18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil19.06.2014

Arbeit­nehmer­eigenschaft einer Unionsbürgerin bleibt trotz Aufgabe ihrer Erwer­b­s­tä­tigkeit wegen Schwangerschaft erhaltenVoraussetzung für Erhalt der Arbeit­nehmer­eigenschaft ist Wiederaufnahme der Beschäftigung in angemessenem Zeitraum nach Geburt des Kindes

Eine Frau, die ihre Erwer­b­s­tä­tigkeit oder Arbeitssuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, kann die "Arbeit­nehmer­eigenschaft" behalten. Hierfür ist lediglich erforderlich, dass sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Im Vereinigten Königreich stellt Einkom­mens­beihilfe (income support) eine Leistung dar, die bestimmten Personengruppen gewährt werden kann, deren Einkommen einen festgesetzten Betrag nicht übersteigt. Schwangere oder Wöchnerinnen können während der Zeit um den Entbin­dungs­termin einen Anspruch auf diese Leistung haben. Jedoch haben „Gebietsfremde“ (also Antrag­stel­le­rinnen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreich haben) keinen Anspruch auf diese Leistung, es sei denn, sie haben die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Richtlinie über das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt* erworben.

Britische Verwaltung lehnt Antrag auf Einkom­mens­beihilfe ab

Jessy Saint Prix ist französische Staats­an­ge­hörige und reiste am 10. Juli 2006 in das Vereinigte Königreich ein. Dort arbeitete sie vom 1. September 2006 bis zum 1. August 2007 hauptsächlich als Hilfslehrerin. Während ihrer Schwangerschaft arbeitete Frau Saint Prix Anfang 2008 als Leiha­r­beit­nehmerin in Kindergärten. Am 12. März 2008, als sie fast im sechsten Monat schwanger war, gab Frau Saint Prix diese Beschäftigung auf, weil die Arbeit mit Kinder­gar­ten­kindern zu anstrengend für sie geworden war. Der von Frau Saint Prix gestellte Antrag auf Einkom­mens­beihilfe wurde von der britischen Verwaltung mit der Begründung abgelehnt, dass Frau Saint Prix die Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft verloren habe. Am 21. August 2008, drei Monate nach der Geburt ihres Kindes, nahm Frau Saint Prix ihre Erwerbstätigkeit wieder auf.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur möglichen Aufrecht­er­haltung der "Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft"

Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs), der mit der Frage befasst war, ob Frau Saint Prix ein Anspruch auf Einkom­mens­beihilfe zustand, hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob eine Frau, die ihre Erwer­b­s­tä­tigkeit oder Arbeitssuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt ihres Kindes aufgibt, unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne des Unionsrechts fällt**.

Unionsbürger kann in besonderen Fällen Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft behalten

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass eine Frau in der Situation von Frau Saint Prix die „Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft“ behalten kann. Zur Begründung führt der Gerichtshof aus, dass ein Unionsbürger, der keine Erwer­b­s­tä­tigkeit mehr ausübt, in besonderen Fällen (vorübergehende Arbeits­un­fä­higkeit, unfreiwillige Arbeits­lo­sigkeit oder Berufs­aus­bildung)*** die Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft gleichwohl behalten kann. Nach Auffassung des Gerichtshofs enthält die Richtlinie über das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt keine abschließende Aufzählung der Umstände, unter denen einem Wander­a­r­beit­nehmer, der sich nicht mehr in einem Arbeits­ver­hältnis befindet, dennoch weiterhin die Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft zuerkannt werden kann. Jedenfalls kann die Richtlinie, die ausdrücklich die Ausübung des Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern soll, für sich genommen die Tragweite des Begriffs des Arbeitnehmers im Sinne des AEUV nicht einschränken. Vielmehr ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft im Sinne des AEUV und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht unbedingt vom tatsächlichen Bestehen oder Fortbestehen eines Arbeits­ver­hält­nisses abhängen.

Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft darf nicht wegen Arbeitspause aufgrund einer Schwangerschaft aberkannt werden

Unter diesen Umständen ist die Tatsache, dass körperliche Belastungen im Spätstadium einer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes eine Frau zwingen, die Ausübung einer Arbeit­neh­mer­tä­tigkeit während des für ihre Erholung erforderlichen Zeitraums aufzugeben, grundsätzlich nicht geeignet, ihr die „Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft“ im Sinne von Art. 45 AEUV abzusprechen. Der Umstand, dass eine solche Person dem Arbeitsmarkt des Aufnah­me­mit­glied­staats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet nämlich nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet. Anderenfalls würden Unions­bür­ge­rinnen von der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit abgehalten, weil sie Gefahr liefen, die Arbeit­neh­me­rei­gen­schaft im Aufnah­me­mit­gliedstaat zu verlieren.

Der Gerichtshof stellt fest, dass das nationale Gericht bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwer­b­s­tä­tigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden kann, alle konkreten Umstände des Einzelfalls und die für die Dauer des Mutter­schafts­urlaubs geltenden nationalen Vorschriften zu berücksichtigen hat.

Erläuterungen
*Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, Berichtigung im ABl. 2004, L 229, S. 35).

** Richtlinie 2004/38, angeführt in Fn. 1, und Art. 45 AEUV.

*** Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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