Die Kommission erhob beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage gegen Frankreich, weil nach ihrer Auffassung verschiedene innerstaatliche Bestimmungen über die Kostenerstattung für bestimmte geplante Behandlungen – d. h. solche, die der Versicherte in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich zu erhalten beabsichtigt – gegen Unionsrecht verstoßen.
Erstens war die Kommission der Ansicht, dass die Bestimmungen des französischen Code de la sécurité sociale, die die Kostenerstattung für geplante Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern in einem anderen Mitgliedstaat von einer vorherigen Genehmigung des zuständigen französischen Trägers abhängig machen, wenn diese Behandlungen den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern, dem freien Dienstleistungsverkehr zuwiderliefen. Beispielsweise geht es hierbei um Kernspintomografiegeräte oder Kernspinresonanzspektrometer, die bei der Erkennung und Behandlung u. a. von Krebs, bestimmten neuromotorischen Erkrankungen usw. verwendet werden.
Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass entgeltliche medizinische Leistungen nach seiner ständigen Rechtsprechung in den Anwendungsbereich der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr fallen, ohne dass danach zu unterscheiden wäre, ob die Versorgung in einem Krankenhaus oder außerhalb eines solchen erbracht wird.
Der freie Dienstleistungsverkehr schließt die Freiheit der Leistungsempfänger, insbesondere der Personen, die eine medizinische Behandlung benötigen, ein, sich zur Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen beeinträchtigt zu werden. Die vorherige Genehmigung, die in der französischen Regelung für die Erstattung der Kosten für eine den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordernde Behandlung verlangt wird, ist aber geeignet, die Versicherten des französischen Systems davon abzuschrecken oder sogar daran zu hindern, sich an die Erbringer medizinischer Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden, und stellt daher tatsächlich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.
Die im Code de la santé publique abschließend aufgezählten medizinischen Großgeräte müssen aber unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb von Krankenhäusern aufgestellt oder benutzt werden, wegen ihrer besonders hohen Kosten Gegenstand einer Planungspolitik sein können, wie sie durch die französische Regelung definiert wird, insbesondere, was ihre Zahl und ihre geografische Verteilung betrifft, um dazu beizutragen, im gesamten Staatsgebiet ein Angebot an Spitzen-Behandlungsleistungen zu gewährleisten, das rationell, stabil, ausgewogen und gut zugänglich ist, aber auch, um jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen soweit wie möglich zu verhindern. Beispielsweise belaufen sich die Anschaffungs- und Benutzungskosten für die bei der Krebserkennung und –behandlung notwendigen Geräte auf Tausende oder sogar Millionen Euro.
Angesichts der Gefahren sowohl für die Organisation der öffentlichen Gesundheitspolitik als auch für das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit stellt das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung für diese Art von Behandlungen folglich beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts eine gerechtfertigte Einschränkung dar.
Ein System der vorherigen Genehmigung muss auf objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien beruhen, die im Voraus bekannt sind, damit dem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden, die seine missbräuchliche Ausübung verhindern. Ein derartiges Genehmigungssystem muss außerdem auf einem leicht zugänglichen Verfahren beruhen und geeignet sein, den Betroffenen zu garantieren, dass ihr Antrag innerhalb angemessener Frist sowie objektiv und unparteiisch behandelt wird, wobei eine Versagung der Genehmigung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens anfechtbar sein muss. Im vorliegenden Fall hat die Kommission in Bezug auf die französischen verfahrens- und materiellrechtlichen Vorschriften des Systems der vorherigen Genehmigung keine spezifischen Rügen vorgebracht.
Zweitens machte die Kommission geltend, Frankreich habe die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht durchgeführt, der zufolge dem Sozialversicherten, wenn die Erstattung von Kosten, die durch im Aufenthaltsmitgliedstaat erbrachte Krankenhausdienstleistungen veranlasst worden sind, die sich aus der Anwendung der in diesem Mitgliedstaat geltenden Regelung ergibt, niedriger als diejenige ist, die sich aus der Anwendung der im Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit geltenden Rechtsvorschriften im Fall einer Krankenhauspflege in diesem Staat ergeben würde, vom zuständigen Träger eine ergänzende Erstattung gemäß dem genannten Unterschied zu gewähren ist. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass ein Patient nach den französischen Bestimmungen im Fall von in einem anderen Mitgliedstaat erbrachten Krankenhausbehandlungen Anspruch auf eine Kostenerstattung unter den gleichen Bedingungen, wie wenn die Behandlung in Frankreich durchgeführt worden wäre, und in den Grenzen der dem Sozialversicherten tatsächlich entstandenen Kosten hat. Diese Bestimmungen umfassen somit das Recht der Versicherten des französischen Systems auf eine ergänzende Erstattung zu Lasten des zuständigen französischen Trägers im Fall von Unterschieden der Niveaus der sozialen Absicherung zwischen dem Staat der Versicherungszugehörigkeit und dem Staat der Krankenhauspflege, auf den die Rechtsprechung des Gerichtshofs abstellt.
Diese Feststellung wird durch die Tatsache bestätigt, dass die Kommission keine innerstaatlichen Rechtsvorschriften genannt hat, die der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuwiderliefen. Auch hat die Kommission weder Entscheidungen französischer Gerichte angeführt, in denen das Recht auf die ergänzende Erstattung geleugnet worden wäre, noch die Existenz einer Verwaltungspraxis dargetan, die den Versicherten dieses Recht hätte vorenthalten können. Die Klage der Kommission gegen Frankreich wird daher insgesamt abgewiesen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 11.10.2010
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online