Dokument-Nr. 16871
Permalink https://urteile.news/
- Bahnreisende haben Anspruch auf genaue Informationen über Bahnverspätungen oder ZugausfälleGerichtshof der Europäischen Union, Urteil22.11.2012, C-136/11
- BGH zur Haftung des Reiseveranstalters für Bahnverspätungen beim Angebot eines Rail & Fly TicketsBundesgerichtshof, Urteil28.10.2010, Xa ZR 46/10
- Bahn muss bei Verspätung Kosten für verpassten Flug nicht übernehmenLandgericht Frankfurt am Main, Urteil15.10.2003, 2-1 S 131/03
Gerichtshof der Europäischen Union Urteil26.09.2013
Bahnreisende haben auch bei erheblichen Verspätungen aufgrund höherer Gewalt Anspruch auf EntschädigungBeförderer kann sich seiner Erstattungspflicht nicht unter Berufung auf völkerrechtliche Regeln entziehen
Bahnreisende haben bei erheblichen Verspätungen auch dann Anspruch auf teilweise Fahrpreiserstattung, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht. Der Beförderer kann sich seiner Erstattungspflicht nicht unter Berufung auf völkerrechtliche Regeln entziehen, nach denen er im Fall höherer Gewalt von der Pflicht zum Ersatz des durch eine Verspätung entstandenen Schadens befreit ist. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.
Die Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr* sieht vor, dass für die Haftung von Eisenbahnunternehmen für Verspätungen vorbehaltlich der einschlägigen Bestimmungen dieser Verordnung die Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck** gelten.
Rechtsvorschrift schließt Haftung des Beförderungsunternehmens bei höherer Gewalt aus
Nach diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften, die Teil des Völkerrechts sind und in den Anhang der Verordnung aufgenommen wurden, haftet das Eisenbahnunternehmen dem Reisenden für den Schaden, der dadurch entsteht, dass die Reise wegen Verspätung nicht am selben Tag fortgesetzt werden kann oder dass eine Fortsetzung am selben Tag nicht zumutbar ist. Die Haftung des Beförderungsunternehmens ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht, d. h. namentlich auf außerhalb des Eisenbahnbetriebs liegenden Umständen, die das Unternehmen nicht vermeiden konnte.
Verordnung sieht keine Ausnahme von Entschädigungsanspruch für den Fall höherer Gewalt vor
In der Verordnung selbst ist vorgesehen, dass ein Fahrgast bei einer Verspätung von mindestens einer Stunde von der Eisenbahngesellschaft eine anteilige Erstattung des Preises seiner Fahrkarte verlangen kann. Sie beträgt bei einer Verspätung von 60 bis 119 Minuten mindestens 25 % und ab einer Verspätung von 120 Minuten mindestens 50 % des Preises der Fahrkarte. Die Verordnung sieht keine Ausnahme von diesem Entschädigungsanspruch für den Fall vor, dass die Verspätung auf höherer Gewalt beruht.
Freistellung des Eisenbahnunternehmens von seiner Pflicht zur Fahrpreisentschädigung möglich?
Vor diesem Hintergrund hat der österreichische Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob ein Eisenbahnunternehmen von seiner Pflicht zur Fahrpreisentschädigung freigestellt werden kann, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht. Der Verwaltungsgerichtshof ist mit einer Beschwerde der österreichischen Eisenbahngesellschaft ÖBB-Personenverkehr AG gegen einen Bescheid befasst, mit dem die Schienen-Control Kommission diese Gesellschaft dazu verpflichtet hat, in ihren Allgemeinen Beförderungsbedingungen eine Klausel zu streichen, nach der bei höherer Gewalt jegliche Entschädigung ausgeschlossen ist.
Verordnung befreit Eisenbahnunternehmen nicht von Pflicht zur Fahrpreisentschädigung
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Verordnung selbst die Eisenbahnunternehmen nicht von ihrer Pflicht zur Fahrpreisentschädigung befreit, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht.
Haftungsregelungen in Einheitlichen Rechtsvorschriften und in Verordnung unterscheiden sich grundlegend von einander
Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich die Einheitlichen Rechtsvorschriften, die den Beförderer bei höherer Gewalt von seiner Entschädigungspflicht befreien, nur auf den Anspruch der Fahrgäste auf Ersatz des Schadens infolge Verspätung oder Ausfall eines Zuges beziehen. Hingegen hat die in der Verordnung vorgesehene, auf der Grundlage des Preises der Fahrkarte berechnete Entschädigung einen völlig anderen Zweck; sie soll nämlich den Preis kompensieren, den der Fahrgast als Gegenleistung für eine nicht im Einklang mit dem Beförderungsvertrag erbrachte Dienstleistung gezahlt hat. Außerdem handelt es sich dabei um einen finanziellen Ausgleich in pauschalierter und standardisierter Form, während die in den Einheitlichen Rechtsvorschriften vorgesehene Haftungsregelung mit einer individualisierten Bewertung des erlittenen Schadens verbunden ist. Da sich diese beiden Haftungsregelungen grundlegend voneinander unterscheiden, können die Fahrgäste im Übrigen über die pauschale Entschädigung hinaus eine Klage auf Schadensersatz nach den Einheitlichen Rechtsvorschriften erheben.
In Einheitlichen Rechtsvorschriften vorgesehene Gründe für Haftungsbefreiung des Beförderers hier nicht anwendbar
Unter diesen Umständen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die in den Einheitlichen Rechtsvorschriften vorgesehenen Gründe für eine Haftungsbefreiung des Beförderers im Rahmen der mit der Verordnung geschaffenen Entschädigungsregelung nicht anwendbar sind. Der Gerichtshof verweist insoweit auf die Vorarbeiten zur Verordnung, aus denen eindeutig hervorgeht, dass der Unionsgesetzgeber die Entschädigungspflicht auf die Fälle erstrecken wollte, in denen die Beförderer nach den Einheitlichen Rechtsvorschriften von ihrer Haftung befreit sind.
Analoge Anwendung der Regelungen für Fahrgäste im Flug-, Schiffs- und Kraftomnibusverkehr nicht möglich
Der Gerichtshof verwirft auch eine analoge Anwendung der für Fahrgäste im Flug-, Schiffs- und Kraftomnibusverkehr für den Fall höherer Gewalt geltenden Regelungen. Da die verschiedenen Beförderungsformen hinsichtlich ihrer Nutzungsbedingungen nicht austauschbar sind, ist die Situation der in den verschiedenen Beförderungssektoren tätigen Unternehmen nicht vergleichbar.
Klausel zur Befreiung des Beförderers von Entschädigungen bei Verspätungen aufgrund höherer Gewalt unzulässig
Daher antwortet der Gerichtshof, dass ein Eisenbahnunternehmen in seine Allgemeinen Beförderungsbedingungen keine Klausel aufnehmen darf, die es von seiner Pflicht zur Fahrpreisentschädigung bei Verspätungen befreit, die auf höherer Gewalt beruhen.
Erläuterungen
*Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (ABl. L 315, S. 14).
**Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 26.09.2013
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online
Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.
Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil16871
Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.