23.11.2024
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Dokument-Nr. 8165

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil16.07.2009

Europäischer Gerichtshof zur gerichtlichen Zuständigkeit bei Scheidungen von Ehegatten mit gemeinsamer doppelter Staats­bür­ger­schaftScheidung kann vor beiden Gerichten der betroffenen Staaten beantragt werden

Ehegatten, die über eine gemeinsame doppelte Staats­an­ge­hö­rigkeit in der Union verfügen, können nach ihrer Wahl die Ehescheidung vor den Gerichten beider betroffener Staaten beantragen. Die Zuständigkeit der Gerichte eines dieser Mitgliedstaaten kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass der Antragsteller keine weiteren Berüh­rungs­punkte mit diesem Staat habe. Dies entschied der Europäische Gerichtshof.

Die Gemein­schafts­ver­ordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen sieht u. a. mehrere Gerichtsstände für die Beantragung der Auflösung einer Ehe vor. Neben einer Reihe von Kriterien, die sich in verschiedener Hinsicht auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten beziehen, stellt die Verordnung das Kriterium der Staatsangehörigkeit der beiden Ehegatten auf.

Des Weiteren sieht die Verordnung grundsätzlich vor, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen über eine Ehescheidung in den anderen Mitgliedstaaten der Union anerkannt werden und dass die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungs­mit­glied­staats nicht überprüft werden darf. Allerdings ist in bestimmten Fällen, in denen eine Entscheidung über eine Ehescheidung vor Beginn der Anwendung der Verordnung erlassen wurde, aufgrund von Überg­angs­vor­schriften4 für die Anerkennung von Entscheidungen die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungs­mit­glied­staats ausnahmsweise nachzuprüfen.

Sachverhalt

1979 schlossen Herr Hadadi und Frau Mesko, beide ungarische Staatsangehörige, in Ungarn die Ehe. 1980 wanderten sie nach Frankreich aus, wo sie sich noch aufhalten. 1985 erhielten sie die französische Staats­an­ge­hö­rigkeit, so dass sie beide die ungarische und die französische Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzen.

Am 23. Februar 2002 erhob Herr Hadadi Klage auf Ehescheidung beim Gericht in Pest (Ungarn). Frau Mesko erhob am 19. Februar 2003 in Frankreich beim Tribunal de grande instance de Meaux Klage auf Ehescheidung.

Am 4. Mai 2004, einige Tage nach dem Beitritt der Republik Ungarn zur Europäischen Union, wurde die Ehe von Herrn Hadadi und Frau Mesko durch Urteil des Gerichts in Pest geschieden. Aufgrund dieses Urteils erklärte der französische Richter die Eheschei­dungsklage von Frau Mesko für unzulässig. Frau Mesko legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel bei der Cour d’appel de Paris ein, die der Ansicht war, dass das Urteil des ungarischen Gerichts in Frankreich nicht anerkannt werden könne, da dessen Zuständigkeit „in Wirklichkeit auf sehr schwachen Füßen steht“, während die Zuständigkeit des Gerichts am – in Frankreich belegenen – ehelichen Wohnsitz vergleichsweise „besonderes Gewicht“ habe. Infolgedessen erklärte die Cour d’appel de Paris die Scheidungsklage von Frau Mesko für zulässig.

Bezieht lediglicher Besitz einer Staats­bür­ger­schaft weiteren Gerichtsstand ein?

Herr Hadadi hat gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris Kassa­ti­o­ns­be­schwerde eingelegt. Im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der in Frankreich erhobenen Scheidungsklage hat die Cour de Cassation in Bezug auf das von dem ungarischen Gericht erlassene Schei­dungs­urteil die Überg­angs­vor­schriften der Verordnung anzuwenden. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob die ungarischen Gerichte gemäß der Verordnung für die Entscheidung über die Scheidungsklage von Herrn Hadadi zuständig sein konnten. In diesem Kontext hat die Cour de Cassation dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung der Zustän­dig­keits­regeln in der Verordnung im Fall von Ehegatten vorgelegt, die eine gemeinsame doppelte Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzen, die ungarische und die französische, seit längerem nicht mehr in Ungarn wohnen und deren einziger Berührungspunkt mit diesem Land die ungarische Staats­an­ge­hö­rigkeit ist.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Verordnung nicht danach unterscheidet, ob eine Person eine oder mehrere Staats­an­ge­hö­rig­keiten besitzt. Daher ist die Bestimmung der Verordnung, die die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats vorsieht, dessen Staats­an­ge­hö­rigkeit die Ehegatten besitzen, nicht unterschiedlich auszulegen, je nachdem, ob die Ehegatten eine gemeinsame doppelte Staats­an­ge­hö­rigkeit oder eine einzige Staats­an­ge­hö­rigkeit haben. Daher darf das mit einer Scheidungsklage befasste Gericht im Fall der gemeinsamen doppelten Staats­an­ge­hö­rigkeit nicht außer Acht lassen, dass die Betroffenen die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen.

Nebeneinander mehrerer gleichrangiger Gerichtsstände ausdrücklich vorgesehen

Infolgedessen müssen die französischen Gerichte bei der Anwendung der in der Verordnung enthaltenen Überg­angs­vor­schriften für die Anerkennung von Entscheidungen berücksichtigen, dass Herr Hadadi und Frau Mesko auch die ungarische Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzen und daher die ungarischen Gerichte nach Maßgabe der Verordnung für die Entscheidung über einen Schei­dungs­rechtsstreit zwischen den letztgenannten Personen hätten zuständig sein können. Der Gerichtshof bemerkt in diesem Zusammenhang, dass durch die Verordnung mehrfache Zuständigkeiten im Bereich der Ehescheidung nicht ausgeschlossen werden sollen. Vielmehr ist das Nebeneinander mehrerer gleichrangiger Gerichtsstände ausdrücklich vorgesehen. Sodann führt der Gerichtshof aus, dass die Verordnung mit der Festlegung der Staats­an­ge­hö­rigkeit als Zustän­dig­keits­kri­terium einen eindeutigen und leicht anzuwendenden Anknüp­fungspunkt bevorzugt. Sie sieht kein anderes Kriterium im Zusammenhang mit der Staats­an­ge­hö­rigkeit, wie z. B. deren Effektivität, vor. Die Notwendigkeit einer Nachprüfung der Berüh­rungs­punkte zwischen den Ehegatten und ihren jeweiligen Staats­an­ge­hö­rig­keiten würde die Prüfung der gerichtlichen Zuständigkeit erschweren und damit dem Ziel, die Anwendung der Verordnung durch die Verwendung eines einfachen und eindeutigen Anknüp­fungs­kri­teriums zu erleichtern, zuwiderlaufen.

Anrufung von Gericht auch dann möglich, wenn Wohnmittelpunkt seit längerem nicht mehr in diesem Staat ist

Schließlich erinnert der Gerichtshof daran, dass nach der Verordnung ein Ehepaar, das nur die Staats­an­ge­hö­rigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, selbst dann noch die Gerichte dieses Staates anrufen kann, wenn es seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit vielen Jahren nicht mehr in diesem Staat hat und nur noch wenige tatsächliche Berüh­rungs­punkte mit diesem Staat bestehen. Daher stellt der Gerichtshof fest, dass im Fall, dass beide Ehegatten dieselbe doppelte Staats­an­ge­hö­rigkeit besitzen, die Verordnung der Ablehnung der Zuständigkeit der Gerichte eines dieser Mitgliedstaaten mit der Begründung, dass der Antragsteller keine weiteren anderen Berüh­rungs­punkte mit diesem Staat hat, entgegensteht.

Der Gerichtshof stellt somit klar, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten, deren Staats­an­ge­hö­rigkeit die beiden Ehegatten besitzen, nach der Verordnung zuständig sind, und dass den Ehegatten die Wahl des Gerichts des Mitgliedstaats, das mit dem Rechtsstreit befasst werden soll, freisteht.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 66/09 des EuGH vom 16.07.2009

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