jeglichen Anspruch auf Rückgabe der Grundstücke oder auf Auszahlung des Verkaufserlöses, der dem tatsächlichen Wert des Grundstücks nach der Wieder­ver­ei­nigung entspricht. Nach Auffassung des Gerichtshofs stellte die Geset­ze­s­än­derung folglich einen Eingriff in das Recht der Beschwer­de­führer auf Achtung ihres Eigentums dar.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärt Geset­ze­s­än­derung für grund­ge­setz­konform – Auffassung erscheint nicht willkürlich

Dieser Eingriff war gesetzlich vorgesehen. Es ist in erster Linie Aufgabe der nationalen Gerichte, inner­staat­liches Recht anzuwenden, und die Beurteilung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, die Geset­ze­s­än­derung sei grund­ge­setz­konform, erschien nicht willkürlich. Die Geset­ze­s­än­derung zielte darauf ab, eine nach Auffassung des deutschen Gesetzgebers unklare Rechtslage klarzustellen und die aus dem deutsch­a­me­ri­ka­nischen Abkommen resultierenden Ansprüche des Staates zu sichern. Weiter hatte der Gerichtshof keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass dieser Zweck im öffentlichen Interesse lag, angesichts der Tatsache, dass der nationale Gesetzgeber bei der Sozial- und Wirtschafts­politik einen weiten Beurtei­lungs­spielraum hat. Dies gilt umso mehr im Fall solch einschneidender Veränderungen wie zur Zeit der deutschen Wieder­ver­ei­nigung mit dem Übergang zur Marktwirtschaft.

Rückwirkende Änderung des Vermö­gens­ge­setzes bewirkt Ungleichheit zugunsten des Staates und zu Ungunsten der Beschwer­de­führer

Im Hinblick auf die Verhält­nis­mä­ßigkeit des Eingriffs in die Rechte der Beschwer­de­führer stellte der Gerichtshof allerdings fest, dass die rückwirkende Änderung des Vermö­gens­ge­setzes eine Ungleichheit zugunsten des Staates und zu Ungunsten der Beschwer­de­führer schuf. Ihnen wurde jeglicher Anspruch auf Rückgabe der Grundstücke oder auf Auszahlung des Erlöses aus dem Verkauf nach der Wieder­ver­ei­nigung entzogen. Die nach dem Vermögensgesetz ursprünglich vorgesehene Frist war auf alle Ansprüche anwendbar gewesen, einschließlich derjenigen aus dem deutsch-amerikanischen Abkommen, und das Gesetz sah keine besonderen Bestimmungen vor, die die Bundesregierung von der Antragstellung ausgenommen hätten. Zwischen der Unterzeichnung des deutsch-amerikanischen Abkommens im Mai 1992 und dem Ablauf der ursprünglich festgesetzten Frist hätte die Bundesregierung mehr als sieben Monate Zeit gehabt, einen solchen Antrag zu stellen. Zudem wurde das Gesetz erst acht Jahre nach der Wieder­ver­ei­nigung geändert, und sechs Jahre nach Ablauf der ursprünglichen Frist für die Antragstellung. Dass sich der Gesetzgeber so lange Zeit ließ, ist ein Faktor bei der Beurteilung der Verhält­nis­mä­ßigkeit, auch wenn die verspätete Geset­ze­s­än­derung dadurch erklärlich ist, dass die Bundesregierung den vollständigen Abfin­dungs­betrag nach dem deutsch-amerikanischen Abkommen erst 1997 bezahlt hatte.

EGMR hält zu erwartende Wieder­gut­machung angesichts der Schwere des Eingriffs in die Rechte der Beschwer­de­führer für nicht angemessen

Weiterhin nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass zwischen der Antragstellung der Beschwer­de­führer im Oktober 1990 und der Ablehnung durch das Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen im Juli unangemessen viel Zeit verstrichen war. Zwar sieht das deutsche Recht die Zahlung einer finanziellen Wieder­gut­machung in Fällen wie dem der Beschwer­de­führer vor; die zu erwartende Summe erscheint der Schwere des Eingriffs in die Rechte der Beschwer­de­führer aber nicht angemessen. Zudem steht nicht fest, ob sie überhaupt eine solche Wieder­gut­machung erhalten werden. Angesichts dieser Überlegungen kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Geset­ze­s­än­derung keinen angemessenen Ausgleich zwischen dem Schutz des Eigentums und dem öffentlichen Interesse herbeigeführt hatte. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 vor.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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