21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil15.03.2011

EuGH zur Anwendbarkeit des Rechts eines Staates bei Streitigkeiten über den Arbeitsvertrag eines in mehreren EU-Staaten tätigen ArbeitnehmersÜbereinkommen von Rom soll angemessenen Schutz des Arbeitnehmers sicherstellen

Übt ein Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten aus, kommt im Falle eines Rechtsstreits über den Arbeitsvertrag das Recht des Staates zur Anwendung, in dem der Arbeitnehmer seine beruflichen Verpflichtungen im Wesentlichen erfüllt. Es geht dabei in erster Linie darum, dem Arbeitnehmer als schwächerer Vertragspartei einen angemessenen Schutz zu gewähren. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Nach dem Übereinkommen von Rom* über das auf vertragliche Schuld­ver­hältnisse anwendbare Recht in Zivil- und Handelssachen unterliegen Arbeitsverträge grundsätzlich dem von den Parteien gewählten Recht. Diese Rechtswahl darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das anzuwenden wäre, wenn die Parteien keine Rechtswahl getroffen hätten (Art. 6). Haben die Parteien keine Rechtswahl getroffen, unterliegt der Arbeitsvertrag daher dem Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer „gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“ oder, wenn er seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet, dem Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung des Arbeitgebers befindet. Ausnahmsweise unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, mit dem der Vertrag die engsten Verbindungen aufweist.

Sachverhalt

Im zugrunde liegenden Streitfall wurde Heiko Koelzsch, der seinen Wohnsitz in Deutschland hat, 1998 von der Gesellschaft luxemburgischen Rechts Gasa Spedition Luxembourg SA, die von der Gesellschaft Ove Ostergaard Luxembourg SA übernommen wurde und auf die Beförderung von Blumen und anderen Pflanzen von Dänemark zu Bestim­mungsorten vor allem in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern spezialisiert ist, als Fahrer im grenz­über­schrei­tenden Verkehr eingestellt. Die Abstellplätze der Lastwagen von Gasa befinden sich in Deutschland, wo die Gesellschaft weder über einen Gesell­schaftssitz noch über Geschäftsräume verfügt. Die Lastwagen sind in Luxemburg zugelassen und die Fahrer sind der luxemburgischen Sozia­l­ver­si­cherung angeschlossen. Der 1998 unterzeichnete Arbeitsvertrag von Herrn Koelzsch sah für den Fall eines Rechtsstreits die Anwendung des luxemburgischen Rechts vor.

Kläger wird Ersatzmitglied des Betriebsrats seiner Firma in Deutschland

Nach der Ankündigung der Restruk­tu­rierung von Gasa und der Reduzierung des Einsatzes von Trans­port­fahr­zeugen von Deutschland aus gründeten die Beschäftigten im Jahr 2001 in Deutschland einen Betriebsrat, dem Heiko Koelzsch als Ersatzmitglied angehörte. Mit Schreiben vom 13. März 2001 kündigte der Direktor von Gasa den Arbeitsvertrag von Heiko Koelzsch zum 15. Mai 2001.

Kläger hält Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrats nach deutschem Recht für rechtswidrig

Nachdem Heiko Koelzsch Klage vor den deutschen Gerichten erhoben hatte, die sich für örtlich unzuständig erklärten, klagte er im Jahr 2002 vor dem Arbeitsgericht Luxemburg gegen die Ove Ostergaard Luxembourg SA, die Rechts­nach­folgerin von Gasa, mit dem Antrag, diese zur Zahlung von Schadensersatz wegen unrechtmäßiger Kündigung sowie einer Kündi­gungs­ab­findung und von rückständigem Lohn zu verurteilen. Er trug vor, dass das luxemburgische Recht zwar auf den Arbeitsvertrag anwendbar sei, ihm jedoch nach dem Übereinkommen von Rom nicht der Schutz entzogen werden dürfe, der ihm ohne die Rechtswahl durch die Anwendung der zwingenden Bestimmungen des deutschen Gesetzes gewährt würde, das die Kündigung von Mitgliedern des Betriebsrats verbiete. Er machte daher geltend, dass seine Kündigung nach deutschem Recht und nach der Rechtsprechung des Bundes­a­r­beits­ge­richts, das das Kündi­gungs­verbot auf Ersatz­mit­glieder ausgedehnt habe, rechtswidrig sei.

Erhebung einer Schaden­s­er­satzklage wegen fehlerhafter Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Rom

Das Arbeitsgericht Luxemburg entschied, dass der Rechtsstreit ausschließlich luxemburgischem Recht unterliege, was durch den Berufungs­ge­richtshof und den Kassa­ti­o­ns­ge­richtshof bestätigt wurde. Im März 2007 erhob Heiko Koelzsch daher beim Bezirksgericht Luxemburg eine Schaden­s­er­satzklage gegen den Staat Luxemburg wegen fehlerhafter Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Rom durch die nationalen Gerichte.

Nationales Gericht legt EuGH Frage zur Anwendung des Übereinkommens von Rom vor

Der Berufungs­ge­richtshof Luxemburg, der mit der von Heiko Koelzsch eingelegten Berufung befasst war, beschloss, dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage vorzulegen, ob, wenn ein Arbeitnehmer seine Arbeit in mehreren Staaten verrichtet, aber regelmäßig in einen von ihnen zurückkehrt, das Recht dieses Staates als das „Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet,“ im Sinne des Übereinkommens von Rom anzuwenden ist.

EuGH weist auf spezielle Kolli­si­ons­normen für Einze­l­a­r­beits­verträge hinsichtlich des Übereinkommens von Rom hin

In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass Art. 6 des Übereinkommens von Rom spezielle Kolli­si­ons­normen für Einze­l­a­r­beits­verträge enthält. Diese Normen weichen von denjenigen ab, die die freie Rechtswahl bzw. die Kriterien zur Bestimmung des mangels einer solchen Wahl anzuwendenden Rechts betreffen. Art. 6 des Übereinkommens beschränkt daher die freie Rechtswahl. Er sieht vor, dass die Vertrags­parteien die Anwendbarkeit der zwingenden Bestimmungen des Rechts, dem der Vertrag unterläge, wenn sie keine Rechtswahl getroffen hätten, nicht durch Vereinbarung ausschließen können. Ferner stellt diese Vorschrift spezielle Anknüp­fungs­kri­terien auf, nämlich erstens das des Staates, in dem der Arbeitnehmer „gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“, und zweitens, in Ermangelung eines solchen Orts, das der „Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat“.

Bei Tätigkeit in mehreren Vertragsstaaten findet Recht des Staates Anwendung, in dem Schwerpunkt der beruflichen Verpflichtung liegt

Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass das Übereinkommen von Rom einen angemessenen Schutz des Arbeitnehmers sicherstellen soll. Übt der Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Vertragsstaaten aus, ist das Übereinkommen daher so zu verstehen, dass es die Anwendung des ersten Kriteriums gewährleistet, das auf das Recht des Staates verweist, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber im Wesentlichen erfüllt, und somit auf das Recht des Orts, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit tatsächlich ausübt, und, in Ermangelung eines Mittelpunkts der Tätigkeit, auf das Recht des Orts, an dem er den größten Teil seiner Arbeit ausübt.

Kriterium des Orts der Ausübung der beruflichen Tätigkeit ist weit auszulegen

Das anwendbare Recht bestimmt sich nämlich nach dem Staat, in dem der Arbeitnehmer seine wirtschaftliche und soziale Tätigkeit ausübt, da das geschäftliche und politische Umfeld dort die Arbeit­s­tä­tigkeit beeinflusst. Daher muss die Einhaltung der im Recht dieses Staates vorgesehenen Arbeit­neh­mer­schutz­vor­schriften so weit wie möglich gewährleistet werden. Dieses Kriterium des Orts der Ausübung der beruflichen Tätigkeit ist weit auszulegen und wie im vorliegenden Fall anzuwenden, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Vertragsstaaten ausübt, sofern das nationale Gericht den Staat ermitteln kann, mit dem die Arbeit eine maßgebliche Verknüpfung aufweist.

Sämtliche, die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnende Gesichtspunkte müssen bei der Überprüfung beachtet werden

Daher muss der Berufungs­ge­richtshof das im Übereinkommen von Rom aufgestellte Anknüp­fungs­kri­terium bei der Prüfung, ob Heiko Koelzsch seine Arbeit gewöhnlich in einem Vertragsstaat verrichtet hat, und bei der Bestimmung, in welchem er sie gewöhnlich verrichtet hat, weit auslegen. Hierbei muss das nationale Gericht aufgrund des Wesens der Arbeit im internationalen Transportsektor sämtlichen Gesichtspunkten Rechnung tragen, die die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnen. Es muss insbesondere ermitteln, in welchem Staat sich der Ort befindet, von dem aus der Arbeitnehmer seine Trans­port­fahrten durchführt, Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden. Es muss auch prüfen, an welche Orte die Waren hauptsächlich transportiert werden, wo sie entladen werden und wohin der Arbeitnehmer nach seinen Fahrten zurückkehrt.

* Übereinkommen von Rom:

Übereinkommen über das auf vertragliche Schuld­ver­hältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. L 266, S. 1). Das Übereinkommen von Rom wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuld­ver­hältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177, S. 6) ersetzt. Da diese Verordnung auf Verträge anwendbar ist, die nach dem 17. Dezember 2009 geschlossen wurden, findet sie auf diese Rechtssache keine Anwendung.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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