21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil14.03.2017

Keine Diskriminierung: Unter­neh­men­s­interne Regel darf Tragen eines Kopftuchs verbietenPflicht zum Tragen neutraler Kleidung begründet keine unmittelbar auf Religion oder Weltanschauung beruhende Ungleich­be­handlung

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass eine unter­neh­men­s­interne Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung darstellt.

Am 12. Februar 2003 trat Frau Samira Achbita, die muslimischen Glaubens ist, als Rezeptionistin in den Dienst des Unternehmens G4S. Dieses private Unternehmen erbringt für Kunden aus dem öffentlichen und privaten Sektor u.a. Rezeptions- und Empfangsdienste. Als Frau Achbita eingestellt wurde, verbot es eine bei G4S geltende ungeschriebene Regel den Arbeitnehmern, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen.

Arbeitnehmerin kündigt Arbeitnehmer Tragen eines Kopftuches während der Arbeitszeit an

Im April 2006 kündigte Frau Achbita ihrem Arbeitgeber an, dass sie beabsichtige, während der Arbeitszeiten das islamische Kopftuch zu tragen. Die Geschäfts­leitung von G4S antwortete ihr, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht geduldet werde, da das sichtbare Tragen politischer, philosophischer oder religiöser Zeichen der von G4S bei ihren Kundenkontakten angestrebten Neutralität widerspreche. Nach einer krank­heits­be­dingten Abwesenheit teilte Frau Achbita ihrem Arbeitgeber am 12. Mai 2006 mit, dass sie am 15. Mai ihre Arbeit wieder aufnehmen und künftig das islamische Kopftuchtragen werde.

Arbeitgeber kündigt Arbeits­ver­hältnis

Der Betriebsrat von G4S billigte am 29. Mai 2006 eine Anpassung der Arbeitsordnung des Unternehmens, die am 13. Juni 2006 in Kraft trat. Darin heißt es: "Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen." Am 12. Juni 2006 wurde Frau Achbita aufgrund ihrer festen Absicht, an ihrem Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen, entlassen. Sie hat diese Entlassung vor den belgischen Gerichten angefochten.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH im Hinblick auf mögliche unmittelbare Diskriminierung

Der mit der Sache befasste Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) fragt nach der Auslegung der Unions­richtlinie über die Gleich­be­handlung in Beschäftigung und Beruf*. Er möchte wissen, ob das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer allgemeinen internen Regeleines privaten Unternehmens ergibt, eine unmittelbare Diskriminierung darstellt.

Auslegung des Gleich­be­hand­lungs­grund­satzes durch EuGH

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass der Gleich­be­hand­lungs­grundsatz im Sinne der Richtlinie bedeutet, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung u.a. wegen der Religion geben darf. Der Begriff der Religion wird zwar in der Richtlinie nicht definiert, doch hat der Unions­ge­setzgeber auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(EMRK) und auf die gemeinsamen Verfas­sungs­über­lie­fe­rungen der Mitgliedstaaten Bezug genommen, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigt worden sind. Daher ist der Begriff der Religion dahin zu verstehen, dass er sowohl den Umstand, religiöse Überzeugungen zu haben, als auch die Freiheit der Personen umfasst, diese in der Öffentlichkeit zu bekunden.

Auf Neutralität gerichtete interne Unter­neh­mensregel begründet keine Diskriminierung

Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die interne Regel von G4S auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen bezieht und damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gilt. Nach dieser Regel werden alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden. Den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ist nicht zu entnehmen, dass die interne Regel auf Frau Achbita anders angewandt worden wäre als auf andere Arbeitnehmer von G4S. Folglich begründet eine solche interne Regel keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne der Richtlinie.

Mögliche Ungleich­be­handlung muss nicht zwingend mittelbare Diskriminierung darstellen

Der Gerichtshof hält es jedoch nicht für ausgeschlossen, dass das nationale Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die interne Regeleine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleich­be­handlung begründet, wenn sich erweisen sollte, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden. Eine solche Ungleich­be­handlung würde jedoch nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung führen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären.

Arbeitgeber darf bei Wunsch nach neutraler Kleidung zwischen Arbeitnehmern mit und ohne Kundenkontakt differenzieren

Zwar ist es letztlich allein Sache des mit dem Rechtss­treit­be­fassten nationalen Gerichts, darüber zu befinden, ob und inwieweit die interne Regeldiesen Anforderungen genügt, doch gibt der Gerichtshof hierzu Hinweise. Er führt aus, dass der Wunsch eines Arbeitgebers, seinen öffentlichen und privaten Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, insbesondere dann rechtmäßig ist, wenn nur die Arbeitnehmer einbezogen werden, die mit den Kunden in Kontakt treten. Dieser Wunsch gehört nämlich zu der von der Charta anerkannten unter­neh­me­rischen Freiheit.

Nationales Gericht muss Angebot eines möglichen Arbeitsplatzes ohne Kundenkontakt prüfen

Das Verbot, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, ist zudem zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird. Insoweit muss das vorlegende Gericht prüfen, ob G4S vor der Entlassung von Frau Achbita eine entsprechende allgemeine und undif­fe­ren­zierte Politik eingeführt hatte. Im vorliegenden Fall ist außerdem zu prüfen, ob sich das Verbot nur an die mit Kunden in Kontakt tretenden Arbeitnehmer von G4S richtet. Ist dies der Fall, ist das Verbot als für die Erreichung des verfolgten Ziels unbedingt erforderlich anzusehen. Ferner ist zu prüfen, ob es G4S, unter Berück­sich­tigung der unter­neh­men­s­in­ternen Zwänge und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen, möglich gewesen wäre, Frau Achbita einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen.

Kopftuchverbot stellt keine Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie dar

Im Ergebnis stellt daher das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie dar.

Auch mittelbare Diskriminierung kann zur Erreichung rechtmäßiger Ziele angemessen und erforderlich sein

Ein solches Verbot kann hingegen eine mittelbare Diskriminierung darstellen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die es enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden. Eine solche mittelbare Diskriminierung kann jedoch durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kundensachlich gerechtfertigt sein, wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Es ist Sache des belgischen Kassationshofs, diese Voraussetzungen zu prüfen.

Erläuterungen

* Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleich­be­handlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S.16).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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