18.10.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil22.03.2012

Abweisung von Klagen mutmaßlich leiblicher Väter zur Anfechtung der Vaterschaft verstößt nicht gegen Europäische Menschenrechts­konventionGesetzgeber darf bestehendem Familienverband zwischen Kind und rechtlichem Vater Vorrang vor Beziehung zwischen Kind und leiblichem Vater einräumen

Die Abweisung von Klagen mutmaßlicher leiblicher Väter zur Anfechtung einer Vaterschaft durch deutsche Gerichte stellt keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8) und auch keine Verletzung des Diskri­mi­nierungs­verbot (von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14) der Europäischen Menschenrechts­konvention dar. Biologische Väter haben demnach keinen Anspruch auf Anerkennung der Vaterschaft, sofern das Kind einen anderen juristischen Vater hat. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Der Beschwer­de­führer im ersten Verfahren, Denis Ahrens, geboren 1970, lebt in Berlin. Der Beschwer­de­führer im zweiten Verfahren, Heiko Kautzor, geboren 1971, lebt in Willich. Beide sind deutsche Staats­an­ge­hörige.

Sachverhalt im Fall Denis Ahrens

Denis Ahrens ging davon aus, Vater einer im August 2005 geborenen Tochter zu sein, mit deren Mutter, Frau P., er eine Beziehung gehabt hatte. Zur Zeit der Empfängnis lebte Frau P. mit einem anderen Mann, Herrn M., zusammen, der die Vaterschaft für das Kind anerkannte. Das Paar hat das gemeinsame Sorgerecht und kümmert sich gemeinsam um das Kind. Im Oktober 2005 erhob Denis Ahrens Klage wegen Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M. und gab eine eidesstattliche Versicherung ab, er habe während der Empfängniszeit intime Kontakte mit Frau P. gehabt. Herr M. machte geltend, er übernehme die volle elterliche Verantwortung für das Kind, selbst wenn er nicht der leibliche Vater sei.

Kammergericht Berlin verneint Recht auf Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M.

Nach Anhörung aller Parteien stellte das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg mit Urteil vom April 2007 fest, dass Denis Ahrens leiblicher Vater des Kindes sei. Das Gericht berücksichtigte ein Sachver­stän­di­gen­gut­achten sowie das Ergebnis eines Bluttests, der Denis Ahrens biologische Vaterschaft nachwies, und kam zu der Auffassung, dass er nicht an der Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M. gehindert sei. Im August 2007 hob das Kammergericht Berlin das Urteil des Amtsgerichts auf und befand, dass Denis Ahrens kein Recht habe, die Vaterschaft anzufechten, da zwischen Herrn M. und dem Kind eine sozial-familiäre Bindung bestehe, die andauere, obwohl erwiesen sei, dass Herr M. nicht der leibliche Vater sei. Im Mai 2009 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, die Verfas­sungs­be­schwerde von Denis Ahrens zur Entscheidung anzunehmen.

Sachverhalt im Fall Heiko Kautzor

Heiko Kautzor ging davon aus, Vater der im März 2005 geborenen Tochter seiner ehemaligen Ehefrau, Frau D., zu sein. Frau D. lebt mit einem neuen Partner, Herrn E., zusammen, der die Vaterschaft für das Kind im Mai 2006 anerkannte. Später bekam das Paar zwei weitere Kinder und heiratete. Heiko Kautzor teilte seiner ehemaligen Ehefrau mit, dass er Umgang mit dem Kind wünsche und beabsichtige, die Vaterschaft anzuerkennen.

Deutsche Gerichte weisen Abstam­mungs­un­ter­suchung zurück und verneinen Anspruch auf Anfechtung der Vaterschaft von Herrn E.

Im Juli 2006 reichte er beim Amtsgericht Bielefeld Klage auf Feststellung seiner Vaterschaft ein und erweiterte die Klage im Folgenden um einen Antrag auf Anfechtung der Vaterschaft von Herrn E. Nach Anhörung der Parteien einschließlich des für das Kind bestellten Verfah­rens­pflegers wies das Amtsgericht die Anträge Heiko Kautzors mit Urteil vom Juni 2008 zurück. Das Gericht befand, dass er von der Vater­schafts­an­fechtung ausgeschlossen sei, weil eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater Herrn E. bestehe. Da das Kind einen rechtlichen Vater habe, habe Heiko Kautzor auch kein Recht auf Feststellung seiner Vaterschaft durch einen Gentest. Das Oberlan­des­gericht wies seine Berufung im Dezember 2008 zurück. Auf eine Anhörungsrüge Heiko Kautzors bestätigte das Oberlan­des­gericht, dass er nach den maßgeblichen Bestimmungen des BGB in der Auslegung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts auch nicht berechtigt sei, eine Abstam­mungs­un­ter­suchung einzufordern, ohne dass seine rechtliche Vaterschaft festgestellt würde. Im Juni 2009 lehnte es das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ab, die Verfas­sungs­be­schwerde Heiko Kautzors zur Entscheidung anzunehmen.

Väter fühlen sich durch Entscheidungen der Gerichte diskriminiert und reichen Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein

Unter Berufung auf Artikel 8 für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 rügten beide Beschwer­de­führer die Entscheidungen der deutschen Gerichte, ihre Klagen zur Anfechtung der Vaterschaft zurückzuweisen, und machten geltend, dass sie im Verhältnis zur Mutter, zum rechtlichen Vater und zum Kind diskriminiert würden. Die Beschwerde von Denis Ahrens wurde am 18. August 2009 und die Beschwerde Heiko Kautzors am 30. April 2009 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Im Fall Ahrens erhielten Frau P. und Herr M., die rechtlichen Eltern der leiblichen Tochter des Beschwer­de­führers, die Erlaubnis, als Drittpartei eine Stellungnahme einzureichen.

EGMR bejaht Eingriff in Recht auf Achtung des Privatlebens, verneint jedoch Eingriff in Recht auf Achtung des Familienlebens

In beiden Fällen kam der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte, die Anträge der Beschwer­de­führer auf Feststellung der rechtlichen Vaterschaft für ihr leibliches bzw. mutmaßlich leibliches Kind zurückzuweisen, einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 darstellten. Gleichzeitig befand der Gerichtshof, dass diese Entscheidungen keinen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 bedeuteten, da niemals eine enge persönliche Bindung zwischen den Beschwer­de­führern und den Kindern bestanden hatte.

In einem anderen Fall, Anayo gegen Deutschland, hatte der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 8 aufgrund der Weigerung der deutschen Gerichte festgestellt, einem Mann Umgang mit seinen leiblichen Kindern zu gewähren, da er nie eine sozial-familiäre Bindung zu ihnen gehabt habe. Die von Denis Ahrens und Heiko Kautzor erhobenen Klagen hatten jedoch ein weitrei­chenderes Ziel: Sie waren auf ihre vollständige Anerkennung als rechtlicher Vater des jeweiligen Kindes ausgerichtet und somit darauf, die Vaterschaft des existierenden rechtlichen Vaters anzufechten. Heiko Kautzor rügte darüber hinaus die mangelnde Möglichkeit, seine mutmaßliche Vaterschaft festzustellen, ohne den rechtlichen Status des Kindes anzufechten.

In der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten besteht Möglichkeit zur Anfechtung von Vater­schafts­a­n­er­kennung

Der Gerichtshof stellte fest, dass einer von ihm durchgeführten rechts­ver­glei­chenden Untersuchung zufolge mutmaßliche biologische Väter in einer Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats die Möglichkeit haben, die – durch Vater­schafts­a­n­er­kennung festgestellte - Vaterschaft eines anderen Mannes anzufechten, selbst wenn der rechtliche Vater in einer sozial-familiären Beziehung mit dem Kind lebt. In einer signifikanten Minderheit von neun Mitgliedstaaten hingegen hat der mutmaßliche biologische Vater keine Möglichkeit, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. Folglich besteht kein gefestigter Konsens und die Mitgliedstaaten verfügen daher über einen weiten Beurtei­lungs­spielraum im Hinblick auf die Festlegung des rechtlichen Status eines Kindes in einer entsprechenden Situation.

Entscheidungen der deutschen Gerichte zielten auf Wohl des Kindes ab

Zwar hatten die Beschwer­de­führer Anspruch auf Schutz ihres Interesses an der Feststellung eines wesentlichen Gesichtspunktes ihres Privatlebens und an dessen rechtlicher Anerkennung. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte hatten aber darauf abgezielt, dem Willen des Gesetzgebers zu entsprechen, einem bestehenden Familienverband zwischen dem betroffenen Kind und seinem rechtlichen Vater, der sich regelmäßig um das Kind kümmert, Vorrang einzuräumen gegenüber der Beziehung zwischen dem (angeblichen) leiblichen Vater und seinem Kind. Aus dem Urteil im Fall Anayo gegen Deutschland ließ sich ableiten, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 8 verpflichtet sind zu prüfen, ob es im Kindes­wohl­in­teresse liegt, dem leiblichen Vater die Möglichkeit zu geben, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen, etwa durch Gewährung des Umgangsrechts. Daraus folgt aber nicht notwen­di­gerweise eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach der Konvention, biologischen Vätern die Möglichkeit einzuräumen, den Status des rechtlichen Vaters anzufechten.

Feststellen der biologischen Vaterschaft ohne gleichzeitige Anfechtung der Vaterschaft des rechtlichen Vaters nicht vorgesehen

Im Hinblick auf den Fall Kautzor stellte der Gerichtshof fest, dass keiner der 26 Mitgliedstaaten, die er in seiner rechts­ver­glei­chenden Untersuchung berücksichtigt hatte, ein Verfahren vorsieht, um die biologische Vaterschaft festzustellen, ohne gleichzeitig die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. Die Entscheidung, die Möglichkeit einer solchen separaten Prüfung vorzusehen oder nicht, fiel folglich auch in den Beurtei­lungs­spielraum des Staates.

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt

Der Gerichtshof zeigte sich darüber hinaus überzeugt, dass die deutschen Gerichte die jeweilige Situation in beiden Fällen sorgfältig geprüft hatten. Folglich lag in beiden Fällen keine Verletzung von Artikel 8 vor.

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Verbindung mit dem Diskri­mi­nie­rungs­verbot im Hinblick auf das Wohl des Kindes nicht verletzt

Der Gerichtshof stellte fest, dass der Hauptgrund für die Ungleich­be­handlung der Beschwer­de­führer im Vergleich zur Mutter, zum rechtlichen Vater und zum Kind hinsichtlich der Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten – und im Fall Kautzor hinsichtlich der Möglichkeit, einen Gentest zu verlangen – in der Absicht lag, das jeweilige Kind und seine soziale Familie vor äußerer Beein­träch­tigung zu schützen. In Erwägung seiner Schluss­fol­ge­rungen hinsichtlich Artikel 8 kam der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Entscheidung, einem bestehen Familienverband zwischen dem betroffenen Kind und seinen rechtlichen Eltern Vorrang einzuräumen gegenüber der Beziehung zu seinem biologischen Vater, soweit dessen rechtlicher Status betroffen war, in den Beurtei­lungs­spielraum des Staates fiel. Folglich lag in beiden Fällen keine Verletzung von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 vor.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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