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- NJW 2014, 283Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2014, Seite: 283
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil30.04.2013
Untersuchungshaft gegen frühere ukrainische Premierministerin Timoschenko wurde willkürlich angeordnetEuropäische Gerichtshof für Menschenrecht rügt unter anderem Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht hat entschieden, dass die Anordnung der Untersuchungshaft gegen die frühere ukrainische Premierministerin willkürlich war, dass die Rechtmäßigkeit der Haft nicht angemessen geprüft wurde und dass sie keine Möglichkeit hatte, für ihre unrechtmäßige Freiheitsentziehung Schadensersatz zu beantragen. Damit rügte der Gerichtshof Verletzungen gegen Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit); Artikel 5 § 4 (Anspruch auf zügige Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung); Artikel 5 § 5 (Anspruch auf Schadensersatz für unrechtmäßige Freiheitsentziehung); Artikel 18 (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) in Verbindung mit Artikel 5. Der Gerichtshof stellte weiterhin fest, dass eine Verletzung von Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe) aufgrund der vermeintlichen Misshandlung Frau Timoschenkos während ihrer Verlegung in eine Klinik am 20. April 2012 nicht vorlag.
Julia Timoschenko, 1960 geboren, ist Vorsitzende der Partei Allukrainische Vereinigung (Batkivshchyna), einer der stärksten Oppositionsparteien in der Ukraine, sowie des Parteienbündnisses Block Julia Timoschenko. Im Jahr 2005 sowie von Dezember 2007 bis März 2010 war sie Premierministerin der Ukraine. Im April 2011 wurde gegen sie ein Strafverfahren wegen angeblichen Amtsmissbrauchs bei der Aushandlung eines Vertrags über Erdgasimporte eingeleitet. Am 11. Oktober 2011 wurde sie in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu sieben Jahren Haft sowie einem dreijährigen Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden, verurteilt. Urteil und Strafmaß wurden am 29. August 2012 im Berufungsverfahren bestätigt.
Prozessgericht weist alle Anträge auf Freilassung ab
Das Prozessgericht ordnete am 5. August 2011 auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Untersuchungshaft gegen Frau Timoschenko an. Der Richter war der Auffassung, sie habe Anordnungen des vorsitzenden Richters ignoriert, hätte sich in der Gerichtsverhandlung den Anwesenden gegenüber verächtlich verhalten und habe sich geweigert, Angaben zu ihrem Wohnsitz zu machen. Am selben Tag wurde sie im Untersuchungsgefängnis in Kiew untergebracht, wo sie bis zum 30. Dezember 2011 inhaftiert blieb. Das Prozessgericht wies alle ihre Anträge auf Freilassung ab und verwies dabei auf die Begründung der Entscheidung vom 5. August 2011. Am 30. Dezember 2011 wurde Frau Timoschenko in die Strafkolonie Kachanivska in Charkow verlegt, um dort ihre Haftstrafe zu verbüßen.
Timoschenko rügt mangelhafte Bedingungen in Haftanstalten - auch in Bezug auf ihren Gesundheitszustand
Nach Auffassung Frau Timoschenkos sei sie in beiden Haftanstalten in mangelhaften Bedingungen untergebracht gewesen und habe für ihre zahlreichen Erkrankungen keine angemessene Behandlung erhalten – so leide sie insbesondere an einer schweren Lebensmittelallergie, chronischer Gastritis, Ischias und anderen schweren Rückenproblemen sowie Gefäßerkrankungen mit plötzlichen subkutanen Blutungen. Sie macht insbesondere geltend, im Untersuchungsgefängnis seien die Zellen schlecht belüftet und in einem Fall nicht mit einer Heizung ausgestattet gewesen, sie habe nur beschränkte Möglichkeiten zu Hofgängen an der frischen Luft gehabt, sie sei nicht ausreichend mit Trinkwasser versorgt und das Essen sei mangelhaft gewesen. In der Strafkolonie habe sie keine Möglichkeiten zu Spaziergängen an der frischen Luft gehabt. Die Behörden hätten die Schwere ihrer Erkrankungen unterschätzt und hätten sie nicht zügig und angemessen behandelt. Frau Timoschenko verweigerte mehrfach die Behandlung durch Ärzte, die sie nicht selbst benannt hatte, und gab als Begründung an, dem medizinischen Personal der Haftanstalten nicht zu vertrauen. Von Februar bis April 2012 wurde sie mehrfach von Ärzten aus Deutschland untersucht, die ihre Behandlung in einem Fachkrankenhaus empfahlen.
Timoschenko tritt zum Protest gegen Gewaltanwendung Zwangsverlegung Hungerstreik an
Einer durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angeordneten vorläufigen Maßnahme (siehe unten) entsprechend, die die ukrainische Regierung verpflichtete, die Behandlung Frau Timoschenkos in einem angemessenen institutionellen Rahmen sicherzustellen, wurde sie am 20. April 2012 in eine Klinik in Charkow verlegt. Nach ihren Angaben habe sie der Verlegung widersprochen, so dass das Personal der Kolonie Gewalt gegen sie angewendet und sie Blutergüsse am Bauch und an den Armen davongetragen habe. Anschließend verweigerte sie die medizinische Behandlung, mit der Begründung, das Krankenhaus sei ihren Bedürfnissen nicht angemessen, und trat in einen Hungerstreik, um gegen die Gewaltanwendung gegen sie und gegen ihre Zwangsverlegung zu protestieren.
Blutergüsse am Körper Timoschenkos stehen laut Gerichtsmedizin in keinem Zusammenhang mit Zwangsverlegung in Klinik
Am 22. April 2012 wurde Frau Timoschenko wieder in die Strafkolonie verlegt und stellte am folgenden Tag Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Charkow wegen ihrer Zwangsverlegung in die Klinik. Am 24. April 2012 wurde sie vom medizinischen Personal der Strafkolonie untersucht. Dem Untersuchungsbericht zufolge hatte sie mehrere Blutergüsse, deren Alter aber offensichtlich nicht dem angegebenen Zeitpunkt der Verletzung entsprochen habe. Nach Angaben der ukrainischen Regierung sei ein Gerichtsmediziner beauftragt worden, Frau Timoschenko zu untersuchen, sie habe diese Untersuchung aber verweigert. Die Staatsanwaltschaft entschied, aus Mangel an Beweisen kein Verfahren zu eröffnen, revidierte die Entscheidung aber am 25. April 2012, nachdem die Medien über die Vorgänge berichtet hatten, und ordnete weitere Untersuchungen an. Nach Angaben der Regierung seien eine Reihe von Zeugen vernommen worden, darunter das Personal der Kolonie und der Fahrer des Krankenwagens, die alle ausgesagt hätten, Frau Timoschenko habe sich nicht über Verletzungen beklagt und keine sichtbaren Verletzungen gehabt. Am folgenden Tag sei Frau Timoschenko erneut aufgefordert worden, sich einer gerichtsmedizinischen Untersuchung zu unterziehen, die sie aber verweigert habe. Ein Gerichtsmediziner begutachtete ihre Verletzungen auf Grundlage des Untersuchungsberichts vom 24. April 2012 und kam zu dem Schluss, sie könnten nicht vom 20. April stammen, wie Frau Timoschenko angab. Nachdem er sich mit ihrer Krankenakte vertraut gemacht hatte, stellte er fest, immer wiederkehrende Blutergüsse könnten Folge ihrer Gefäßerkrankungen und müssten nicht durch gewaltsame äußere Einwirkungen verursacht worden sein. Am 3. Mai 2012 entschied die Staatsanwaltschaft erneut, kein Verfahren zu eröffnen.
Timoschenko stellt Strafanzeige wegen fortwährender Videoüberwachung in der Klinik
Am 9. Mai 2012 wurde Frau Timoschenko erneut in die Klinik in Charkow verlegt, wo sie unter Aufsicht eines Neurologen aus Deutschland behandelt wurde und ihren Hungerstreik beendete. Kurz darauf stellte sie Strafanzeige wegen ihrer fortwährenden Videoüberwachung in der Klinik und der mutmaßlichen Weitergabe vertraulicher medizinischer Angaben an die Öffentlichkeit. Die Staatsanwaltschaft entschied, kein Verfahren zu eröffnen. Eine Verwaltungsbeschwerde, die Frau Timoschenko am 8. Juni 2012 wegen derselben Beschwerdepunkte sowie des angeblichen Verbots, zu telefonieren, einreichte, wurde am 30. Oktober 2012 abgewiesen.
Timoschenko legt Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht ein
Die Beschwerde wurde am 10. August 2011 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Frau Timoschenko machte insbesondere geltend: ihre Haftbedingungen im Untersuchungsgefängnis in Kiew und in der Strafkolonie in Charkow seien mangelhaft gewesen und sie habe für ihre zahlreichen Erkrankungen keine angemessene Behandlung erhalten; am 20. April 2012 sei sie zwangsweise in die Klinik in Charkow verlegt worden, habe sich dabei Verletzungen zugezogen und diese Vorgänge seien durch die Ermittlungsbehörden nicht angemessen untersucht worden; sie sei in der Klinik rund um die Uhr durch Videokameras überwacht worden; ihre Untersuchungshaft sei willkürlich angeordnet worden und habe keine Rechtsgrundlage gehabt; sie habe die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft nicht gerichtlich überprüfen lassen können und habe keine Möglichkeit gehabt, für ihre unrechtmäßige Freiheitsentziehung Schadensersatz zu beantragen; schließlich habe die Anordnung ihrer Haft andere Zwecke als die vorgeblichen verfolgt. Sie beruft sich insbesondere auf Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe), Artikel 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) und Artikel 18 (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) EMRK.
EGMR weist Antrag auf Behandlung in einer Klinik in Deutschland ab
Am 14. Dezember 2011 entschied der Gerichtshof, den Fall angesichts der schweren Vorwürfe vorrangig zu behandeln. Am 15. März 2012 entsprach er dem Antrag Frau Timoschenkos, eine vorläufige Maßnahme (nach Artikel 39 seiner Verfahrensordnung) anzuordnen und verpflichtete die ukrainische Regierung, ihre Behandlung in einem angemessenen institutionellen Rahmen sicherzustellen. Auf Antrag der ukrainischen Regierung, die darlegte, dass Frau Timoschenko nun eine angemessene Behandlung in einem geeigneten institutionellen Rahmen erhalte, entschied der Gerichtshof am 31. Mai 2012, die vorläufige Maßnahme zu beenden, da die Regierung ihr entsprochen hatte. Am selben Tag wies der Gerichtshof den Antrag Frau Timoschenkos auf Anordnung einer weiteren vorläufigen Maßnahme ab, mit der sie die Behandlung in einer Klinik in Deutschland bewirken wollte. Eine mündliche Verhandlung der Kammer fand am 28. August 2012 in Straßburg statt.
Neue Beschwerdepunkte im Zusammenhang mit Strafverfahren werden Gegenstand eines weiteren Verfahrens
Im Hinblick auf den Umfang der Beschwerde nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass Frau Timoschenko, nachdem der Fall der ukrainischen Regierung zugestellt worden war, mehrere neue Beschwerdepunkte im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen sie erhoben hatte. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass es sich dabei nicht um nähere Ausführungen zu ihren ursprünglichen Beschwerdepunkten handelte und hielt es deshalb nicht für angemessen, sie im vorliegenden Fall zu berücksichtigen. Die neuen Beschwerdepunkte sind Gegenstand eines weiteren Verfahrens (65656/12), das vor dem Gerichtshof anhängig ist.
Beschwerde über Bedingungen der Untersuchungshaft und mangelhafte medizinische Betreuung unzulässig
Der Gerichtshof erklärte die Beschwerde Frau Timoschenkos nach Artikel 3 über die Bedingungen ihrer Untersuchungshaft und die vermeintlich mangelhafte medizinische Betreuung für unzulässig. Zwar erkannte der Gerichtshof an, dass die materiellen Haftbedingungen während eines Teils der Untersuchungshaft – insbesondere der Mangel an Tageslicht, mangelhafte Warmwasserversorgung und das Fehlen einer Heizung in einem begrenzten Zeitraum – ihr gewisse Probleme bereitet haben mochten. Diese Mängel waren aber nicht so schwerwiegend, als dass sie in den Anwendungsbereich von Artikel 3 fallen würden. Aus dem umfangreichen Material, das dem Gerichtshof vorlag, ergab sich klar, dass die ukrainischen Behörden Frau Timoschenkos gesundheitlichen Problemen erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet hatten und diese Bemühungen weit über die normale Gesundheitsversorgung für gewöhnliche Häftlinge in der Ukraine hinausgingen. Das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) hatte das Untersuchungsgefängnis, in dem sie untergebracht war, im November und Dezember 2011 besucht und keine besonderen Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit ihrer medizinischen Betreuung geäußert.
Timoschenko hätte vor ukrainischen Gerichten vorläufige Maßnahme gegen Videoüberwachung beantragen können
Weiter erklärte der Gerichtshof die Beschwerde Frau Timoschenkos nach Artikel 8, sie sei in der Klinik rund um die Uhr durch Videokameras überwacht worden, für unzulässig wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs. Zwar hatten die Gerichte in der Ukraine ihre Verwaltungsbeschwerde zurückgewiesen; gegen das erstinstanzliche Urteil war aber Berufung möglich und Frau Timoschenko hätte vor den ukrainischen Gerichten eine vorläufige Maßnahme beantragen können.
Videoüberwachungssystem der Strafkolonie bietet keine Aufzeichnungen für den Tag der Zwangsverlegung ins Krankenhaus
Im Hinblick auf die Beschwerde Frau Timoschenkos über ihre vermeintliche Misshandlung während ihres Transports in die Klinik am 20. April 2012 stellte der Gerichtshof fest, dass bewiesen war, dass bei ihr während der Haft in der Strafkolonie mehrere Blutergüsse aufgetreten waren. Dieser Umstand allein bedurfte einer Erklärung der Behörden zu deren Herkunft. Nach Angaben der Regierung hatte das Videoüberwachungssystem in der Strafkolonie, zumindest am 20. April 2012, keine Aufzeichnungen erstellt. Folglich war der Gerichtshof nicht in der Lage, die Behauptung der Regierung zu überprüfen, die Videoüberwachung hätte keine besonderen Vorkommnisse erkennen lassen.
Eindeutige Zuordnung der Blutergüsse mangels Zustimmung zur gerichtsmedizinischen Untersuchung nicht möglich
Der Gerichtshof stellte fest, dass die Lage der Blutergüsse – auf Bauch und Armen – mit den Angaben Frau Timoschenkos im Einklang stand, sie sei am Tag der Verlegung in die Klinik gewaltsam aus dem Bett gezogen und in den Bauch geschlagen worden. Allerdings konnte der Gerichtshof die Einschätzungen des Gerichtsmediziners nicht außer Acht lassen, nach denen das Alter der Blutergüsse offensichtlich nicht dem angegebenen Zeitpunkt der Verletzung entsprochen habe und sie nicht notwendigerweise durch gewaltsame äußere Einwirkungen verursacht worden seien. Eine eindeutige Bestätigung oder Widerlegung dieser Deutung wäre nur möglich gewesen, hätte sich Frau Timoschenko einer vollständigen gerichtsmedizinischen Untersuchung unterzogen; dies hatte sie jedoch zweimal verweigert. Angesichts fehlender gerichtsmedizinischer Beweise infolge der Weigerung Frau Timoschenkos, sich einer solchen Untersuchung zu unterziehen, sah es der Gerichtshof nicht als zweifelsfrei erwiesen an, dass die Blutergüsse Folge einer Behandlung im Widerspruch zu Artikel 3 während ihrer Verlegung in die Klinik am 20. April 2012 waren.
EGMR verneint Verletzung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe gemäß Artikel 3
Frau Timoschenko hatte in vertretbarer Weise behauptet, misshandelt worden zu sein, folglich waren die ukrainischen Behörden verpflichtet, die Vorwürfe effektiv zu untersuchen. Dass die Weigerung Frau Timoschenkos, sich einer gerichtsmedizinischen Untersuchung zu unterziehen, eine wirksame Untersuchung behindert hatte, reichte allerdings für die Schlussfolgerung des Gerichtshofs aus, dass die Untersuchung ihrer Vorwürfe im Sinne seiner Rechtsprechung „effektiv“ war und damit Artikel 3 genügte. Folglich lag keine Verletzung von Artikel 3 vor, weder aufgrund der vermeintlichen Misshandlung noch aufgrund etwaiger Mängel der Untersuchung.
Haftanordnung für unbestimmten Zeitraum unvereinbar mit Recht auf Freiheit und Sicherheit gemäß Artikel 5 § 1
Hinsichtlich der Beschwerde Frau Timoschenkos, ihre Untersuchungshaft sei ungesetzlich und willkürlich gewesen, stellte der Gerichtshof fest, dass die Haft für einen unbestimmten Zeitraum angeordnet worden war. Dieser Umstand für sich genommen war unvereinbar mit Artikel 5. In anderen Verfahren gegen die Ukraine hatte der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es sich dabei um ein aufgrund einer Gesetzeslücke wiederholt auftretendes Problem handelte.
Verhalten Timoschenkos während der Verhandlung ließ keine Fluchtgefahr erkennen
Das ukrainische Gericht hatte die Anordnung der Untersuchungshaft gegen Frau Timoschenko am 5. August 2011 nicht damit begründet, sie habe gegen die vorbeugend verhängte Auflage verstoßen, sich nicht aus der Stadt zu entfernen, oder sie sei einer der Gerichtsverhandlungen ferngeblieben. In den Vorwürfen, mit denen das Gericht die Anordnung begründet hatte – sie habe sich geweigert, Angaben zu ihrem Wohnsitz zu machen und sei um einige Minuten verspätet zu einer Verhandlung erschienen - ließ sich folglich keine Fluchtgefahr erkennen. Im Wesentlichen hatte der Richter den Antrag auf Anordnung der Untersuchungshaft mit Frau Timoschenkos angeblicher Behinderung des Strafverfahrens und ihrem verächtlichen Verhalten während der Gerichtsverhandlungen begründet. Artikel 5 § 1 sieht eine solche Begründung jedoch nicht als Rechtfertigung für eine Freiheitsentziehung vor. Es war außerdem unklar, inwiefern es angesichts des angeblich verächtlichen Verhaltens von Frau Timoschenko eine angemessenere Maßnahme darstellte, die Auflage, sich nicht aus der Stadt zu entfernen, mit der Untersuchungshaft zu ersetzen. Die in der Entscheidung vom 5. August 2011 angegebene Rechtfertigung blieb bis zur Verurteilung Frau Timoschenkos unverändert die Grundlage ihrer Untersuchungshaft, daher befand der Gerichtshof, dass sie während ihrer gesamten Dauer ungesetzlich und willkürlich war. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 5 § 1 vor.
Ukrainisches Gericht wies Anträge Timoschenkos auf Freilassung in unzulässiger Weise ohne jegliche Prüfung der Argumente ab
Die ukrainischen Gerichte hatten die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft von Frau Timoschenko mehrfach geprüft. Die entsprechenden Entscheidungen genügten Artikel 5 § 4 aber nicht. Sie beschränkten sich nämlich auf die Feststellung, eine Berufung gegen die Entscheidung, eine vorbeugende Maßnahme im Strafverfahren zu ändern, sei nicht möglich, und wiederholten ansonsten die ursprünglich angegebene – und vom Gerichtshof für unzureichend befundene – Rechtfertigung für die Untersuchungshaft. Frau Timoschenko hatte in ihren zahlreichen Anträgen auf Freilassung detaillierte Argumente vorgebracht; so habe sie insbesondere nicht gegen die Auflage verstoßen, sich nicht aus der Stadt zu entfernen und keinerlei Versuche gemacht, die Ermittlungen zu behindern. Dagegen hatte das ukrainische Gericht ihre Anträge ohne jegliche Prüfung dieser Argumente abgewiesen. Zudem hatte der Gerichtshof bereits in anderen Fällen festgestellt, dass das ukrainische Recht kein Verfahren zur Prüfung der Rechtmäßigkeit einer fortwährenden Untersuchungshaft nach Abschluss der vorläufigen Ermittlungen vorsieht, das Artikel 5 § 4 genügt. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 5 § 4 vor.
Ukrainisches Recht sieht kein Verfahren zur Geltendmachung von Schadensersatz für Freiheitsentziehung vor
Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass ein Recht auf Schadensersatz nach ukrainischem Recht vorgesehen ist, wenn die Unrechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung in einer Gerichtsentscheidung festgestellt wurde. Allerdings sieht das ukrainische Recht kein Verfahren zur Geltendmachung von Schadensersatz für eine Freiheitsentziehung vor, deren Unvereinbarkeit mit Artikel 5 der EGMR festgestellt hat. Der Gerichtshof hatte diese Gesetzeslücke bereits in anderen Verfahren gegen die Ukraine bemängelt und die Situation bestand weiter. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 5 § 5 vor. Artikel 18 in Verbindung mit Artikel 5
Untersuchungshaft Timoschenkos diente im Wesentlichen als Vergeltung für Missachtung des Prozessgerichts
Der Gerichtshof bemerkte, dass Frau Timoschenko, als frühere Premierministerin und Vorsitzende einer der der stärksten Oppositionsparteien, kurz nach dem Machtwechsel in der Ukraine des Amtsmissbrauchs beschuldigt und strafrechtlich verfolgt worden war. In dieser Hinsicht ähnelte der Fall dem Verfahren Luzenko (Lutsenko) gegen die Ukraine (6492/11), das die Haft eines früheren Ministers betraf. Frau Timoschenko machte insbesondere geltend, die Behörden hätten ihre Haft angeordnet, um sie von der Teilhabe am politischen Leben und von der Kandidatur bei den Wahlen vom 28. Oktober 2012 auszuschließen. Der Gerichtshof hatte bereits festgestellt, dass die Untersuchungshaft Frau Timoschenkos – die nach Angaben der Regierung einen nach Artikel 5 vorgesehenen Zweck verfolgt hatte – im Wesentlichen als Vergeltung für die Missachtung des Prozessgerichts gedient hatte. Der Gerichtshof gelangte zu der Schlussfolgerung, dass ihre Freiheitsentziehung nicht der Vorführung vor eine zuständige Gerichtsbehörde unter dem hinreichenden Verdacht, sie habe eine Straftat begangen, angeordnet worden war, sondern aus anderen Gründen. Darin lag eine Verletzung von Artikel 18 in Verbindung mit Artikel 5.
Timoschenko beansprucht keine Entschädigung
Frau Timoschenko hatte keine Entschädigung oder Erstattung der entstandenen Kosten beansprucht.
Separate Meinungen
Die Richter Jungwiert, Nußberger und Potocki äußerten eine gemeinsame zustimmende Meinung. Die Richter Spielmann, Villiger und Nußberger äußerten eine gemeinsame abweichende Meinung.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 30.04.2013
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online
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