21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil13.09.2018

Vermarktung von SIM-Karten mit vorin­sta­l­lierten kosten­pflichtigen Diensten ohne Information der Verbraucher stellt aggressive unlautere Geschäftspraxis darEuGH zur "Lieferung unbestellter Waren oder Dienst­leis­tungen"

Die Vermarktung von SIM-Karten, die kosten­pflichtige vorinstallierte und -aktivierte Dienste enthalten, stellt eine aggressive unlautere Geschäftspraxis dar, wenn der Verbraucher zuvor nicht entsprechend aufgeklärt wurde. Solch ein Verhalten stellt insbesondere eine "Lieferung unbestellter Waren oder Dienst­leis­tungen" dar, das von einer anderen nationalen Behörde sanktioniert werden kann als der, die im Unionsrecht auf dem Gebiet der elektronischen Kommunikation vorgesehen ist. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Im Jahr 2012 verhängte die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Italienische Wettbewerbs- und Markt­auf­sichts­behörde, im Folgenden: AGCM) Geldbußen gegen Wind Teleco­mu­ni­cazioni (jetzt Wind Tre) und Vodafone Omnitel (jetzt Vodafone Italia), da diese Unternehmen SIM-Karten (Subscriber Identity Module) vermarktet hatten, auf denen Internetzugangs-und Mailbox-Dienste vorinstalliert und -aktiviert waren, deren Kosten dem Benutzer in Rechnung gestellt wurden, wenn er nicht ausdrücklich ihre Abschaltung verlangt hatte. Die AGCM warf den beiden Unternehmen vor, die Verbraucher nicht zuvor angemessen darüber informiert zu haben, dass diese Dienste vorinstalliert und -aktiviert sowie kostenpflichtig waren. Die Dienste für den Internetzugang konnten sogar, u.a. durch so genannte "Always-on" (ständig verbunden)-Anwendungen, vom Nutzer unbemerkt zu Verbindungen führen.

Nationales Verwal­tungs­gericht erklärt Entscheidung der Wettbe­wer­bs­behörde mangels Zuständigkeit für nichtig

Das von Wind Tre und Vodafone Italia angerufene Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Verwal­tungs­gericht für die Region Lazio, Italien) erklärte die Entscheidungen der AGCM für nichtig und stellte fest, für die Sanktionen sei eine andere Behörde, die Autorità per le Garanzie nelle Comunicazioni (Kommu­ni­ka­ti­o­ns­re­gu­lie­rungs­behörde, im Folgenden: AGCom), zuständig.

Der mit diesen Rechtssachen im Rechts­mit­tel­ver­fahren befasste Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) legte seinem Plenarsenat Fragen zur Vorab­ent­scheidung vor. Mit Urteilen aus dem Jahr 2016 entschied dieser zunächst, nach italienischem Recht liege die Zuständigkeit für die Sanktionierung einer einfachen Verletzung der Infor­ma­ti­o­ns­pflicht auf dem Sektor der elektronischen Kommunikation bei der AGCom, wohingegen für die Sanktionierung einer "unter allen Umständen aggressiven Geschäft­s­praktik" (wie insbesondere die "Lieferung einer unbestellten Ware oder Dienstleistung") - einschließlich auf dem Sektor der elektronischen Kommunikation - die AGCM zuständig sei*.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung zur Vereinbarkeit der nationales Auslegung mit dem Unionsrecht

Der Consiglio di Stato stellt allerdings in Frage, ob die vom Plenarsenat vorgenommene Auslegung mit Unionsrecht vereinbar ist. Deshalb hat er entschieden, Vorab­ent­schei­dungs­fragen zu stellen, und zwar zur Auslegung zum einen der Richtlinie über unlautere Geschäft­s­prak­tiken** (deren Ziel die Gewährleistung eines hohen Schutzes aller Verbraucher ist) und zum anderen des Unionsrechts auf dem Gebiet der elektronischen Kommunikation (insbesondere der Rahmen­richt­li­nie*** und der Univer­sa­l­dien­stricht­li­nie****, die die Verfügbarkeit hochwertiger, öffentlich zugänglicher Dienste durch wirksamen Wettbewerb und Angebots­vielfalt gewährleisten sollen, indem die nationalen Regulie­rungs­be­hörden [im folgenden: NRB] - in Italien die AGCom - mit der Aufgabe betraut werden, eine hohes Verbrau­cher­schutz­niveau speziell auf dem Sektor der elektronischen Kommunikation zu gewährleisten). Insbesondere möchte der Consiglio di Stato vom Gerichtshof wissen, ob das fragliche Verhalten der Telefonanbieter als "Lieferung einer unbestellten Ware oder Dienstleistung" oder allgemeiner als "aggressive Geschäftspraxis" im Sinne der Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken eingeordnet werden kann und ob das Unionsrecht auf dem Gebiet der elektronischen Kommunikation einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die "Lieferung einer unbestellten Ware oder Dienstleistung" unter die Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken fällt, so dass die NRB für die Sanktionierung eines solches Verhaltens nicht zuständig ist.

Inanspruchnahme eines Dienstes muss freie Entscheidung des Verbrauchers darstellen

Mit seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Inanspruchnahme eines Dienstes eine freie Entscheidung des Verbrauchers darstellen muss. Wurde der Verbraucher jedoch weder über die Kosten der Dienste noch über ihre Vorinstallation und -aktivierung auf der von ihm gekauften SIM-Karte aufgeklärt (dies zu prüfen obliegt dem nationalen Gericht), dann beruht die Erbringung dieser Dienste nicht auf seiner freien Entscheidung. Insoweit ist es unerheblich, dass für die Benutzung der Dienste in bestimmten Fällen möglicherweise eine bewusste Handlung des Verbrauchers notwendig war. Auch ist es unerheblich, wenn der Verbraucher die Möglichkeit hatte, diese Dienste abschalten zu lassen oder selbst abzuschalten, da er zuvor nicht über darüber aufgeklärt wurde, dass es diese Dienste gibt.

Nationales Gericht muss Verhalten eines Durch­schnitts­ver­brauchers beim Kauf von SIM-Karten ermitteln

Der Gerichtshof stellt fest, dass es, auch wenn es Sache des nationalen Gerichts ist, die typische Reaktion des Durch­schnitts­ver­brauchers zu ermitteln, nicht offensichtlich ist, dass der durch­schnittliche Käufer einer SIM-Karte sich dessen bewusst wäre, dass sie vorinstallierte und -aktivierte Dienste enthält, die zusätzliche Kosten verursachen können, oder dessen, dass Anwendungen oder das Gerät selbst sich von ihm unbemerkt mit dem Internet verbinden können, noch, dass er über ausreichendes technisches Können verfügen würde, um diese Dienste oder automatische Verbindungen auf seinem Gerät abzuschalten.

EuGH bejaht unlautere Geschäft­s­praktik

Der Gerichtshof kommt deshalb zum Ergebnis, dass vorbehaltlich der Prüfung durch das nationale Gericht ein Verhalten wie das den betreffenden Telefo­n­an­bietern vorgeworfene die "Lieferung einer unbestellten Ware oder Dienstleistung" und somit nach der Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken eine unter allen Umständen unlautere Praktik - genauer eine aggressive Praktik - darstellt.

Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken kollidiert nicht mit Univer­sa­l­dien­strichtlinie

Außerdem stellt der Gerichtshof fest, dass im Hinblick auf die Rechte der Endnutzer die Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken nicht mit der Univer­sa­l­dien­strichtlinie kollidiert. Letztere legt den Anbietern elektronischer Kommu­ni­ka­ti­o­ns­dienste nämlich die Pflicht auf, im Vertrag bestimmte Informationen mitzuteilen, während erstere besondere Aspekte unlauterer Geschäft­s­praktiken wie die "Lieferung einer unbestellten Ware oder Dienstleistung" regelt. Somit steht das Unionsrecht einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach die "Lieferung einer unbestellten Ware oder Dienstleistung" am Maßstab der Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken zu prüfen ist, so dass nach ihren Regelungen die NRB im Sinne der Rahmen­richtlinie für die Sanktionierung eines solchen Verhaltens nicht zuständig ist.

Erläuterungen

* Der Plenarsenat des Consiglio di Stato berücksichtigte das Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren, das die Europäische Kommission wegen der auf dem Sektor der elektronischen Kommunikation fehlenden Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken gegen die Italienische Republik eingeleitet hatte.

** Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäft­s­praktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäft­s­praktiken) (ABl. 2005, L 149, S. 22, Berichtigung ABl. 2009, L 253, S. 18).

*** Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommu­ni­ka­ti­o­nsnetze und -dienste (Rahmen­richtlinie) (ABl. 2002, L 108, S. 33) in der durch die Richtlinie 2009/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 37, Berichtigung ABl. 2013, L 241, S. 8) geänderten Fassung.

**** Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommu­ni­ka­ti­o­ns­netzen und -diensten (Univer­sa­l­dien­strichtlinie) (ABl. 2002, L 108, S. 51) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11)geänderten Fassung.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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