21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil16.11.2010

EuGH zur den Voraussetzungen für die Vollstreckung eines Europäischen HaftbefehlsVollstre­ckungs­ver­wei­gerung wegen Straf­kla­ge­ver­brauchs unmöglich, sofern Ausstellerstaat Doppel­be­strafung verneint

Ein nationaler Richter, der einen Europäischen Haftbefehl ausstellt, ist befugt, festzustellen, dass sich ein zuvor im Rahmen seiner Rechtsordnung erlassenes Urteil nicht auf dieselbe Handlung wie die in seinem Haftbefehl genannte erstreckt. Die Justizbehörde, die den Beschuldigten festnimmt, kann dessen Übergabe daher normalerweise nicht ablehnen. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Mit dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl sollen die Überg­a­be­ver­fahren zwischen den Mitgliedstaaten dadurch vereinfacht und beschleunigt werden, dass die Komplexität und die Verzö­ge­rungs­risiken, die den politischen Verfahren und Verwal­tungs­ver­fahren der Auslieferung innewohnen, durch die Errichtung eines Systems des freien Verkehrs straf­recht­licher justizieller Entscheidungen beseitigt werden. Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Seine Anwendung darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in der Grund­recht­s­charta enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt. Außerdem lehnt die Justizbehörde des Staats, der den Haftbefehl vollstreckt, seine Vollstreckung ab, wenn sich aus den ihr vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist. Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstel­lungs­mit­gliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, bittet sie die Behörde, die den Haftbefehl ausgestellt hat, darüber hinaus unverzüglich um Übermittlung zusätzlicher Informationen.

Sachverhalt

Im Jahr 2005 verurteilte das Tribunale di Catania (Gericht von Catania, Italien) Herrn Gaetano Mantello wegen unerlaubten Besitzes von zum Weiterverkauf bestimmtem Kokain. Er verbüßte daraufhin eine tatsächliche Freiheitsstrafe von zehn Monaten und 20 Tagen. Im Jahr 2008 erließ das Tribunale di Catania gegen ihn einen Europäischen Haftbefehl wegen des Vorwurfs, sich zwischen 2004 und 2005 an einem bandenmäßig organisierten Drogenhandel in mehreren italienischen Städten und in Deutschland beteiligt zu haben. Nachdem die deutschen Behörden über das Schengener Infor­ma­ti­o­ns­system (SIS) Kenntnis über den Haftbefehl erhalten hatten, ließen sie Herrn Mantello Ende 2008 festnehmen. Das Tribunale di Catania als Justizbehörde, die den Haftbefehl ausgestellt hatte, teilte dem Oberlan­des­gericht Stuttgart mit, dass das Urteil aus dem Jahr 2005 der Vollstreckung des Haftbefehls nicht entgegenstehe.

OLG legt EuGH Frage zur möglichen Verweigerung der Vollstreckung des Haftbefehls unter Berufung auf das Verbot der Doppel­be­strafung vor

Das Oberlan­des­gericht hat sich jedoch mit der Frage an den Gerichtshof gewandt, ob es die Vollstreckung dieses Haftbefehls unter Berufung auf das Verbot der Doppel­be­strafung verweigern könne, nachdem die italienischen Ermitt­lungs­be­hörden bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung, die zur Verurteilung von Herrn Mantello wegen des Besitzes von Kokain geführt habe, hinreichende Beweise gehabt hätten, um ihn wegen bandenmäßigen Rausch­gift­handels strafrechtlich zu verfolgen. Aus ermitt­lung­s­tak­tischen Gründen hätten sie weder die ihnen vorliegenden Informationen und Beweise an die Unter­su­chungs­richterin weitergeleitet noch seinerzeit um die Verfolgung dieser Taten ersucht.

Vorgelegte Frage bezieht sich nach Ansicht des EuGH eher auf Begriff „rechtskräftige Verurteilung“

In erster Linie zur Auslegung des Begriffs „dieselbe Handlung“ befragt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Auslegung in der Rechtsprechung zum Schengener Durch­füh­rungs­über­ein­kommen auch im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss gilt. Nach Ansicht des Gerichtshofs beziehen sich die Fragen des vorlegenden Gerichts in Wirklichkeit eher auf den Begriff „rechtskräftige Verurteilung“. Daher stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob angesichts des Umstands, dass die italienischen Ermittler zum Zeitpunkt der Verurteilung wegen Betäu­bungs­mit­tel­be­sitzes (2005) über Beweise für eine Mitgliedschaft des Beschuldigten in einer kriminellen Organisation verfügten, diese Beweise dem Tribunale di Catania aber nicht zur Würdigung unterbreitet haben, um die Ermittlungen nicht zu gefährden, davon ausgegangen werden kann, dass bereits eine Entscheidung vorlag, die einer rechtskräftigen Verurteilung wegen der im Haftbefehl geschilderten Handlungen gleichzusetzen ist.

Verbrauch einer Strafklage bestimmt sich nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem Urteil erlassen wurde

Eine gesuchte Person ist als wegen derselben Handlung rechtskräftig verurteilt anzusehen, wenn die Strafklage aufgrund eines Strafverfahrens endgültig verbraucht ist oder die Person rechtskräftig freigesprochen wurde. Ob ein Urteil „rechtskräftig“ ist, bestimmt sich nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem dieses Urteil erlassen wurde. Folglich begründet eine Entscheidung, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, der die Strafverfolgung einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene für eine bestimmte Handlung nicht endgültig verbraucht, kein Verfah­rens­hin­dernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Handlung in einem Mitgliedstaat der Union.

Vollstreckende Justizbehörde kann Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nicht ablehnen, wenn zuvor keine rechtskräftige Verurteilung sichtlich bezeichneter Handlungen erfolgte

Hat die Justizbehörde, die den Haftbefehl ausgestellt hat, auf ein Infor­ma­ti­o­ns­er­suchen der vollstreckenden Justizbehörde hin auf der Grundlage ihres nationalen Rechts ausdrücklich festgestellt, dass das zuvor im Rahmen ihrer Rechtsordnung erlassene Urteil keine rechtskräftige Verurteilung wegen der in ihrem Haftbefehl bezeichneten Handlungen darstellt, kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nicht ablehnen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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