21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil06.10.2009

Europäischer Haftbefehl: EU-Staaten dürfen bei Auslie­fe­rungs­er­suchen aus dem Ausland zwischen ihren eigenen Staats­an­ge­hörigen und anderen EU-Bürgern unterscheidenEuGH erlaubt Niederlande bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls Inländer und EU-Ausländer ungleich zu behandeln

Das Niederländische Recht kann in Bezug auf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls eine unter­schiedliche Behandlung von Inländern und Staats­an­ge­hörigen der anderen Mitglieds­s­taaten vorsehen. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden.

Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl bestimmt, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. In bestimmten Fällen kann die vollstreckende Justizbehörde allerdings die Übergabe einer gesuchten Person verweigern.

Die nieder­län­dischen Rechts­vor­schriften zur Umsetzung dieses Rahmen­be­schlusses sehen vor, dass die Übergabe nieder­län­discher Staats­an­ge­höriger an eine ausstellende Justizbehörde zur Vollstreckung einer mit einem rechtskräftigen Urteil verhängten Freiheitsstrafe verweigert wird. Bei Staats­an­ge­hörigen anderer Mitgliedstaaten ist eine solche Verweigerung hingegen davon abhängig, dass sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in den Niederlanden aufgehalten haben und im Besitz einer unbefristeten Aufent­halts­ge­neh­migung sind.

Herr Wolzenburg, ein deutscher Staats­an­ge­höriger, wurde in Deutschland wegen mehrerer Straftaten zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Nachdem er Deutschland verlassen hatte, um sich in den Niederlanden niederzulassen, entschied das deutsche Gericht, die Aussetzung der Strafe zur Bewährung zu widerrufen, da er gegen die Bewäh­rungs­auflagen verstoßen hatte. Folglich stellte die deutsche ausstellende Justizbehörde gegen ihn einen Europäischen Haftbefehl aus und ersuchte die niederländische vollstreckende Justizbehörde um die Übergabe von Herrn Wolzenburg zur Vollstreckung seiner rechtskräftig gewordenen Freiheitsstrafe.

Das niederländische Gericht möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob die nationalen Rechts­vor­schriften, die im Hinblick auf die Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls eine unter­schiedliche Behandlung von Inländern und Staats­an­ge­hörigen der anderen Mitgliedstaaten vorsehen, mit dem Recht der Union vereinbar sind.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass ein Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnah­me­mit­gliedstaat aufgehalten hat, nach der Richtlinie über den Aufenthalt von Unionsbürgern das Recht hat, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Die Richtlinie gibt dem Betroffenen die Möglichkeit, ein Dokument zu beantragen, in dem die Dauerhaftigkeit seines Aufenthalts im Aufnahmestaat bescheinigt wird, schreibt eine solche Formalität aber nicht vor. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass der Vollstre­ckungs­mit­gliedstaat für die Anwendung des Grundes, aus dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigert werden kann, neben Anforderungen an die Aufent­haltsdauer in diesem Staat keine ergänzenden verwal­tungs­recht­lichen Anforderungen wie den Besitz einer unbefristeten Aufent­halts­ge­neh­migung stellen kann.

Sodann prüft der Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 12 EG (dem Diskri­mi­nie­rungs­verbot) die Vereinbarkeit der nieder­län­dischen Rechts­vor­schriften, die eine von der Behandlung der eigenen Staats­an­ge­hörigen abweichende Behandlung von Staats­an­ge­hörigen der anderen Mitgliedstaaten vorsehen, wenn sie sich nicht fünf Jahre lang im Inland aufgehalten haben. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass dem Europäischen Haftbefehl der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegt und dass die Mitgliedstaaten zwar generell verpflichtet sind, dem Ersuchen einer Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats zu entsprechen, dass sie bei der Anwendung der Gründe, aus denen die Vollstreckung verweigert werden kann, aber über einen bestimmten Wertungs­spielraum verfügen.

Eine Ungleich­be­handlung der betreffenden Staats­an­ge­hörigen ist nur dann mit dem Gemein­schaftsrecht vereinbar, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist, im Verhältnis zum verfolgten Ziel steht und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass mit dem fakultativen Verwei­ge­rungsgrund insbesondere bezweckt wird, dass der Frage, ob die Resozi­a­li­sie­rung­s­chancen der gesuchten Person nach Verbüßung der Strafe erhöht werden können, besondere Bedeutung beigemessen werden kann. Es ist daher legitim, dass der Vollstre­ckungs­mit­gliedstaat dieses Ziel nur gegenüber Personen verfolgt, die ein bestimmtes Maß an Integration in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats nachgewiesen haben. Im vorliegenden Fall kann davon ausgegangen werden, dass die bloße Voraussetzung der Staats­bür­ger­schaft für die eigenen Staatsbürger einerseits und die Voraussetzung eines ununter­bro­chenen Aufenthalts von fünf Jahren für die Staatsbürger der anderen Mitgliedstaaten andererseits gewährleisten, dass die gesuchte Person im Vollstre­ckungs­mit­gliedstaat hinreichend integriert ist.

Außerdem ist der Gerichtshof der Auffassung, dass sich die für Ausländer geltende Voraussetzung eines ununter­bro­chenen Aufenthalts von fünf Jahren insbesondere angesichts des Erfordernisses der Integration nicht als unver­hält­nismäßig ansehen lässt.

Dazu führt der Gerichtshof aus, dass in den gemein­schafts­recht­lichen Vorschriften über das Aufent­haltsrecht gerade die Voraussetzung eines ununter­bro­chenen Aufenthalts von fünf Jahren als der Zeitraum festgelegt wurde, ab dem die Unionsbürger im Hoheitsgebiet des Aufnah­me­mit­glied­staats ein Recht auf Daueraufenthalt erwerben. Im Anschluss daran stellt er fest, dass eine Voraussetzung hinsichtlich des Aufenthalts, wie sie mit den in Rede stehenden nationalen Rechts­vor­schriften aufgestellt wird, nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um das Ziel zu erreichen, dass ein bestimmtes Maß an Integration der Staats­an­ge­hörigen anderer Mitgliedstaaten im Vollstre­ckungs­mit­gliedstaat gewährleistet ist.

Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass Art. 12 EG (das Diskri­mi­nie­rungs­verbot) den Rechts­vor­schriften des Vollstre­ckungs­mit­glied­staats nicht entgegensteht, wonach die zuständige Justizbehörde dieses Staates die Vollstreckung eines gegen einen seiner Staats­an­ge­hörigen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigert, während eine solche Verweigerung im Fall eines Staats­an­ge­hörigen eines anderen Mitgliedstaats, der ein Aufent­haltsrecht als Unionsbürger hat, voraussetzt, dass er sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Hoheitsgebiet dieses Vollstre­ckungs­mit­glied­staats aufgehalten hat.

Rahmenbeschluss und Richtline

Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Überg­a­be­ver­fahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1).

Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien­an­ge­hörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158, S. 77).

Quelle: ra-online, Europäischer Gerichtshof

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