21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil17.10.2013

Schafe müssen Chips tragen: Pflicht zur elektronischen Einzel­tier­kennzeichnung von Schafen und Ziegen rechtmäßigMaßnahmen verstoßen weder gegen unter­neh­me­rische Freiheit der Tierhalter noch gegen Grundsatz der Gleich­be­handlung

Die Verpflichtung zur elektronischen Einzel­tier­kennzeichnung von Schafen und Ziegen ist rechtsgültig. Durch den Erlass dieser Maßnahme, die der besseren Vorbeugung von Tierseuchen dient, hat der Gesetzgeber weder die unter­neh­me­rische Freiheit der Tierhalter verletzt noch gegen den Grundsatz der Gleich­be­handlung verstoßen. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Bis zu dem schweren Ausbruch der Maul- und Klauenseuche im Jahr 2001 mussten die Schaf- und Ziegenhalter ihre Tiere lediglich mit einer Ohrmarke oder einer Tätowierung versehen, die die Zuordnung zu ihrem Betrieb ermöglichte. Zudem mussten sie ein Register mit Angaben über die Gesamtzahl der in jedem Jahr in ihrem Betrieb vorhandenen Schafe und Ziegen führen*. Während dieser Tierseuche mussten wegen nicht gekenn­zeichneter Schafe und fehlender Rückver­folg­barkeit systematische Schlachtungen von mehreren Millionen Tieren durchgeführt werden, nur um danach festzustellen, dass viele von ihnen nicht infiziert waren. Innerhalb der Union mussten verschiedene Beschränkungen und weltweit ein Verbot jeglicher Ausfuhr von Vieh, Fleisch und tierischen Erzeugnissen aus dem Vereinigten Königreich erlassen werden.

Mitglieds­s­taaten müssen Tiere zur besseren Vorbeugung von Tierseuchen kennzeichnen

Um derartigen Tierseuchen besser vorzubeugen und das Funktionieren des Handels mit Schafen und Ziegen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern, hat der Unions­ge­setzgeber ein neues System eingeführt**, wonach jedes Tier individuell durch zwei Kennzeichen gekennzeichnet werden muss, nämlich einer herkömmlichen Ohrmarke und einer elektronischen Vorrichtung. Letztere kann in einer elektronischen Ohrmarke, einem Bolus­trans­ponder, einem elektronischen Transponder oder einem elektronischen Kennzeichen an der Fessel bestehen. Die Identität jedes einzelnen Tiers muss in einem Bestands­re­gister vermerkt werden. Außerdem sind die Bewegungen der aus dem Betrieb abgehenden Tiere in einem Begleitdokument aufzuzeichnen. Ferner hat jeder Mitgliedstaat ein zentrales Register oder eine elektronische Datenbank zur Erfassung aller in seinem Hoheitsgebiet ansässigen Betriebe anzulegen und in regelmäßigen Abständen den Bestand der in diesen Betrieben gehaltenen Tiere zu ermitteln.

Schafhalter erhebt Klage gegen Kennzeich­nungs­pflicht

Herr Schaible, ein deutscher Schafhalter mit 450 Mutterschafen, hat beim Verwal­tungs­gericht Stuttgart Klage auf Feststellung erhoben, dass er weder der Verpflichtung zur Einzel­tier­kenn­zeichnung und zur elektronischen Einzel­tier­kenn­zeichnung noch der Verpflichtung zur Führung eines Bestands­re­gisters unterliegt. In diesem Zusammenhang hat das Verwal­tungs­gericht den Gerichtshof ersucht, zu prüfen, ob diese Verpflichtungen gültig sind oder ob sie gegen die unter­neh­me­rische Freiheit und den Grundsatz der Gleich­be­handlung verstoßen.

EuGH erklärt Kennzeich­nungs­pflicht für zulässig

Mit seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Verpflichtungen für Schaf- und Ziegenhalter, ihre Tiere individuell elektronisch zu kennzeichnen und ein Bestands­re­gister zu führen, weder gegen die unter­neh­me­rische Freiheit noch gegen den Grundsatz der Gleich­be­handlung verstoßen.

Mögliche Einschränkung der unter­neh­me­rischen Freiheit verfolgt legitimes Ziel

Zwar können diese Verpflichtungen die unter­neh­me­rische Freiheit einschränken, sie sind jedoch durch im Allge­mein­in­teresse liegende legitime Ziele wie die des Gesund­heits­schutzes, der Bekämpfung von Tierseuchen, des Wohlbefindens der Tiere und der Vollendung des Binnenmarkts für den Handel mit diesen Tieren gerechtfertigt. Da sie die Rückver­folg­barkeit der einzelnen Tiere vereinfachen und damit im Fall von Tierseuchen den zuständigen Behörden ermöglichen, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Verbreitung ansteckender Krankheiten bei Schafen und Ziegen zu verhindern, sind sie geeignet und erforderlich, um die genannten Ziele zu erreichen.

Maßnahmen sind nicht unver­hält­nismäßig

Zudem sind diese Verpflichtungen nicht unver­hält­nismäßig. In Bezug auf die finanziellen Belastungen, die sich aus ihnen für die Tierhalter ergeben, weist der Gerichtshof auf mehrere Umstände hin, die zu berücksichtigen sind, nämlich, dass (1) diese Belastungen geringer sein können als die Kosten nichtselektiver Maßnahmen wie ein Transportverbot oder die Präven­tivschlachtung des gesamten Viehbestands bei einem Seuchenausbruch, (2) das neue System mehrere Ausnahmen vorsieht, (3) die Verpflichtung zur elektronischen Kennzeichnung nur schrittweise eingeführt wurde und (4) die Tierhalter die Möglichkeit haben, eine finanzielle Beihilfe zu erhalten, um einen Teil der mit der Einführung des Systems verbundenen zusätzlichen Kosten auszugleichen. Was das Wohlbefinden der Tiere betrifft, sind die Tatsache, dass zwei Kennzeichen anstelle eines einzigen an den Tieren angebracht werden müssen, und der Umstand, dass die neuen Kennzeichen statistisch mehr Verletzungen und Komplikationen hervorrufen als die herkömmlichen, nicht geeignet, zu beweisen, dass die Bewertung des Unions­ge­setz­gebers in Bezug auf die Vorteile der Einführung der Verpflichtung zur elektronischen Kennzeichnung fehlerhaft gewesen wäre. Darüber hinaus trägt das neue System dadurch, dass es die Bekämpfung von Tierseuchen erleichtert und damit die Infizierung von Tieren verhindert, positiv zum Schutz des Wohlbefindens der Tiere bei.

Ausnahme für Mitgliedstaaten mit geringerem Tierbestand nicht diskriminieren für andere Tierhalter

Das neue System beachtet auch den Grundsatz der Gleich­be­handlung. Die Ausnahme, die es den Mitgliedstaaten mit einem geringeren Tierbestand*** erlaubt, das System der elektronischen Kennzeichnung auf freiwilliger Basis einzuführen, diskriminiert nicht die Tierhalter, die in einem Mitgliedstaat ansässig sind, in dem diese Kennzeichnung verpflichtend ist. Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die vorgesehenen Schwellen vernünftig sind und in angemessenem Verhältnis zu den Zielen stehen, die mit dem neuen System verfolgt werden, und dass diese Ausnahme nur auf Tiere Anwendung findet, die nicht in den inner­ge­mein­schaft­lichen Handel gelangen.

Schaf- und Ziegenhalter gegenüber Rinder- und Schweinehaltern nicht diskriminiert

Schließlich werden durch dieses System auch nicht die Schaf- und Ziegenhalter gegenüber Rinder- und Schweinehaltern diskriminiert, die nicht denselben Verpflichtungen unterliegen. Trotz einiger Ähnlichkeiten zwischen diesen verschiedenen Säugetierarten bestehen nämlich Unterschiede, die einen eigenen Regelungsrahmen für jede Tierart rechtfertigen. Vor dem Hintergrund der MKS-Krise von 2001 war der Unions­ge­setzgeber berechtigt, eine spezifische Regelung einzuführen, die eine elektronische Kennzeichnung von Schafen und Ziegen, die von dieser Krise besonders betroffen waren, vorsieht. Doch auch wenn sich der Gesetzgeber berech­tig­terweise auf ein solches schrittweises Vorgehen bei der Einführung der elektronischen Kennzeichnung stützen durfte, muss er im Hinblick auf die Ziele der angefochtenen Regelung die Notwendigkeit in Betracht ziehen, die eingeführten Maßnahmen insbesondere in Bezug auf den fakultativen oder zwingenden Charakter der elektronischen Kennzeichnung zu überprüfen.

Erläuterungen

* Richtlinie 92/102/EWG des Rates vom 27. November 1992 über die Kennzeichnung und Registrierung von Tieren (ABl. L 355, S. 32).

** Verordnung (EG) Nr. 21/2004 des Rates vom 17. Dezember 2003 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Registrierung von Schafen und Ziegen und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 sowie der Richtlinien 92/102/EWG und 64/432/EWG (ABl. L 5, S. 8) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1560/2007 des Rates vom 17. Dezember 2007 (ABl. L 340, S. 25) und die Verordnung (EG) Nr. 933/2008 der Kommission vom 23. September 2008 (ABl. L 256, S. 5) geänderten Fassung.

*** Höchstens 600.000 Schafe und Ziegen insgesamt und höchstens 160.000 Ziegen.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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