21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.06.2009

BVferfG: Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver des Providers nicht verfas­sungs­widrigVerbre­chens­be­kämpfung rechtfertigt Einschränkungen im Fernmel­de­ge­heimnis

Die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver des Providers ist nicht verfas­sungs­widrig. Zwar greifen diese Maßnahmen in das verfas­sungs­rechtlich gewährleistete Fernmel­de­ge­heimnis aus Art. 10 Abs. 1 GG ein. Die allgemeinen straf­pro­zes­sualen Vorschriften der §§ 94 ff. StPO rechtfertigen jedoch diesen Eingriff in das Fernmel­de­ge­heimnis, wenn dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit und den sachlichen Erfordernissen einer entsprechenden Ausgestaltung des straf­pro­zes­sualen Verfahrens Rechnung getragen wird. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Das Amtsgericht ordnete in einem Ermitt­lungs­ver­fahren gegen Dritte wegen Betrugs und Untreue die Durchsuchung der Wohnung des Beschwer­de­führers an, um dort Unterlagen und Datenträger, insbesondere Textdateien und E-Mails aufzufinden, die als Beweismittel in Betracht kamen. Der Beschwer­de­führer hatte sein E-Mail-Programm so eingestellt, dass seine E-Mails nicht standardmäßig auf seinen lokalen Rechner übertragen wurden, sondern auch nach dem Abruf in einem zugangs­ge­si­cherten Bereich auf dem Mailserver seines Providers gespeichert blieben. Die E-Mails konnten von dem PC des Beschwer­de­führers nur abgerufen werden, indem eine Inter­net­ver­bindung hergestellt wurde. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wies der Beschwer­de­führer die Ermitt­lungs­personen auf diese Sachlage hin. Er verwahrte sich aber gegen einen Zugriff auf die E-Mails, weil der Durch­su­chungs­be­schluss dies nicht zulasse.

Beschlagnahmung aller E-Mails beim Provider

Das Amtsgericht ordnete daraufhin die Beschlagnahme der Daten auf dem E-Mail-Account des Beschwer­de­führers bei seinem Provider an. Der Beschwer­de­führer wusste von diesem Beschluss, der fernmündlich von der Staats­an­walt­schaft aus seinen Räumen beantragt und vom Amtsgericht dorthin übermittelt worden war. Am selben Tag wurden beim Provider die gesamten etwa 2.500 E-Mails des Beschwer­de­führers, die seit Januar 2004 bis März 2006 auf dem Mailserver gespeichert worden waren, auf einen Datenträger kopiert und den Ermitt­lungs­be­hörden übergeben. Die Beschwerde dagegen blieb ohne Erfolg. Auf einen Eilantrag des Beschwer­de­führers wies die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts im Wege einer einstweiligen Anordnung das Amtsgericht an, im Einzelnen bezeichnete Datenträger, Ausdrucke und Schriftstücke zu versiegeln und in Verwahrung zu nehmen.

Keine Verletzung der Grundrechte

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht wies die Verfassungsbeschwerde nunmehr zurück und entschied, dass die angegriffenen Entscheidungen den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben für den damit verbundenen Eingriff in Art. 10 Abs. 1 GG genügen, so dass der Beschwer­de­führer durch die Sicherstellung der E-Mails auf dem Server des Providers nicht in seinen Grundrechten verletzt ist.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde

Der zugangs­ge­si­cherte Kommu­ni­ka­ti­o­ns­inhalt in einem E Mail-Postfach, auf das der Nutzer nur über eine Inter­net­ver­bindung zugreifen kann, ist durch das Fernmel­de­ge­heimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) geschützt. Der Kommu­ni­ka­ti­o­ns­teil­nehmer hat keine technische Möglichkeit, die Weitergabe der E-Mails durch den Provider an Dritte zu verhindern. Dieser technisch bedingte Mangel an Beherr­sch­barkeit begründet die besondere Schutz­be­dürf­tigkeit durch das Fernmel­de­ge­heimnis, welches jenen Gefahren für die Vertraulichkeit begegnen will, die sich aus der Verwendung eines Kommu­ni­ka­ti­o­ns­mediums ergeben, das einem staatlichem Zugriff leichter ausgesetzt ist als die direkte Kommunikation unter Anwesenden. Dies gilt unabhängig davon, ob eine E-Mail auf dem Mailserver des Providers zwischen- oder endgespeichert ist. Dem Schutz durch Art. 10 Abs. 1 GG steht nicht entgegen, dass während der Zeitspanne, während deren die E-Mails auf dem Mailserver des Providers „ruhen“, ein Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­vorgang in einem dynamischen Sinne nicht stattfindet. Art. 10 Abs. 1 GG folgt nicht dem rein technischen Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­begriff des Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­ge­setzes, sondern knüpft an den Grund­recht­s­träger und dessen Schutz­be­dürf­tigkeit aufgrund der Einschaltung Dritter in den Kommu­ni­ka­ti­o­ns­vorgang an. Die spezifische Gefährdungslage und der Zweck der Freiheits­ver­bürgung von Art. 10 Abs. 1 GG bestehen auch dann weiter, wenn die E-Mails nach Kenntnisnahme beim Provider gespeichert bleiben. Die Sicherstellung und Beschlagnahme von auf dem Mailserver des Providers gespeicherten E-Mails greifen in den Schutzbereich des Fernmel­de­ge­heim­nisses ein. Die Auslagerung der E-Mails auf den nicht im Herrschafts­bereich des Nutzers liegenden Mailserver des Providers bedeutet nicht, dass der Nutzer mit dem Zugriff auf diese Daten durch Dritte einverstanden ist.

Die straf­pro­zes­sualen Regelungen der §§ 94 ff. StPO ermöglichen grundsätzlich die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails, die auf dem Mailserver des Providers gespeichert sind. Sie genügen insoweit den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen, die an eine gesetzliche Ermächtigung für Eingriffe in das Fernmel­de­ge­heimnis zu stellen sind. Insbesondere entsprechen sie insoweit dem Gebot der Normen­be­stimmtheit und Normenklarheit.

Einschränkungen des Fernmel­de­ge­heim­nisses gerechtfertigt

§§ 94 ff. StPO sind hinsichtlich der Sicherstellung und Beschlagnahme von auf dem Mailserver des Providers gespeicherten E-Mails auch verhältnismäßig. Die wirksame Strafverfolgung, die Verbre­chens­be­kämpfung und das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheits­er­mittlung im Strafverfahren sind legitime Zwecke, die eine Einschränkung des Fernmel­de­ge­heim­nisses rechtfertigen können. Zur Wahrung der Verhält­nis­mä­ßigkeit ist es nicht geboten, den Zugriff auf beim Provider gespeicherte E-Mails auf Ermittlungen zu begrenzen, die zumindest Straftaten von erheblicher Bedeutung betreffen, und Anforderungen an den Tatverdacht zu stellen, die über den Anfangsverdacht einer Straftat hinausgehen.

Bedeutungsloser Datenbestand ist außer acht zu lassen

Auch der konkrete Eingriff aufgrund von §§ 94 ff. StPO war verhältnismäßig. Dem Schutz des Fernmel­de­ge­heim­nisses muss bereits in der Durch­su­chungs­a­n­ordnung, soweit die konkreten Umstände dies ohne Gefährdung des Unter­su­chungs­zwecks erlauben, durch Vorgaben zur Beschränkung des Beweismaterials auf den erforderlichen Umfang Rechnung getragen werden. Beim Zugriff auf umfangreiche elektronisch gespeicherte E-Mail-Bestände sind die verfas­sungs­recht­lichen Grundsätze zu gewährleisten, die der Senat in seinem Beschluss zur Durchsuchung und Beschlagnahme eines umfangreichen elektronischen Datenbestands entwickelt hat. Die Gewinnung überschießender, für das Verfahren bedeutungsloser Daten ist nach Möglichkeit zu vermeiden.

Sichtung und Trennung verfah­rens­re­le­vanter E-Mails

Eine sorgfältige Sichtung und Trennung der E-Mails nach ihrer Verfah­rens­re­levanz wird am Zugriffsort nicht immer möglich sein. Sofern die Umstände des jeweiligen straf­recht­lichen Vorwurfs und die auch technische Erfassbarkeit des Datenbestands eine unverzügliche Zuordnung nicht erlauben, muss die vorläufige Sicherstellung größerer Teile oder gar des gesamten E-Mail-Bestands erwogen werden, an die sich eine Durchsicht gemäß § 110 StPO zur Feststellung der potenziellen Beweis­er­heb­lichkeit und -verwertbarkeit der E-Mails anschließt. Ist den Straf­ver­fol­gungs­be­hörden im Verfahren der Durchsicht unter zumutbaren Bedingungen eine materielle Zuordnung der verfah­ren­s­er­heb­lichen E-Mails einerseits oder eine Löschung oder Rückgabe der verfah­ren­s­u­ner­heb­lichen E-Mails an den Nutzer andererseits nicht möglich, steht der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit einer Beschlagnahme des gesamten Datenbestands nicht entgegen. Es muss dann aber im Einzelfall geprüft werden, ob der umfassende Datenzugriff dem Übermaßverbot Rechnung trägt.

Sicherstellung

Sicherstellung von E-Mails mit privatem Inhalt'> Bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass ein Zugriff auf gespeicherte Telekom­mu­ni­kation Inhalte erfasst, die zum Kernbereich privater Lebens­ge­staltung zählen, hat er insoweit zu unterbleiben. Es muss sichergestellt werden, dass Kommu­ni­ka­ti­o­ns­inhalte des höchst­per­sön­lichen Bereichs nicht gespeichert und verwertet, sondern unverzüglich gelöscht werden, wenn es ausnahmsweise zu ihrer Erhebung gekommen ist.

Postfachinhaber muss umgehend über Sicher­stel­lungen informiert werden

Der effektive Schutz materieller Grundrechte bedarf auch einer entsprechenden Ausgestaltung des Verfahrens. Werden in einem Postfach auf dem Mailserver des Providers eingegangene E-Mails sichergestellt, ist der Postfachinhaber im Regelfall zuvor von den Straf­ver­fol­gungs­be­hörden zu unterrichten, damit er jedenfalls bei der Sichtung seines E-Mail-Bestands seine Rechte wahrnehmen kann. Werden auf dem Mailserver des Providers gespeicherte E-Mails ausnahmsweise ohne Wissen des Postfa­ch­in­habers sichergestellt, so ist dieser so früh, wie es die wirksame Verfolgung des Ermitt­lungs­zwecks erlaubt, zu unterrichten. Diesen Anforderungen wird durch § 35 StPO und § 98 Abs. 2 Satz 6 StPO Rechnung getragen.

Mögliche Einbeziehung des Inhabers in die Prüfung der Verfah­ren­s­er­heb­lichkeit

Die Durchsicht gemäß § 110 StPO bezweckt die Vermeidung einer übermäßigen und auf Dauer angelegten Datenerhebung. Zur Wahrung der Verhält­nis­mä­ßigkeit kann es im Einzelfall geboten sein, den Inhaber der sicher­ge­stellten E-Mails in die Prüfung der Verfah­ren­s­er­heb­lichkeit einzubeziehen. Ob eine Teilnahme an der Sichtung sicher­ge­stellter E-Mails geboten ist, ist im jeweiligen Einzelfall unter Berück­sich­tigung einer wirksamen Strafverfolgung einerseits und der Intensität des Datenzugriffs andererseits zu entscheiden.

Rückgabe oder Löschung nicht relevanter E-Mails erforderlich

Soweit E-Mails von den Ermitt­lungs­be­hörden gespeichert und ausgewertet werden, kann es erforderlich sein, den Betroffenen Auskunft über die Datenerhebung zu erteilen, um sie in den Stand zu versetzen, etwaige Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen abzuwehren. Dem wird durch die besonderen straf­pro­zes­sualen Auskunfts­re­ge­lungen gemäß § 147, § 385 Abs. 3, § 397 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 385 Abs. 3, § 406 e und § 475 StPO sowie bei Nicht­ver­fah­rens­be­tei­ligten durch § 491 StPO Rechnung getragen. Der begrenzte Zweck der Datenerhebung gebietet grundsätzlich die Rückgabe oder Löschung aller nicht zur Zweckerreichung benötigten kopierten E-Mails. § 489 Abs. 2 StPO enthält entsprechende Schutz­vor­keh­rungen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 79/09 des BVerfG vom 15.07.2009

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