23.11.2024
23.11.2024  
Sie sehen eine Reihe mit gelben Aktenordnern, die mit Barcodes markiert sind.

Dokument-Nr. 31195

Drucken
ergänzende Informationen

Bundesverwaltungsgericht Urteil16.12.2021

Verlust eines unions­recht­lichen Aufent­halts­rechts erfordert ermes­sens­ge­rechte Berück­sich­tigung geltend gemachter Nachteile im HerkunftslandBehörde hat Ermessen fehlerhaft ausgeübt

Die Feststellung des Verlusts des Aufent­halts­rechts des drittstaats­angehörigen Ehegatten einer Unionsbürgerin aus Gründen der öffentlichen Ordnung erfordert eine Ermessens­entscheidung, bei der sich die Auslän­der­behörde auch mit der substantiiert vorgetragenen Gefahr von Nachteilen im Herkunftsstaat unterhalb der Schwelle im Asylverfahren zu prüfender Nachteile (hier: erneute Bestrafung in seinem Herkunftsland) ermes­sens­gerecht ausein­an­dersetzt. Dies hat das Bundes­verwaltungs­gericht entschieden.

Der Kläger, ein türkischer Staats­an­ge­höriger, reiste zuletzt im Jahr 2003 oder 2004 nach Deutschland ein und führte erfolglos ein Asylfol­ge­ver­fahren durch. 2013 heiratete er seine rumänische Lebensgefährtin, mit der er drei 2001, 2005 und 2013 geborene Kinder hat. Im Januar 2014 erhielt er eine Aufent­haltskarte als Familien­an­ge­höriger von Unionsbürgern. In den Jahren 2007 und 2017 wurde der Kläger wegen Straftaten nach dem Betäu­bungs­mit­tel­gesetz jeweils zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Mit Verfügung vom Juli 2018 stellte der Senator für Inneres der Beklagten gemäß § 6 Abs. 1 des Freizü­gig­keits­ge­setzes/EU (im Folgenden: FreizügG/EU) den Verlust des Rechts des in Strafhaft befindlichen Klägers auf Einreise und Aufenthalt für die Dauer von vier Jahren fest und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Im Oktober 2018 wurde die Ehefrau unter Beibehaltung ihrer rumänischen Staats­an­ge­hö­rigkeit eingebürgert.

BVerfG hebt die Verfügung wegen Ermes­sens­fehlers auf

Mit seiner Klage machte der Kläger unter anderem geltend, ihm drohten in der Türkei eine erneute Strafverfolgung und Haftstrafe für die bereits in Deutschland abgeurteilten Delikte sowie in diesem Zusammenhang zu erwartende unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen. Die Klage wurde in den Vorinstanzen abgewiesen. Das Oberver­wal­tungs­gericht ging davon aus, dass das persönliche Verhalten des Klägers die Begehung weiterer schwerer Betäu­bungs­mit­tel­delikte durch diesen erwarten lasse und die Verlust­fest­stellung verhältnismäßig sowie auch sonst ermes­sens­feh­lerfrei sei. Für die Feststellung und Bewertung asylrechtlich erheblicher Abschie­bungs­verbote sei allein das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig. Die nach dem Vorbringen des Klägers drohende Beein­träch­tigung von Belangen unterhalb der Schwelle eines Abschie­bungs­verbots führe hier nicht zur Unver­hält­nis­mä­ßigkeit der Verlust­fest­stellung. Auf die Revision des Klägers hat das Bundes­ver­wal­tungs­gericht die Verfügung der Beklagten wegen eines Ermes­sens­fehlers aufgehoben. Zwar hat das Oberver­wal­tungs­gericht Gründe der öffentlichen Ordnung, die eine Verlust­fest­stellung, die der Senator für Inneres der Freien Hansestadt Bremen an sich ziehen durfte, nach § 12 a i.V.m. § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU grundsätzlich rechtfertigen können, mit Blick auf die tatrichterlich festgestellte Gefahr der Wiederholung schwerer Betäu­bungs­mit­tel­straftaten zu Recht bejaht. Der Kläger überschritte die erforderliche Gefah­ren­schwelle selbst dann, wenn angesichts des von ihm geäußerten materiellen Asylgesuchs § 53 Abs. 4 AufenthG Anwendung finden sollte, der die Ausweisung von Asylan­trag­stellern an gesteigerte Voraussetzungen knüpft.

Zielstaats­be­zogenes Abschie­bungs­verbot nicht zu berücksichtigen

Nicht im Einklang mit § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU und § 40 des Bremischen Verwal­tungs­ver­fah­rens­ge­setzes steht aber die Annahme des Oberver­wal­tungs­ge­richts, die Ermes­sens­ausübung Beklagten sei nicht zu beanstanden. Bei der Ermes­sen­s­ent­scheidung über eine Verlust­fest­stellung sind neben den in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU beispielhaft aufgeführten Gesichtspunkten im Grundsatz auch Nachteile zu berücksichtigen sein, die den Ausländer im Herkunftsland erwarten und sich insbesondere auf seine durch Art. 7 GRC/Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange auswirken. Ein zielstaats­be­zogenes Abschiebungsverbot namentlich nach § 60 Abs. 2, 5 oder 7 AufenthG hat die Beklagte hier allerdings schon deshalb zutreffend nicht in ihre Ermes­sen­s­ent­scheidung eingestellt, weil sie gemäß § 6 Satz 1 und § 42 Satz 1 AsylG an die hierzu ergangenen negativen Entscheidungen aus dem vorangegangenen Asylverfahren gebunden ist; deren Änderung kann bei veränderter Sachlage nur gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge begehrt werden.

Drohender Eingriff in Recht auf Familienleben einzubeziehen

Von § 6 Satz 1 und § 42 Satz 1 AsylG nicht erfasste zielstaats­be­zogene Nachteile hingegen sind in die Ermes­sen­s­ent­scheidung einzustellen. Das gilt jedenfalls für solche Nachteile, die - wie die vom Kläger substantiiert geltend gemachte Gefahr einer (völker- und verfas­sungs­rechtlich nicht unzulässigen) Doppel­be­strafung für die in Deutschland zuletzt abgeurteilte Einfuhr von Heroin aus der Türkei - geeignet sein können, sich auf die Verhält­nis­mä­ßigkeit des Eingriffs in das Recht auf Familienleben im Sinne des Art. 7 GRC/Art. 8 Abs. 1 EMRK auszuwirken. Denn eine etwaig drohende erneute langjährige Haftstrafe in der Türkei erschwerte nicht nur die Aufrecht­er­haltung von Kontakten zu der in Deutschland lebenden Familie während der verfügten vierjährigen Dauer des von der Beklagten selbst als verhältnismäßig erachteten Einreiseverbots; sie könnte vielmehr die Trennung von der Familie faktisch erheblich verlängern. Die Nicht­be­rück­sich­tigung eines derartigen, im Rahmen des Möglichen aufzuklärenden Nachteils durch die Beklagte in den (ergänzenden) Ermes­sen­s­er­wä­gungen erweist sich deshalb als ermes­sens­feh­lerhaft; Überlegungen des Oberver­wal­tungs­ge­richts können diesen Mangel nicht heilen. Damit waren auch die Folge­ent­schei­dungen aufzuheben.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht, ra-online (pm/ab)

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil31195

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI