18.10.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil05.09.2012

Europäischer Haftbefehl: Mitgliedsstaat darf Vergünstigung der Nicht­voll­streckung nicht allein eigenen Staats­an­ge­hörigen vorbehaltenVerstoß gegen das Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rigkeit

Ein EU-Mitgliedsstaat darf die Vergünstigung der Nicht­voll­streckung eines Europäischen Haftbefehls nicht allein seinen eigenen Staats­an­ge­hörigen vorbehalten. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl* sieht vor, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einen derartigen Haftbefehl zu befolgen. Die nationale (vollstreckende) Justizbehörde erkennt daher im Wege von Mindest­kon­trollen den von der Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats (ausstellende Justizbehörde) gestellten Antrag auf Übergabe einer Person zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheits­ent­zie­henden Maßregel der Sicherung an. In bestimmten Fällen kann die vollstreckende Justizbehörde es jedoch ablehnen, die gesuchte Person zu übergeben. Das gilt insbesondere dann, wenn ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen eine Person ausgestellt wurde, die sich im Vollstre­ckungs­mit­gliedstaat aufhält, dessen Staats­an­ge­höriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat, und wenn dieser Mitgliedstaat sich verpflichtet, diese Strafe in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken**.

Nationale Regelung sieht Ablehnung der Vollstreckung nur für französische Staats­an­ge­hörige vor

Nach der französischen Rechts­vor­schrift, die diesen Rahmenbeschluss umsetzt, besteht die Möglichkeit, die Vollstreckung eines aus einem solchen Grund erlassenen Haftbefehls abzulehnen, nur für französische Staatsangehörige.

Sachverhalt

Die Cour d’appel d’Amiens (Frankreich) ist mit einem Verfahren befasst, das die Vollstreckung eines am 14. September 2006 vom Strafgericht Lissabon (Portugal) gegen Herrn Lopes Da Silva Jorge ausgestellten Europäischen Haftbefehls betrifft. Das portugiesische Gericht hatte im Jahr 2003 Herrn Lopes Da Silva Jorge, einen portugiesischen Staats­an­ge­hörigen, wegen Drogenhandels zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Aus dem Vorab­ent­schei­dungs­er­suchen ergibt sich, dass er seit 2009 mit einer französischen Staats­an­ge­hörigen verheiratet ist und mit ihr in Frankreich wohnt. Außerdem ist er seit Februar 2008 bei einer französischen Firma unbefristet als Kraftfahrer im Nahverkehr angestellt.

Lopes Da Silva Jorge beantragt Verbüßung der Haftstrafe in Frankreich

Da Herr Lopes Da Silva Jorge mit einer Übergabe an die portugiesischen Behörden nicht einverstanden ist, hat er unter Berufung auf den in Rede stehenden Ablehnungsgrund für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls und sein in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankertes Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens beantragt, seine Haft in Frankreich zu verbüßen. Am 20. Mai 2010 wurde er vom General­staats­anwalt bei der Cour d’appel d’Amiens, nachdem dieser ihn über den Inhalt des Haftbefehls in Kenntnis gesetzt hatte, in Haft genommen.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur Zulässigkeit der Beschränkung der Regelung auf französische Staats­an­ge­hörige

Die Cour d’appel d’Amiens möchte vom Gerichtshof wissen, ob die französische Regelung – die die Möglichkeit, die Übergabe einer Person abzulehnen, um eine gegen diese Person in einem anderen Mitgliedstaat verhängte Freiheitsstrafe im Inland zu vollstrecken, nur französischen Staats­an­ge­hörigen vorbehält, Staats­an­ge­hörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in Frankreich aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, jedoch automatisch völlig davon ausschließt –, mit dem Rahmenbeschluss vereinbar ist.

Europäischen Haftbefehl kann unter bestimmten Umständen im Hoheitsgebiet des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats vollstreckt werden

In seinem Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich verpflichtet sind, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, jedoch unter bestimmten Umständen den zuständigen Justizbehörden erlauben können, zu entscheiden, dass eine verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats vollstreckt werden muss. Das ist nach dem Rahmenbeschluss dann der Fall, wenn sich die gesuchte Person „im Vollstre­ckungs­mit­gliedstaat aufhält, dessen Staats­an­ge­höriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat“ und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe nach seinem inner­staat­lichen Recht zu vollstrecken. Nach ständiger Rechtsprechung soll dieser Grund, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, der vollstreckenden Justizbehörde insbesondere ermöglichen, besonderes Gewicht auf eine Erhöhung der Resozi­a­li­sie­rung­s­chancen der gesuchten Person nach Verbüßung der verhängten Strafe zu legen. Es ist legitim, dieses Ziel nur gegenüber Personen zu verfolgen, die ein bestimmtes Maß an Integration in die Gesellschaft dieses Staates nachgewiesen haben.

Mit Urteil vom 6. Oktober 2009 hat der Gerichtshof bereits in Abweichung vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung entschieden, dass ein Mitgliedstaat die Vergünstigung der auf diesem Grund beruhenden Nicht­voll­streckung eines Europäischen Haftbefehls auf seine Staats­an­ge­hörigen oder Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Inland aufgehalten haben, beschränken kann. Diese Voraussetzung kann nämlich gewährleisten, dass die gesuchte Person in den Vollstre­ckungs­mit­gliedstaat hinreichend integriert ist.

Beschränkung würde zur Diskriminierung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rigkeit führen

Die Mitgliedstaaten können jedoch den genannten Grund für die Nicht­voll­streckung des Haftbefehls nicht, ohne gegen das Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staats­an­ge­hö­rig­keit*** zu verstoßen, allein auf eigene Staats­an­ge­hörige beschränken und Staats­an­ge­hörige anderer Mitgliedstaaten, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats aufhalten oder dort wohnen – wobei diese Begriffe von den Mitgliedstaaten einheitlich zu definieren sind –, ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Mitgliedstaat automatisch völlig ausschließen.

Keine zwingende Verweigerung der Vollstreckung bei gut in die Gesellschaft des Mitgliedstaats integrierten Personen

Diese Feststellung bedeutet nicht, dass dieser Staat die Vollstreckung eines Haftbefehls, der gegen eine Person erlassen wurde, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhält oder dort wohnt, zwangsläufig verweigern muss. Ist diese Person in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats ähnlich wie ein Inländer integriert, muss die vollstreckende Justizbehörde jedoch prüfen können, ob ein legitimes Interesse an der Vollstreckung der im Ausstel­lungs­mit­gliedstaat (Portugal) verhängten Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats (Frankreich) besteht.

Staats­an­ge­hörige unter­schied­licher Mitglieds­s­taaten dürfen nicht unterschiedlich behandelt werden

Im Übrigen kann der von Frankreich geltend gemachte Umstand, dass es sich nach seinem derzeitigen inner­staat­lichen Recht**** nur dann verpflichten könne, die Strafe einer in einem anderen Mitgliedstaat verurteilten Person zu vollstrecken, wenn diese Person die französische Staatsangehörigkeit habe, es nach Ansicht des Gerichtshofs nicht rechtfertigen, den Staats­an­ge­hörigen eines anderen Mitgliedstaats und einen französischen Staats­an­ge­hörigen unterschiedlich zu behandeln.

Erläuterungen
* Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Überg­a­be­ver­fahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1).

** Art. 4 Nr. 6 des Rahmen­be­schlusses.

*** Art. 18 AEUV.

**** In diesem Zusammenhang hat die französische Regierung geltend gemacht, dass Frankreich im Gegensatz zu den anderen Mitgliedstaaten dem am 28. Mai 1970 in Den Haag unterzeichneten Europäischen Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen und dem Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer straf­recht­licher Verurteilungen vom 13. November 1991 nicht beigetreten sei. Allerdings habe es genauso wie alle anderen Mitgliedstaaten das am 21. März 1983 in Straßburg unterzeichnete Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen ratifiziert, nach dem eine Überstellung zum weiteren Strafvollzug nur in den Staat der Staats­an­ge­hö­rigkeit des Verurteilten in Betracht komme. Der Gerichtshof hat diese Argumentation unter Hinweis darauf zurückgewiesen, dass dieses Übereinkommen Frankreich zwar die Möglichkeit einräumt, die Vollstreckung einer in einem anderen Staat verhängten Strafe im Inland allein den eigenen Staats­an­ge­hörigen vorzubehalten, sei aber nicht dazu verpflichtet.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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