Das Statut der Beamten der Europäischen Union* sah bis 2012 vor, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission bis Ende eines jeden Jahres in Anwendung einer bestimmten Methode über die Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge mit Wirkung vom 1. Juli beschließt. Diese „Angleichungsmethode“ bestand in einer mathematischen und automatischen Berechnung auf der Grundlage der Entwicklung der Lebenshaltungskosten in Brüssel sowie der Kaufkraft der Dienstbezüge der nationalen Beamten in den Zentralverwaltungen von acht Mitgliedstaaten. Sie ließ weder der Kommission noch dem Rat einen Ermessensspielraum hinsichtlich des Inhalts des Vorschlags und des zu erlassenden Rechtsakts.
Das Statut sah jedoch auch eine Ausnahmeklausel vor, die eine Abweichung von der „Angleichungsmethode“ erlaubte, um im Rahmen der Angleichung der Bezüge einer Wirtschaftskrise Rechnung tragen zu können. Diese Klausel bestimmte, dass bei Eintritt einer erheblichen und abrupten Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in der Union das Parlament und der Rat gemeinsam auf Vorschlag der Kommission im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren über die Angleichung der Bezüge beschließen, ohne an die „Angleichungsmethode“ gebunden zu sein.
Die Ausnahmeklausel sah vor, dass die Kommission objektive Daten im Hinblick auf das Vorliegen einer solchen Verschlechterung mitteilt. Die Klausel regelte aber nicht, welchem Organ oder welchen Organen es oblag, die von der Kommission mitgeteilten Daten zu bewerten, um festzustellen, ob eine erhebliche und abrupte Verschlechterung vorlag; die Frage stellte sich insbesondere im Jahr 2011, als die Kommission und der Rat zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen im Hinblick auf das Vorliegen einer solchen Situation gekommen sind.
Mit seinen Urteilen, die im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Rat und der Kommission über die Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge für das Jahr 2011 ergehen**, entscheidet der Gerichtshof, dass es in diesem Stadium des Verfahrens Sache des Rates und nicht der Kommission war, das Vorliegen einer erheblichen und abrupten Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage festzustellen, um gegebenenfalls die Anwendung der Ausnahmeklausel auszulösen. Nachdem der Rat auf der Grundlage der von der Kommission mitgeteilten Daten festgestellt hatte, dass eine erhebliche und abrupte Verschlechterung vorliegt, war die Kommission verpflichtet, dem Parlament und dem Rat, gestützt auf die Ausnahmeklausel, entsprechende Vorschläge vorzulegen. Dabei verfügte die Kommission jedoch über einen eigenen Ermessensspielraum hinsichtlich des Inhalts ihrer Vorschläge, d. h. der Maßnahmen, die ihr in Anbetracht der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie gegebenenfalls anderer zu berücksichtigender Faktoren, etwa aus dem Bereich der Personalverwaltung und insbesondere der Erfordernisse der Gewinnung von Personal, angemessen erscheinen.
Da der Rat für das Jahr 2011 anhand der von der Kommission mitgeteilten Daten das Vorliegen einer erheblichen und abrupten Verschlechterung festgestellt hatte, war er nicht verpflichtet, den von der Kommission für dieses Jahr auf der Grundlage der „Angleichungsmethode“ vorgelegten Vorschlag anzunehmen. Da die Ausnahmeklausel auch für die jährliche Anpassung der Berichtigungskoeffizienten gilt, die den Lebensbedingungen am Ort der dienstlichen Verwendung Rechnung tragen sollen, war der Rat ebenso wenig verpflichtet, den Vorschlag der Kommission anzunehmen, soweit er sich auf die Angleichung dieser Koeffizienten für 2011 bezog.
Der Gerichtshof weist infolgedessen die Klage der Kommission in der Rechtssache C-63/12 ab, die auf die Nichtigerklärung des Beschlusses des Rates*** gerichtet ist, mit dem dieser den Vorschlag der Kommission ablehnte, mit Wirkung vom 1. Juli 2011 die Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten der Europäischen Union um 1,7 % anzuheben und die Berichtigungskoeffizienten anzugleichen.
Der Gerichtshof weist ferner die Untätigkeitsklage der Kommission gegen den Rat (Rechtssache C-196/12) als unzulässig ab. Der Rat hat es nämlich nicht unterlassen, über den Vorschlag der Kommission zu entscheiden, sondern er hat ihn abgelehnt, und die Kommission konnte gegen diese ablehnende Entscheidung in der Rechtssache C-63/12 vorgehen.
Zur Klage des Rates gegen die Kommission (Rechtssache C-66/12), mit der der Rat geltend gemacht hat, dass die Kommission gegen die im Statut vorgesehene Ausnahmeklausel sowie den EU- und den AEU-Vertrag verstoßen habe, indem sie einen Vorschlag auf der Grundlage der „Angleichungsmethode“ vorgelegt und sich damit geweigert habe, auf der genannten Klausel beruhende entsprechende Vorschläge vorzulegen, stellt der Gerichtshof fest, dass sie in Anbetracht des Urteils in der Rechtssache C-63/12 gegenstandslos geworden ist, so dass über sie nicht mehr zu entscheiden ist.
Erläuterungen
* Errichtet durch die Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie zur Einführung von Sondermaßnahmen, die vorübergehend auf die Beamten der Kommission anwendbar sind (ABl. L 56, S. 1), in der durch die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1080/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 (ABl. L 311, S. 1), die am 5. Juni 2012 berichtigt wurde (ABl. L 144, S. 48), geänderten Fassung.
** Zur Angleichung für 2009 vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 24. November 2010.
*** 2011/866/EU des Rates vom 19. Dezember 2011 betreffend den Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates zur Angleichung der Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Union sowie der Berichtigungskoeffizienten, die auf diese Dienst- und Versorgungsbezüge anwendbar sind, mit Wirkung vom 1. Juli 2011 (ABl. L 341, S. 54).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 20.11.2013
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online