22.11.2024
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Dokument-Nr. 21570

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil10.09.2015

Fahrten zum ersten Kunden hin und vom letzten Kunden weg sind bei Arbeitnehmern ohne festen Arbeitsort als Arbeitszeit anzurechnenAberkennen der Fahrzeit als Arbeitszeit würde Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zuwiderlaufen

Die Fahrten, die Arbeitnehmer ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages zurücklegen, stellen Arbeitszeit dar. Es würde dem unions­recht­lichen Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zuwiderlaufen, wenn diese Fahrten keine Arbeitszeit wären. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

In einer Unions­richt­linie* ist die Arbeitszeit als jede Zeitspanne definiert, während deren ein Arbeitnehmer gemäß den einzel­staat­lichen Rechts­vor­schriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Jede Zeitspanne, die keine Arbeitszeit ist, gilt als Ruhezeit.

Sachverhalt

Die Gesellschaften Tyco Integrated Security und Tyco Integrated Fire & Security Corporation Servicios (im Folgenden: Tyco) sind in den meisten Provinzen Spaniens in der Installation und Wartung von Sicher­heits­systemen zur Verhinderung von Diebstählen tätig. Im Jahr 2011 schloss Tyco ihre Regionalbüros und wies alle ihre Angestellten dem Zentralbüro in Madrid zu. Die bei Tyco angestellten Techniker installieren und warten Sicher­heits­vor­rich­tungen in Häusern sowie industriellen und gewerblichen Einrichtungen in dem ihnen zugewiesenen Gebiet, so dass sie keinen festen Arbeitsort haben. Dieses Gebiet kann eine ganze Provinz oder einen Teil davon oder gelegentlich mehrere Provinzen umfassen. Den Arbeitnehmern steht jeweils ein Firmenfahrzeug zur Verfügung, um täglich von ihrem Wohnort zu den verschiedenen Arbeitsorten und am Ende des Tages zurück nach Hause zu fahren. Die Entfernung zwischen dem Wohnort der Arbeitnehmer und ihren Einsatzorten kann beträchtlich variieren und manchmal über 100 Kilometer bzw. bis zu drei Stunden betragen. Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben verfügen die Arbeitnehmer jeweils über ein Mobiltelefon, mit dem sie aus der Ferne mit dem Zentralbüro in Madrid kommunizieren können. Am Vortag ihres Arbeitstags erhalten die Arbeitnehmer einen Fahrplan mit den verschiedenen Standorten, die sie an dem jeweiligen Tag in ihrem Gebiet aufsuchen müssen, und den Uhrzeiten der Kundentermine.

Arbeitgeber rechnet die Fahrzeit von Wohnort zum Kunden nicht als Arbeits- sondern Ruhezeit

Tyco rechnet die Fahrzeit "Wohnort-Kunden" (d. h. die täglichen Fahrten zwischen dem Wohnort der Arbeitnehmer und dem Standort des ersten und des letzten von ihr bestimmten Kunden) nicht als Arbeitszeit, sondern als Ruhezeit an. Sie berechnet die tägliche Arbeitszeit, indem sie auf die Zeit zwischen der Ankunft ihrer Angestellten am Standort des ersten Kunden und ihrer Abreise vom Standort des letzten Kunden abstellt, wobei ausschließlich die Einsatzzeiten an den Standorten und die Fahrzeiten von einem Kunden zum anderen berücksichtigt werden. Vor der Schließung der Regionalbüros berechnete Tyco die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten ab der Ankunft im Büro (dem Zeitpunkt, zu dem die Angestellten das ihnen zur Verfügung gestellte Fahrzeug, die Kundenliste und den Fahrplan entgegennahmen) bis zur Rückkehr im Büro am Abend (dem Zeitpunkt, zu dem das Fahrzeug abgegeben wurde).

Nationales Gericht erbittet Entscheidung des EuGH

Die mit der Rechtssache befasste Audiencia Nacional (Nationales Gericht, Spanien) fragt, ob die Zeit, die die Arbeitnehmer für die Fahrt zu Beginn und am Ende des Tages aufwenden, als Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie anzusehen ist.

Fahrten zum Kunden hin und vom Kunden weg sind als Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie anzusehen

Mit seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Fahrzeit, die Arbeitnehmer, die wie die Arbeitnehmer in der fraglichen Situation keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden aufwenden, Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie darstellt. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist bei Arbeitnehmern, die sich in einer solchen Situation befinden, anzunehmen, dass sie während der gesamten Fahrzeit ihre Tätigkeiten ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen. Die Fahrten der Arbeitnehmer zu den von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden sind das notwendige Mittel, um an den Standorten dieser Kunden technische Leistungen zu erbringen. Andernfalls könnte Tyco geltend machen, dass nur die für die Tätigkeit der Installation und Wartung der Sicher­heits­systeme aufgewandte Zeit unter den Begriff "Arbeitszeit" falle, was zur Folge hätte, dass dieser Begriff verfälscht und das Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer beeinträchtigt würde. Dass Tyco vor der Schließung der Regionalbüros die Fahrten der Arbeitnehmer zu Beginn und am Ende des Tages zu oder von den Kunden als Arbeitszeit betrachtete, zeigt im Übrigen, dass die Aufgabe, ein Fahrzeug von einem Regionalbüro zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zu diesem Büro zu führen, zuvor zu den Aufgaben und zur Tätigkeit dieser Arbeitnehmer gehörte. Am Wesen dieser Fahrten hat sich aber seit der Schließung der Regionalbüros nichts geändert. Nur der Ausgangspunkt der Fahrten wurde geändert.

Arbeitnehmer kann während Fahrten nicht frei über Zeit verfügen

Nach Ansicht des Gerichtshofs stehen die Arbeitnehmer während der Fahrzeiten dem Arbeitgeber zur Verfügung. Während dieser Fahrten unterstehen die Arbeitnehmer nämlich den Anweisungen ihres Arbeitgebers, der die Kunden­rei­henfolge ändern oder einen Termin streichen oder hinzufügen kann. Während der erforderlichen Fahrzeit, die sich zumeist nicht verkürzen lässt, haben die Arbeitnehmer somit nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen.

EuGH: Arbeitnehmer arbeiten während der Fahrten

Der Gerichtshof ist ferner der Ansicht, dass die Arbeitnehmer während der Fahrten arbeiten. Bei einem Arbeitnehmer, der keinen festen Arbeitsort mehr hat und der seine Aufgaben während der Fahrt zu oder von einem Kunden wahrnimmt, ist auch davon auszugehen, dass er während dieser Fahrt arbeitet. Da die Fahrten nämlich untrennbar zum Wesen eines solchen Arbeitnehmers gehören, kann sein Arbeitsort nicht auf die Orte beschränkt werden, an denen er bei den Kunden des Arbeitgebers physisch tätig wird. Dass die Arbeitnehmer die Fahrten an ihrem Wohnort beginnen und beenden, ist eine unmittelbare Folge der Entscheidung ihres Arbeitgebers, die Regionalbüros zu schließen, und nicht Ausdruck ihres eigenen Willens. Würden sie gezwungen, die Folgen der Entscheidung ihres Arbeitgebers zu tragen, liefe dies dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zuwider, das die Notwendigkeit einschließt, den Arbeitnehmern eine Mindestruhezeit zu gewährleisten.

Erläuterungen

* Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeits­zeit­ge­staltung (ABl. L 299, S. 9).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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