18.10.2024
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Dokument-Nr. 6560

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Urteil16.05.1995Bundesverfassungsgericht1 BvR 1087/91
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • BVerfGE 93, 1Sammlung: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band: 93, Seite: 1
  • MDR 1995, 1076Zeitschrift: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR), Jahrgang: 1995, Seite: 1076
  • NJW 1995, 2477Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 1995, Seite: 2477
  • NVwZ 1995, 1197Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), Jahrgang: 1995, Seite: 1197
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil16.05.1995

Kreuz im Klassenzimmer: "Kruzifix-Urteil" des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richtsVerstoß gegen die Religi­o­ns­freiheit?

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht - Erster Senat - hat entschieden, daß die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unter­richts­räumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekennt­nis­schule ist, gegen die in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Religi­o­ns­freiheit verstößt. Gleichzeitig hat es eine Vorschrift des bayerischen Schulrechts (§ 13 Abs. 1 Satz 3 der Volks­schul­ordnung), die anordnet, daß in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt.

Die Entscheidung ist aufgrund der Verfas­sungs­be­schwerde eines Elternpaares und dessen schul­pflichtigen Kindern ergangen. Die Eltern sind Anhänger der anthro­po­so­phischen Weltanschauung nach der Lehre Rudolf Steiners und erziehen ihre Kinder in diesem Sinne. Sie wenden sich dagegen, daß die Schulräume, in denen ihre Kinder unterrichtet werden, mit einem Kreuz oder Kruzifix ausgestattet sind. Sie machen geltend, daß dadurch im Sinne des Christentums auf ihre Kinder eingewirkt werde; dies laufe ihren eigenen Erzie­hungs­vor­stel­lungen, insbesondere ihrer Weltanschauung zuwider. Ihr Antrag auf Entfernung der Kreuze ist von den Verwal­tungs­ge­richten abgelehnt worden.

Glaubensfreiheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stützt seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen: Art. 4 Abs. 1 GG garantiere die Freiheit, nach eigenen Glaubens­über­zeu­gungen zu leben und zu handeln, an kultischen Handlungen teilzunehmen oder solchen fernzubleiben. Ebenso überlasse es Art. 4 Abs. 1 GG dem Einzelnen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkenne und verehre oder welche er ablehne. Aus der Glaubens­freiheit folge der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unter­schied­lichen Religionen und Bekenntnissen. Die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse sei dem Staat untersagt; auch dort, wo er mit ihnen zusammenarbeite oder sie fördere, dürfe dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religi­o­ns­ge­mein­schaften führen.

Angesichts der allgemeinen Schulpflicht seien die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweich­mög­lichkeit mit diesem Symbol konfrontiert und gezwungen, "unter dem Kreuz" zu lernen. Das Kreuz habe appellativen Charakter und weise die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befol­gungs­würdig aus.

Kreuz ist das spezifische Glaubenssymbol des Christentums

Das Kreuz sei das spezifische Glaubenssymbol des Christentums. Es sei sinnbildlicher Ausdruck des Kerns christlicher Glaubens­über­zeu­gungen. Für den gläubigen Christen sei es in vielfacher Weise Gegenstand der Verehrung und der Frömmig­keitsübung. Für den Nichtchristen oder Atheisten sei es daneben auch das Symbol der missionarischen Ausbreitung des Christentums. Entgegen der Auffassung der Gerichte im Ausgangs­ver­fahren könne man das Kreuz nicht der in ihm symbolisierten Glaubensinhalte entkleiden und auf ein bloßes Zeichen abendländischer Kulturtradition reduzieren; eine solche Profanisierung des Kreuzes laufe auch dem Selbst­ver­ständnis des Christentums zuwider.

Religiös-weltanschaulich neutraler Staat kann nicht die kulturellen und historischen Wertüber­zeu­gungen abstreifen

Der staatliche Erzie­hungs­auftrag im Schulwesen (Art. 7 Abs. 1 GG) könne den Grund­recht­s­eingriff nicht rechtfertigen. Allerdings könne auch ein religiös-weltanschaulich neutraler Staat nicht die kulturellen und historischen Wertüber­zeu­gungen abstreifen, die ganz wesentlich vom christlichen Glauben und von den christlichen Kirchen mitgeprägt worden seien. Der Staat dürfe ferner auf die Religionsfreiheit derjenigen Eltern Rücksicht nehmen, die eine religiös geprägte Erziehung ihrer Kinder wünschten. Das Spannungs­ver­hältnis zwischen den verschiedenen religiös-weltan­schau­lichen Überzeugungen sei unter Berück­sich­tigung des Toleranzgebotes dahingehend zu lösen, daß keine der wider­strei­tenden Positionen bevorzugt, sondern alle einem möglichst schonenden Ausgleich zugeführt würden. Die Grenzen zulässiger religiöser Bezüge im Schulwesen habe das Bundes­ver­fas­sungs­gericht in den Entscheidungen aus dem Jahre 1975 zur badischen und bayerischen Volksschule gezogen. Solche Bezüge dürften nur ein unerläßliches Minimum an Zwangselementen enthalten; die Schule dürfe keine missionarische Schule sein und keine Verbindlichkeit für christliche Glaubensinhalte beanspruchen. Die Bejahung des Christentums beziehe sich auf die Anerkennung seines prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, nicht aber auf bestimmte Glaubens­wahr­heiten.

Grund­rechts­konflikt kann nicht nach Mehrheits­prinzip gelöst werden

Die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen rechtfertige sich auch nicht aus der Glaubens­freiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens. Der Grund­rechts­konflikt zwischen Schülern und Eltern verschiedener Glaubens­rich­tungen lasse sich nicht nach dem Mehrheits­prinzip lösen, weil das Grundrecht der Glaubens­freiheit in besonderem Maße dem Minder­hei­ten­schutz diene. Art. 4 Abs. 1 GG verleihe dem Einzelnen keinen unein­ge­schränkten Anspruch darauf, seine Glaubens­über­zeugung im Rahmen staatlicher Institutionen zu betätigen. Soweit die Schule für eine Betätigung von Glaubens­über­zeu­gungen Raum lasse - wie beim Religi­o­ns­un­terricht, beim Schulgebet oder anderen religiösen Veranstaltungen -, müßten diese vom Prinzip der Freiwilligkeit geprägt sein und Andersdenkenden zumutbare Ausweich­mög­lich­keiten lassen. Dies sei beim Kreuz im Klassenzimmer, dessen Präsenz und Anforderung sich der Andersdenkende nicht entziehen könne, nicht der Fall.

Abweichende Meinung der Richter Seidl, Söllner und der Richterin Haas

Die Richter Seidl, Söllner und die Richterin Haas haben dem Beschluß eine gemeinsame abweichende Meinung beigefügt. Nach ihrer Auffassung verstößt § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen ist, nicht gegen das Grundgesetz.

Länder dürfen Erziehungsziele festlegen

Die Länder seien als Träger des staatlichen Volks­schul­wesens befugt, Erziehungsziele festzulegen. Für den in Bayern bestehenden Schultyp der christlichen Gemein­schafts­schule sei insoweit in der Landes­ver­fassung bestimmt, daß die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen werden. Diese Grundsätze umfaßten die Werte, die den christlichen Bekenntnissen gemeinsam seien, und die ethischen Normen, die daraus abgeleitet würden. Die Bejahung des Christentums beziehe sich nicht auf Glaubensinhalte, sondern auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors und sei damit, wie das Bundes­ver­fas­sungs­gericht schon früher entschieden habe, auch gegenüber Nichtchristen durch die Geschichte des abendländischen Kulturkreises gerechtfertigt. Dürfe der Landes­ge­setzgeber aber in verfas­sungs­rechtlich unbedenklicher Weise den Schultyp der christlichen Gemein­schafts­schule in diesem Sinne einführen, könne es ihm auch nicht verwehrt sein, die Wertvor­stel­lungen, die diesen Schultyp prägten, in den Unter­richts­räumen durch das Kreuz zu symbolisieren. Die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität werde dadurch nicht verletzt. Das Kreuz schließe die Berück­sich­tigung anderer weltanschaulich-religiöser Inhalte und Werte im Unterricht nicht aus.

Glaubens­freiheit ist nicht verletzt

Die Beschwer­de­führer würden auch nicht in ihrer Glaubens­freiheit verletzt. Der Staat dürfe in der öffentlichen Schule durch das Bereithalten von Wertsymbolen, die in dem betreffenden Bundesland verbreiteter Übung entsprächen, einen organi­sa­to­rischen Rahmen schaffen, in dem sich zugleich die bei einem großen Teil der Bevölkerung und ihren Eltern vorhandenen religiösen Überzeugungen entfalten könnten. Nicht­christ­lichen Schülern und ihren Eltern entstünden dadurch keine unzumutbaren Belastungen. Für den nicht­christ­lichen Schüler könne das Kreuz im Klassenzimmer die Bedeutung eines Sinnbilds für die Zielsetzungen der christlichen Gemein­schafts­schule, daneben noch die eines Symbols einer von ihm nicht geteilten, abgelehnten und vielleicht bekämpften religiösen Überzeugung haben. Die psychische Beein­träch­tigung und mentale Belastung, die nicht­christliche Schüler dadurch (möglicherweise) zu erdulden hätten, habe jedoch nur ein verhältnismäßig geringes Gewicht. Das "Minimum an Zwangselementen", das in dieser Beziehung von Eltern und Schülern nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zu akzeptieren sei, werde nicht überschritten. Die Schüler seien insbesondere nicht zu besonderen Verhal­tens­weisen oder religiösen Übungen vor dem Kreuz verpflichtet. Sie würden durch das bloße Vorhandensein eines Kreuzes auch nicht missionarisch beeinflußt.

Darüber hinaus hat die Richterin Haas zusätzlich noch eine abweichende Meinung dem Beschluß beigefügt, die sich mit weiteren Fragen der Begründetheit sowie der Zulässigkeit der Verfas­sungs­be­schwerde befaßt. Das Sondervotum erstreckt die Prüfung zur Begründetheit der Verfas­sungs­be­schwerde auch auf die Erwägungen des Verwal­tungs­ge­richtshofs zum Fehlen eines Anord­nungs­grundes, auf den die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes ebenfalls gestützt ist. Verfas­sungsrecht, insbesondere der Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes, sei nicht dadurch verletzt, daß der Verwal­tungs­ge­richtshof auf die Dauer des bisherigen Zustandes abhebe und der Hinnahme dieses Zustandes durch die Beschwer­de­führer während eines Zeitraums von fünf Jahren indizielle Bedeutung dafür beimesse, daß ihnen kein schwerer und unzumutbarer Nachteil entstehe, wenn die in einzelnen Unter­richts­räumen noch vorhandenen Kruzifixe bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch die Fachgerichte hängen blieben.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

der Leitsatz

1. Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unter­richts­räumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekennt­nis­schule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.

2. § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern ist mit Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig.

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