22.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil26.09.2013

Bahnreisende haben auch bei erheblichen Verspätungen aufgrund höherer Gewalt Anspruch auf EntschädigungBeförderer kann sich seiner Erstat­tungs­pflicht nicht unter Berufung auf völker­rechtliche Regeln entziehen

Bahnreisende haben bei erheblichen Verspätungen auch dann Anspruch auf teilweise Fahrprei­s­er­stattung, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht. Der Beförderer kann sich seiner Erstat­tungs­pflicht nicht unter Berufung auf völker­rechtliche Regeln entziehen, nach denen er im Fall höherer Gewalt von der Pflicht zum Ersatz des durch eine Verspätung entstandenen Schadens befreit ist. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Die Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisen­bahn­verkehr* sieht vor, dass für die Haftung von Eisen­bahn­un­ter­nehmen für Verspätungen vorbehaltlich der einschlägigen Bestimmungen dieser Verordnung die Einheitlichen Rechts­vor­schriften für den Vertrag über die internationale Eisen­bahn­be­för­derung von Personen und Gepäck** gelten.

Rechts­vor­schrift schließt Haftung des Beför­de­rungs­un­ter­nehmens bei höherer Gewalt aus

Nach diesen Einheitlichen Rechts­vor­schriften, die Teil des Völkerrechts sind und in den Anhang der Verordnung aufgenommen wurden, haftet das Eisen­bahn­un­ter­nehmen dem Reisenden für den Schaden, der dadurch entsteht, dass die Reise wegen Verspätung nicht am selben Tag fortgesetzt werden kann oder dass eine Fortsetzung am selben Tag nicht zumutbar ist. Die Haftung des Beför­de­rungs­un­ter­nehmens ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht, d. h. namentlich auf außerhalb des Eisen­bahn­be­triebs liegenden Umständen, die das Unternehmen nicht vermeiden konnte.

Verordnung sieht keine Ausnahme von Entschä­di­gungs­an­spruch für den Fall höherer Gewalt vor

In der Verordnung selbst ist vorgesehen, dass ein Fahrgast bei einer Verspätung von mindestens einer Stunde von der Eisen­bahn­ge­sell­schaft eine anteilige Erstattung des Preises seiner Fahrkarte verlangen kann. Sie beträgt bei einer Verspätung von 60 bis 119 Minuten mindestens 25 % und ab einer Verspätung von 120 Minuten mindestens 50 % des Preises der Fahrkarte. Die Verordnung sieht keine Ausnahme von diesem Entschä­di­gungs­an­spruch für den Fall vor, dass die Verspätung auf höherer Gewalt beruht.

Freistellung des Eisen­bahn­un­ter­nehmens von seiner Pflicht zur Fahrprei­s­ent­schä­digung möglich?

Vor diesem Hintergrund hat der österreichische Verwal­tungs­ge­richtshof dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob ein Eisen­bahn­un­ter­nehmen von seiner Pflicht zur Fahrprei­s­ent­schä­digung freigestellt werden kann, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht. Der Verwal­tungs­ge­richtshof ist mit einer Beschwerde der öster­rei­chischen Eisen­bahn­ge­sell­schaft ÖBB-Personenverkehr AG gegen einen Bescheid befasst, mit dem die Schienen-Control Kommission diese Gesellschaft dazu verpflichtet hat, in ihren Allgemeinen Beför­de­rungs­be­din­gungen eine Klausel zu streichen, nach der bei höherer Gewalt jegliche Entschädigung ausgeschlossen ist.

Verordnung befreit Eisen­bahn­un­ter­nehmen nicht von Pflicht zur Fahrprei­s­ent­schä­digung

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Verordnung selbst die Eisen­bahn­un­ter­nehmen nicht von ihrer Pflicht zur Fahrprei­s­ent­schä­digung befreit, wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht.

Haftungs­re­ge­lungen in Einheitlichen Rechts­vor­schriften und in Verordnung unterscheiden sich grundlegend von einander

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass sich die Einheitlichen Rechts­vor­schriften, die den Beförderer bei höherer Gewalt von seiner Entschä­di­gungs­pflicht befreien, nur auf den Anspruch der Fahrgäste auf Ersatz des Schadens infolge Verspätung oder Ausfall eines Zuges beziehen. Hingegen hat die in der Verordnung vorgesehene, auf der Grundlage des Preises der Fahrkarte berechnete Entschädigung einen völlig anderen Zweck; sie soll nämlich den Preis kompensieren, den der Fahrgast als Gegenleistung für eine nicht im Einklang mit dem Beför­de­rungs­vertrag erbrachte Dienstleistung gezahlt hat. Außerdem handelt es sich dabei um einen finanziellen Ausgleich in pauschalierter und standa­r­di­sierter Form, während die in den Einheitlichen Rechts­vor­schriften vorgesehene Haftungs­re­gelung mit einer indivi­du­a­li­sierten Bewertung des erlittenen Schadens verbunden ist. Da sich diese beiden Haftungs­re­ge­lungen grundlegend voneinander unterscheiden, können die Fahrgäste im Übrigen über die pauschale Entschädigung hinaus eine Klage auf Schadensersatz nach den Einheitlichen Rechts­vor­schriften erheben.

In Einheitlichen Rechts­vor­schriften vorgesehene Gründe für Haftungs­be­freiung des Beförderers hier nicht anwendbar

Unter diesen Umständen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die in den Einheitlichen Rechts­vor­schriften vorgesehenen Gründe für eine Haftungs­be­freiung des Beförderers im Rahmen der mit der Verordnung geschaffenen Entschä­di­gungs­re­gelung nicht anwendbar sind. Der Gerichtshof verweist insoweit auf die Vorarbeiten zur Verordnung, aus denen eindeutig hervorgeht, dass der Unions­ge­setzgeber die Entschä­di­gungs­pflicht auf die Fälle erstrecken wollte, in denen die Beförderer nach den Einheitlichen Rechts­vor­schriften von ihrer Haftung befreit sind.

Analoge Anwendung der Regelungen für Fahrgäste im Flug-, Schiffs- und Kraftom­ni­bus­verkehr nicht möglich

Der Gerichtshof verwirft auch eine analoge Anwendung der für Fahrgäste im Flug-, Schiffs- und Kraftom­ni­bus­verkehr für den Fall höherer Gewalt geltenden Regelungen. Da die verschiedenen Beför­de­rungs­formen hinsichtlich ihrer Nutzungs­be­din­gungen nicht austauschbar sind, ist die Situation der in den verschiedenen Beför­de­rungs­sektoren tätigen Unternehmen nicht vergleichbar.

Klausel zur Befreiung des Beförderers von Entschädigungen bei Verspätungen aufgrund höherer Gewalt unzulässig

Daher antwortet der Gerichtshof, dass ein Eisen­bahn­un­ter­nehmen in seine Allgemeinen Beför­de­rungs­be­din­gungen keine Klausel aufnehmen darf, die es von seiner Pflicht zur Fahrprei­s­ent­schä­digung bei Verspätungen befreit, die auf höherer Gewalt beruhen.

Erläuterungen

*Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisen­bahn­verkehr (ABl. L 315, S. 14).

**Einheitliche Rechts­vor­schriften für den Vertrag über die internationale Eisen­bahn­be­för­derung von Personen und Gepäck zum Übereinkommen über den internationalen Eisen­bahn­verkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungs­pro­tokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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