21.11.2024
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Dokument-Nr. 33358

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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.09.2023

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerde bei überlanger Dauer eines Haftprüfungs­verfahrensVerletzung des Rechts effektiven Rechtsschutzes

Das Bundes­verfassungs­gericht der Verfassungs­beschwerde eines Untersuchungs­gefangenen stattgegeben und festgestellt, dass der Beschwer­de­führer aufgrund der überlangen Dauer des Haftprüfungs­verfahrens in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt ist.

Der Beschwer­de­führer geriet in den Verdacht diverser Wirtschaftss­traftaten. Am 30.06.2022 wurde der Beschwer­de­führer verhaftet und der zuvor erlassene Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main in Vollzug gesetzt. Seither befindet er sich ununterbrochen in Unter­su­chungshaft. Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staats­an­walt­schaft die Akten an das Oberlan­des­gericht Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte die Fortdauer der Unter­su­chungshaft gegen den Beschwer­de­führer. Auf der dortigen Geschäftsstelle gingen sie am 28.12.2022 ein. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des 1. Strafsenats eine Abschrift der Übersen­dungs­ver­fügung an die Beteiligten und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 09.012023 beantragte der Beschwer­de­führer die Aufhebung des Haftbefehls. Der Beschwer­de­führer bat das OLG mit Schreiben vom 29.03.2023 um Mitteilung, bis wann mit einer Entscheidung über seine Unter­su­chungshaft zu rechnen sei. Das OLG teilte daraufhin mit, dass der Berich­t­er­statter längerfristig krank­heits­bedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24.03.2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13.04.2023 stellte die zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an. Die am 16.06.203 beim Bundes­ver­fas­sungs­gericht eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Nicht­ent­scheidung des OLG Frankfurt am Main im gesetzlichen Haftprü­fungs­ver­fahren. Zudem hat sich der Beschwer­de­führer zunächst gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main gewandt und die Verfas­sungs­be­schwerde mit dem Antrag verbunden, diesen im Wege der einstweiligen Anordnung aufzuheben. Am 26.06.2023 ordnete das OLG die Fortdauer der Unter­su­chungshaft.

Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist zulässig. Der zwischen­zeitlich ergangene Haftfort­dau­e­r­be­schluss des OLG vom 26.2.023 steht der Zulässigkeit des Feststel­lungs­antrags nicht entgegen. Der Beschwer­de­führer hat ein fortdauerndes Rechts­schutz­be­dürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des Haftprü­fungs­ver­fahrens in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt. Der Haftfort­dau­e­r­be­schluss trifft keine Aussage über eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und lässt das Rechts­schutz­be­dürfnis für eine Feststellung der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG unberührt. Das Rechts­schutz­be­dürfnis ist auch nicht dadurch entfallen, dass das OLG mit seinem Beschluss vom 26.2.023 den vom Beschwer­de­führer beanstandeten Zustand einer unterbliebenen Entscheidung im besonderen Haftprü­fungs­ver­fahren beendet hat. Das OLG hat dadurch, dass es über Monate hinweg im Haftprü­fungs­ver­fahren des § 121 Abs. 1, § 122 Straf­pro­zess­ordnung (StPO) nicht entschieden hat, tiefgreifend in das Recht des Beschwer­de­führers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes eingegriffen, weil es um Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Freiheits­entzugs geht, der seinerseits einen tiefgreifenden Grund­recht­s­eingriff darstellt. Der Beschwer­de­führer hat daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfas­sungs­recht­lichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfas­sungs­wid­rigkeit dieses Grund­recht­s­ein­griffs durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit notwendig

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist offensichtlich begründet. Die überlange Dauer des Haftprü­fungs­ver­fahrens vor dem OLG Frankfurt am Main verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur ein Indivi­du­al­grundrecht; er enthält auch eine objektive Wertent­scheidung. Sie verpflichtet den Gesetzgeber, einen wirkungsvollen Rechtsschutz unabhängig von individuellen Berechtigungen sicherzustellen. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erlangt im Hinblick auf Eingriffe in das Freiheits­grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG besondere Bedeutung. Bei einem Haftprü­fungs­ver­fahren ist außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen. Art. 5 Abs. 4 EMRK gewährt jeder Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheits­ent­ziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheits­ent­ziehung nicht rechtmäßig ist. Wenngleich eine feste zeitliche Grenze nicht existiert, sondern die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Bei einem anhängigen Strafverfahren muss zügig über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden werden, damit die festgenommene Person vollen Umfangs in den Genuss der Unschulds­ver­mutung kommt. Diesen Maßstäben ist das OLG nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26.2.023 eine Entscheidung im besonderen Haftprü­fungs­ver­fahren unterlassen hat. Das OLG hat dadurch in das Grundrecht des Beschwer­de­führers auf effektiven Rechtsschutz eingegriffen. Die Verfahrensakten sind am 28. Dezember 2022 und damit vor Ablauf der Sechs­mo­natsfrist zur Haftprüfung an das Oberlan­des­gericht gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Beschwer­de­führers am 9. Januar 2023 vergingen bis zur Entscheidung des OLG über die Haftfortdauer am 26. Juni 2023 mehr als fünf Monate. Zwar ruht der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 StPO bis zur Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts, so dass dem Beschwer­de­führer formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorge­schriebenen Prüfungen verwehrt worden ist. Indem die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechs­mo­natsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen ist, hat das OLG durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschwer­de­führer faktisch nicht nur die gesetzlich vorgesehene Sechs­mo­nats­prüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.

Angeführte Gründe rechtfertigen keine so lange Verzögerung

Die vom OLG angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht. Bei den festgehaltenen Gründen für die Nicht­be­a­r­beitung handelt es sich um solche, die der Beschwer­de­führer nicht zu vertreten hat und die nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt für den Verweis der Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub und die Corona-Erkrankung in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende „eigene“ Haftsachen. Dass die Richterin erst am 24..2023 für das Verfahren vertre­tungsweise zuständig wurde, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichts­in­ternen Sphäre liegt, dass auf die bereits seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März 2023 reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin am 24.03.2023 bis zur Entscheidung des OLG am 26.06.2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das OLG versäumt, dem Recht des Beschwer­de­führers auf Durchführung der besonderen Haftprüfung praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt hat.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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