21.11.2024
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Dokument-Nr. 29865

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Bundesverfassungsgericht Beschluss01.12.2020

Erfolglose Verfassungs­beschwerde zur elektronischen Aufenthalts­überwachungRegelungen zur Elektronischen Fußfessel verfas­sungsgemäß

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die gesetzlichen Regelungen in § 68 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463 a Abs. 4 StPO zur elektronischen Aufenthalts­überwachung („elektronische Fußfessel“) mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Hierin liegt zwar ein tiefgreifender Grund­recht­s­eingriff insbesondere in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung und das allgemeine Persönlichkeits­recht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Gleichwohl ist dieser Grund­recht­s­eingriff aufgrund des Gewichts der geschützten Belange zumutbar und steht nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der Rechtsgüter, deren Schutz die elektronische Aufenthalts­überwachung bezweckt.

Die elektronische Aufent­halts­über­wachung wurde durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Siche­rungs­ver­wahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010, in Kraft getreten am 1. Januar 2011, eingeführt. Anlass war das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR.. Darin hielt der EGMR die Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung nach Ablauf der im Zeitpunkt der Verurteilung geltenden Höchstfrist von zehn Jahren für konven­ti­o­ns­widrig. Das Urteil hatte zur Folge, dass Personen mit negativer Rückfa­ll­prognose in die Freiheit entlassen und sodann teilweise rund um die Uhr polizeilich überwacht wurden. Die elektronische Aufent­halts­über­wachung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers derartige Überwa­chungs­maß­nahmen entbehrlich machen. Die Aufent­halts­be­stimmung könne dabei mittels Global Positioning System (GPS) erfolgen. Voraussetzung sei, dass ein entsprechendes Empfangsgerät am Fuß der Betroffenen angebracht werde.

Beschwer­de­führer sehen sich in ihren Grundrechten verletzt

Die Beschwer­de­führer wurden nach Verbüßung ihrer langjährigen Freiheits­s­trafen aus der Haft entlassen und zunächst polizeilich beobachtet. Die Fachgerichte ordneten als Weisung im Rahmen der Führungs­aufsicht die elektronische Aufent­halts­über­wachung der Beschwer­de­führer an, woraufhin ihnen die elektronische Fußfessel angelegt wurde. Die Beschwer­de­führer rügen insbesondere einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowohl in seiner Ausprägung als infor­ma­ti­o­nelles Selbst­be­stim­mungsrecht als auch in seiner Ausprägung als Resozi­a­li­sie­rungsgebot. Darüber hinaus machen sie eine Verletzung von Art. 12 GG, Art. 11 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sowie Art. 103 Abs. 2 GG beziehungsweise des allgemeinen Vertrau­ens­schutz­gebotes und schließlich von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG geltend.

Keine Verletzung der Menschenwürde

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerden als unbegründet zurückgewiesen. Die Möglichkeit gemäß §§ 68 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463 a Abs. 4 StPO, den Aufenthaltsort eines Weisungs­be­troffenen anlassbezogen festzustellen, verletzt die Beschwer­de­führer nicht in ihren Grundrechten und grund­rechts­gleichen Rechten. Ein Eingriff in die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Die gesetzlichen Vorschriften sind lediglich auf die anlassbezogene jederzeitige Feststell­barkeit des Aufent­haltsortes des Betroffenen gerichtet. In welcher Weise er sich an diesem Ort betätigt, ist nicht Gegenstand der Überwachung, da sein Handeln weder optischer noch akustischer Kontrolle unterliegt. Der Gesetzgeber hat zudem innerhalb der Wohnung eine genaue Ortung untersagt und die Datenerhebung auf eine Präsenz­fest­stellung beschränkt. Die bloße Feststellung des Aufent­haltsortes mittels einer GPS-gestützten Observation erreicht jedoch regelmäßig nicht den unantastbaren Bereich privater Lebens­ge­staltung, der staatlicher Beobachtung schlechthin entzogen ist. Die elektronische Aufent­halt­s­er­mittlung führt ebenso nicht zu einer mit der Menschenwürde unvereinbaren Rundu­m­über­wachung, durch welche die Betroffenen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht würden. Die Erhebung der Daten erfolgt automatisiert und ermöglicht lediglich die Feststellung des Aufent­haltsortes. Zwar werden die hierzu erforderlichen Daten permanent erhoben, aber nur bezogen auf den Aufenthalt. Die mit der elektronischen Aufent­halts­über­wachung verbundene Kontrolldichte ist nicht derart umfassend, dass sie nahezu lückenlos alle Bewegungen und Leben­s­äu­ße­rungen erfasst und die Erstellung eines Persön­lich­keits­profils ermöglicht.

Eingriff in das allgemeinen Persön­lich­keitsrecht verhältnismäßig und zumutbar

Die Beschwer­de­führer sind auch nicht in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Die gesetzlichen Vorschriften sind insbesondere verhältnismäßig. Die elektronische Aufent­halts­über­wachung stellt zwar einen tiefgreifenden Grund­recht­s­eingriff dar, indem sie tief in die Privatsphäre des Weisungs­un­ter­worfenen eindringt und dessen durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde gewährleistete Autonomie, sein Leben frei zu gestalten und seine Individualität zu entwickeln, beeinträchtigt. Sie ist mit der Verfassung deshalb nur vereinbar, soweit sie dem Schutz oder der Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter dient, für deren Gefährdung oder Verletzung im Einzelfall konkrete tatsächliche Anhaltspunkte bestehen. Diesen verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben trägt die Regelungs­kon­zeption von § 68 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB Rechnung. Der intensive Grund­recht­s­eingriff ist aufgrund des Gewichts der geschützten Belange zumutbar und steht insbesondere nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der Rechtsgüter, deren Schutz die elektronische Aufent­halts­über­wachung bezweckt. Die elektronische Aufent­halt­s­er­mittlung unterliegt erheblichen Einschränkungen sowohl hinsichtlich des Adres­sa­ten­kreises einer solchen Weisung als auch hinsichtlich der Schwere der zu erwartenden Straftaten. Ferner darf eine entsprechende Weisung nur erlassen werden, wenn die hinreichend konkrete Gefahr besteht, dass der Betroffene weitere schwere Straftaten der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Art begeht.

Eigen­ver­ant­wortliche Lebens­ge­staltung des Betroffenen nicht wesentlich erschwert

Ein Verstoß gegen das allgemeine Persön­lich­keitsrecht in seiner Ausprägung als Resozi­a­li­sie­rungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Durch das Anlegen der „elektronischen Fußfessel“ wird die eigen­ver­ant­wortliche Lebens­ge­staltung oder die Wieder­ein­glie­derung des Betroffenen in die Gesellschaft nicht wesentlich erschwert. Die „elektronische Fußfessel“ ist im alltäglichen sozialen Umgang nicht ohne Weiteres erkennbar, und das mittels Fußband angebrachte Sendegerät lässt sich durch übliche Kleidung ohne größere Schwierigkeiten verdecken. Betroffene werden jedenfalls nicht „sichtbar gebrandmarkt“ und es ist nicht unmöglich, die „elektronische Fußfessel“ auch im engeren sozialen Bereich zu verbergen. Der Weisungs­be­troffene hat es überwiegend selbst in der Hand, zu bestimmen, inwieweit Außenstehende Kenntnis von der „elektronischen Fußfessel“ erlangen. Vor diesem Hintergrund fehlt es an der gerügten generellen „Stigma­ti­sie­rungs­wirkung“. Mit Blick auf die Aufnahme intimer Kontakte greift die Maßnahme zwar wesentlich stärker in die Lebensführung der Betroffenen ein, etwa weil sich Betroffene aus einem Gefühl der Scham an solchen Kontakten gehindert sehen können. Doch sind auch insoweit die damit verbundenen Einschränkungen der allgemeinen Handlungs­freiheit jedenfalls zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbst­be­stimmung Dritter gerechtfertigt.

Auch keine weiteren gerügten Grundrechte verletzt

Die Beschwer­de­führer sind auch nicht in ihrem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung verletzt. Im Rahmen der elektronischen Aufent­halts­über­wachung werden zwar durchgehend Daten der Weisungs­be­troffenen erhoben, die dem Schutzbereich des infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stim­mungs­rechts unterfallen. Die Erhebung und Verarbeitung dieser Daten ist in § 463 a Abs. 4 StPO aber in einer Weise geregelt, die den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Erhebung und Verwendung perso­nen­be­zogener Daten Rechnung trägt. Auch die Regelung zur Verwendung der erhobenen Daten in § 463 a Abs. 4 StPO ist verhältnismäßig ausgestaltet. Die Anordnung einer elektronischen Aufent­halts­über­wachung darf nur erfolgen, wenn die begründete Wahrschein­lichkeit schwerer Straftaten gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB besteht. Die erhobenen Daten sind gegen unbefugte Kenntnisnahme besonders zu sichern. Hinzu kommt, dass der Eingriff in das informationelle Selbst­be­stim­mungsrecht dadurch begrenzt wird, dass die Aufent­haltsdaten im Falle der Nichtverwendung spätestens zwei Monate nach ihrer Erhebung zu löschen sind (§ 463 a Abs. 4 Satz 5 StPO) und die Kenntnisnahme und Löschung der Daten zu dokumentieren ist (§ 463 a Abs. 4 Satz 8 StPO). Vor diesem Hintergrund ist die Möglichkeit einer Verwendung der erhobenen Daten zur Kontrolle der Einhaltung einer Überwa­chungs­weisung, zur Reaktion auf Weisungs­verstöße sowie zur Gefahrenabwehr als angemessen anzusehen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ist ebenfalls nicht verletzt, weil es an hinreichenden Anhaltspunkten fehlt, dass das ordnungsgemäße Anlegen und Tragen der „elektronischen Fußfessel“ gesund­heits­schädliche oder sonstige mit körperlichen Schmerzen vergleichbare Auswirkungen hat. Jedenfalls wären auch diese allenfalls geringfügigen Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gerechtfertigt. Ein Eingriff in die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG ist nicht gegeben, weil es bereits an einer objektiv berufsregelnden Tendenz der Vorschrift fehlt. Die Weisung der elektronischen Aufent­halts­über­wachung beinhaltet keine Verbote hinsichtlich der Wahl des Berufs oder der Ausbil­dungs­stätte. Sie betrifft die Berufsausübung auch nicht in einem Umfang, der die Annahme einer objektiv berufsregelnden Tendenz zu rechtfertigen vermag. Jedenfalls wäre ein Eingriff angesichts der von § 68 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB betroffenen eng begrenzten „Zielgruppe“ gefährlicher und rückfa­ll­ge­fährdeter Straftäter – gemessen am Maßstab strikter Verhält­nis­mä­ßigkeit – gerechtfertigt.

Siche­rungs­be­langen der Allgemeinheit vorrangig

Die Regelungen der elektronischen Aufent­halts­über­wachung tragen auch dem rechtsstaatlich gebotenen Vertrau­ens­schutz (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) Rechnung. Die gesetzliche Regelung schließt zwar Fälle tatbe­stand­licher Rückanknüpfung (sogenannte „unechte Rückwirkung“) ein, bei der der Gesetzgeber Sachverhalte aus der Vergangenheit zum Anknüp­fungspunkt künftiger Rechtsfolgen macht. Dass der Gesetzgeber den Siche­rungs­be­langen der Allgemeinheit gegenüber dem Vertrauen der Betroffenen auf eine nicht durch staatliche Maßnahmen beeinträchtigte Lebensführung im Rahmen einer Abwägung der Gemein­wohl­belange den Vorrang eingeräumt hat, ist aber verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Ein Eingriff in die weiteren von den Beschwer­de­führern gerügten Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, das Grundrecht der Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG, das Grundrecht der Unver­letz­lichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG und das Rückwir­kungs­verbot aus Art. 103 Abs. 2 GG liegt nicht vor. Auch das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht verletzt. Konven­ti­o­ns­rechtliche Bedenken stehen nicht entgegen. Ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist nicht ersichtlich, dass die elektronische Aufent­halts­über­wachung gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK oder das Rückwir­kungs­verbot gemäß Art. 7 EMRK verstößt. Die jeweilige Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Regelungen zur elektronischen Aufent­halts­über­wachung durch die Fachgerichte ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden und verletzt die Beschwer­de­führer nicht in deren Grundrechten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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