21.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil18.03.2011

EGMR: Kruzifixe in Klassenzimmern staatlicher Schulen in Italien zulässigGerichtshof stellt keine Konven­ti­o­ns­ver­letzung fest

Kruzifixe, die in Italien in Klassenzimmern staatlicher Schulen angebracht sind, verletzen nicht Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung). Ein Verstoß gegen die Verpflichtung des Staates, bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltan­schau­lichen Überzeugungen sicherzustellen, liegt hierbei ebenfalls nicht vor. Dies hat nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden.

Die Beschwer­de­führer, Soile Lautsi, geboren 1957, und ihre 1988 und 1990 geborenen Söhne, Dataico und Sami Albertin, sind italienische Staats­an­ge­hörige und leben in Italien. Die Söhne besuchten im Schuljahr 2001/02 das Istituto comprensivo statale Vittorino da Feltre, eine staatliche Schule in Abano Terme, in deren Klassenzimmern Kruzifixe angebracht waren.

Klägerin beanstandet Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen

Bei einer Versammlung des Schulbeirats am 22. April 2002 sprach Frau Lautsis Ehemann die Präsenz religiöser Symbole, insbesondere von Kruzifixen, in den Klassenzimmern an und fragte, ob diese entfernt werden könnten. Nachdem der Schulbeirat entschieden hatte, die Symbole in den Klassenzimmern zu belassen, legte Frau Lautsi am 23. Juli 2002 Klage beim Verwal­tungs­gericht Venetien ein und machte einen Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen geltend.

Schul­ver­wal­tungen müssen gemäß Vorschrift des Ministers Präsenz eines Kruzifixes in den Klassenzimmern sicherstellen

Der Minister für Unterricht, Universitäten und Forschung erließ im Oktober 2002 eine Vorschrift, nach der die Schul­ver­wal­tungen die Präsenz eines Kruzifixes in den Klassenzimmern sicherzustellen hatten. Am 30. Oktober 2003 trat der Minister dem von Frau Lautsi angestrengten Verfahren als Partei bei und vertrat, dass ihre Beschwerde unbegründet sei, da die Präsenz von Kruzifixen in Klassenzimmern staatlicher Schulen sich auf zwei Königliche Dekrete von 1924 und 1928 stütze.

Anwendbare Bestimmungen der Königlichen Dekrete haben keinen Gesetzesrang

Das Verfas­sungs­gericht erklärte die Vorlage des Verwal­tungs­ge­richts zur Frage der Verfas­sungs­mä­ßigkeit 2004 für unzulässig, da die anwendbaren Bestimmungen der beiden Königlichen Dekrete keinen Gesetzesrang hätten, sondern es sich lediglich um Verordnungen handele, die nicht Gegenstand einer Verfas­sungs­mä­ßig­keits­prüfung sein könnten.

Verwal­tungs­gericht verneint Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen

Das Verwal­tungs­gericht wies die Klage Frau Lautsis am 17. März 2005 mit der Begründung ab, dass die fraglichen Dekrete noch immer in Kraft seien und Kruzifixe in Klassenzimmern staatlicher Schulen keinen Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen darstellten, „das zum Rechtserbe Europas und der westlichen Demokratien gehört.“ Insbesondere vertrat das Gericht die Auffassung, das Kruzifix sei Symbol des Christentums im Allgemeinen, nicht nur des Katholizismus, so dass es auch auf andere Glaubens­be­kenntnisse verweise. Weiterhin handele es sich um ein historisch-kulturelles Symbol, das einen „identi­täts­s­tif­tenden Charakter“ für das italienische Volk habe, und um ein Symbol für das der italienischen Verfassung zugrun­de­liegende Wertesystem.

Kruzifix in Klassenzimmern kann wichtige erzieherische Funktion erfüllen

Der von Frau Lautsi angerufene Staatsrat (das oberste Verwal­tungs­gericht) bestätigte mit Urteil vom 13. April 2006, dass die Präsenz von Kruzifixen in Klassenzimmern staatlicher Schulen eine Rechtsgrundlage in den Dekreten von 1924 und 1928 habe und, angesichts der dem Kruzifix beizumessenden Bedeutung, mit dem Gebot staatlicher Neutralität in Religionsfragen vereinbar sei. Insofern als es Werte symbolisiere, die die italienische Kultur kennzeichneten – Toleranz, Bekräftigung der Rechte des Einzelnen, die Autonomie des moralischen Gewissens gegenüber der Autorität, Solidarität, die Ablehnung jeglicher Diskriminierung – könne das Kruzifix in Klassenzimmern selbst aus einem „säkularen“ Blickwinkel eine wichtige erzieherische Funktion erfüllen.

Beschwer­de­führer fühlen sich als Nichtkatholiken diskriminierend ungleich­be­handelt

Unter Berufung auf Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) und Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit) beklagten sich die Beschwer­de­führer über die Kruzifixe in den Klassenzimmern der staatlichen Schule, die Frau Lautsis Söhne besucht hatten. Unter Berufung auf Artikel 14 (Diskri­mi­nie­rungs­verbot), machten sie geltend, dass sie aufgrund dessen als Nichtkatholiken eine diskri­mi­nierende Ungleich­be­handlung im Vergleich zu katholischen Eltern und deren Kindern erfahren hatten.

Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des EGMR

Die Beschwerde wurde am 27. Juli 2006 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. In seinem Kammerurteil vom 3. November 2009 stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) in Verbindung mit Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religi­o­ns­freiheit) fest. Am 28. Januar 2010 beantragte die italienische Regierung die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer gemäß Artikel 43 EMRK (Verweisung an die Große Kammer); und am 1. März 2010 nahm der Ausschuss der Großen Kammer den Antrag an. Am 30. Juni 2010 fand eine mündliche Verhandlung vor der Großen Kammer statt.

Religiöse und weltan­schauliche Überzeugungen der Eltern sind zu achten

In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof unterstrichen, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten des Europarats, die religiösen und weltan­schau­lichen Überzeugungen der Eltern zu achten, nicht nur den Gegenstand und die Art und Weise des Unterrichts betrifft, sondern auch „bei Ausübung“ der Gesamtheit der „Aufgaben“, die die Staaten auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernehmen, zum Tragen kommt. Dies schließt die Gestaltung der schulischen Umgebung ein, sofern diese nach nationalem Recht eine staatliche Aufgabe ist. Die Entscheidung, ob Kruzifixe in Klassenzimmern staatlicher Schulen angebracht sein sollen, gehört zu den Aufgaben, die der italienische Staat übernimmt und fällt folglich in den Anwen­dungs­bereich von Artikel 2 Protokoll Nr. 1. Daraus ergibt sich auf diesem Gebiet eine staatliche Verpflichtung, das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltan­schau­lichen Überzeugungen sicherzustellen.

Kein Beweis für Einfluss auf Schüler

Der Gerichtshof war der Auffassung, dass sich nicht beweisen lässt, ob ein Kruzifix an der Wand eines Klassenzimmers einen Einfluss auf die Schüler hat, auch wenn es in erster Linie als religiöses Symbol zu betrachten ist. Zwar war es nachvollziehbar, dass Frau Lautsi die Kruzifixe in den Klassenräumen ihrer Kinder als staatliche Missachtung ihres Rechts sah, deren Unterricht entsprechend ihren eigenen weltan­schau­lichen Überzeugungen sicherzustellen; diese subjektive Wahrnehmung reichte aber nicht aus, um eine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 zu begründen.

Kruzifix auch Symbol für Werte und Prinzipien

Die italienische Regierung vertrat die Auffassung, dass das Kruzifix in Klassenzimmern staatlicher Schulen heute eine Tradition darstelle, auf deren Bewahrung sie Wert lege. Das Kruzifix symbolisiere über die religiöse Bedeutung hinaus die Werte und Prinzipien, die die westliche Demokratie und Zivilisation begründeten. Seine Präsenz in den Klassenzimmern sei dadurch zu rechtfertigen. Im Hinblick auf den ersten Gesichtspunkt unterstrich der Gerichtshof, dass die Entscheidung, eine Tradition zu bewahren, zwar im Prinzip in den Beurtei­lungs­spielraum der Mitgliedstaaten des Europarats fällt, der Verweis auf eine Tradition die Staaten aber nicht von ihrer Verpflichtung entbinden kann, die Konven­ti­o­ns­rechte zu achten. Im Hinblick auf den zweiten Gesichtspunkt stellte der Gerichtshof fest, dass der italienische Staatsrat und der Kassa­ti­o­ns­ge­richtshof zur Bedeutung des Kruzifixes voneinander abweichende Auffassungen vertraten und das italienische Verfas­sungs­gericht sich zu dieser Frage nicht geäußert hat; dem Gerichtshof stand es nicht zu, in einem Streit zwischen nationalen Gerichten Position zu beziehen.

Staaten genießen in Fragen des Unterrichts und der Erziehung Beurtei­lungs­spielraum

Schließlich genießen Staaten einen Beurtei­lungs­spielraum, wenn es darum geht, ihre Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts mit der Achtung des Rechts der Eltern zu vereinbaren, diesen Unterricht entsprechend ihren religiösen und weltan­schau­lichen Überzeugungen sicherzustellen. Der Gerichtshof hat daher im Prinzip die Entscheidungen der Staaten auf diesem Gebiet zu respektieren, einschließlich des Stellenwerts, den sie der Religion beimessen, sofern diese Entscheidungen zu keiner Form der Indoktrinierung führen. Die Entscheidung, Kruzifixe in Klassenzimmern anzubringen, fällt folglich in den Beurtei­lungs­spielraum des Staates, zumal es in der Frage der Präsenz religiöser Symbole in staatlichen Schulen unter den Mitgliedstaaten des Europarats keine Übereinstimmung gibt.7 Der Beurtei­lungs­spielraum der Staaten geht allerdings Hand in Hand mit der Kontrolle durch den Gerichtshof, dem es obliegt, sicherzustellen, dass Entscheidungen auf diesem Gebiet nicht zu einer Indoktrinierung führen.

Kruzifix kein Vergleich zu religiösen Aktivitäten

In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof fest, dass die gesetzliche Regelung in Italien, die das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern vorschreibt, der Mehrheits­re­ligion eine dominante Sichtbarkeit in der schulischen Umgebung gibt. Der Gerichtshof war aber der Auffassung, dass dies nicht ausreicht, um von einem staatlichen Indok­tri­nie­rungs­prozess zu sprechen und um einen Verstoß gegen Artikel 2 Protokoll Nr. 1 zu begründen. Der Gerichtshof verwies auf seine Rechtsprechung8, nach der die Tatsache, dass einer Religion angesichts ihrer dominanten Bedeutung in der Geschichte eines Landes im Lehrplan mehr Raum gegeben wird als anderen Religionen, für sich genommen noch keine Indoktrinierung darstellt. Er hob hervor, dass ein an der Wand angebrachtes Kruzifix ein seinem Wesen nach passives Symbol ist, dessen Einfluss auf die Schüler nicht mit einem didaktischen Vortrag oder mit der Teilnahme an religiösen Aktivitäten verglichen werden kann.

Kinder anderer Religi­o­ns­zu­ge­hö­rigkeit auf der Schule

Der Gerichtshof war weiter der Auffassung, dass die Wirkung der höheren Sichtbarkeit, die das Kruzifix dem Christentum in der schulischen Umgebung gibt, angesichts folgender Gesichtspunkte noch relativiert werden muss: Die Präsenz des Kruzifixes steht nicht im Zusammenhang mit einem verpflichtenden christlichen Religi­o­ns­un­terricht; die schulische Umgebung ist laut der italienischen Regierung offen für andere Religionen (so sei das Tragen von Symbolen und Kleidung mit religiöser Konnotation Schülern nicht verboten, die Praktiken von Nicht­mehr­heits­re­li­gionen würden berücksichtigt, freiwilliger Religionsunterricht in allen anerkannten Konfessionen sei möglich, das Ende des Ramadan werde häufig in Schulen gefeiert); nichts weist darauf hin, dass die Behörden sich gegenüber Schülern intolerant verhalten, die anderen Konfessionen angehören, die nicht religiös sind oder Weltan­schauungen vertreten, die nicht mit einer Konfession in Verbindung stehen. Schließlich behaupten die Beschwer­de­führer nicht, dass das Kruzifix in den Klassenzimmern eine Unter­richt­s­praxis mit missionarischer Tendenz gefördert oder dass ein Lehrer von Frau Lautsis Kindern in tendenziöser Weise auf dessen Präsenz Bezug genommen hätte. Im Übrigen blieb Frau Lautsis elterliches Recht, ihre Kinder aufzuklären, sie zu beraten und sie im Sinne ihrer eigenen weltan­schau­lichen Überzeugungen anzuleiten, unberührt.

EGMR: Entscheidung der Behörden liege im Beurtei­lungs­spielraums

Der Gerichtshof kam folglich zu dem Schluss, dass sich die Entscheidung der Behörden, die Kruzifixe in den Klassenzimmern der von Frau Lautsis Söhnen besuchten staatlichen Schule zu belassen, in den Grenzen des Beurtei­lungs­spielraums hielt, den der italienische Staat im Zusammenhang mit seiner Verpflichtung, in der Ausübung seiner Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts das Recht der Eltern zu achten, diesen Unterricht entsprechend ihren religiösen und weltan­schau­lichen Überzeugungen sicherzustellen, genießt. Somit lag keine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 vor. Der Gerichtshof befand außerdem, dass sich im Hinblick auf Artikel 9 keine anderen Fragen stellten.

Im Hinblick auf Frau Lautsis Söhne kam der Gerichtshof zu demselben Schluss.

In seinem Kammerurteil hatte der Gerichtshof befunden, dass es angesichts seiner Feststellung einer Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 in Verbindung mit Artikel 9 keinen Anlass gab, die Beschwerde unter Berufung auf Artikel 14 separat zu prüfen. Die Große Kammer erinnerte daran, dass Artikel 14 nur in Bezug auf die anderen Bestimmungen der Konvention und ihrer Protokolle gilt. Selbst unter der Annahme, dass die Beschwer­de­führer sich auch darüber beklagen wollten, in ihren Rechten gemäß Artikel 9 und Artikel 2 Protokoll Nr. 1 diskriminiert worden zu sein, sah der Gerichtshof darin keine andere Frage als diejenigen, die er bereits im Anwen­dungs­bereich von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 untersucht hatte. Es gab folglich keinen Anlass, diesen Teil der Beschwerde zu prüfen.

Separate Meinungen

Die Richter Bonello, Power und Rozakis äußerten jeweils eine zustimmende Meinung. Richter Malinverni äußerte eine abweichende Meinung, der sich Richterin Kalaydjieva anschloss. Die separaten Meinungen sind dem Urteil beigefügt.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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