15.11.2024
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Dokument-Nr. 6911

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Beschluss22.10.2008Bundesverfassungsgericht2 BvR 749/08
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • DVBl 2008, 1520Zeitschrift: Das Deutsche Verwaltungsblatt (DVBl), Jahrgang: 2008, Seite: 1520
  • JuS 2009, 164 (Michael Sachs)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2009, Seite: 164, Entscheidungsbesprechung von Michael Sachs
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Bundesverfassungsgericht Beschluss22.10.2008

BVerfG setzt hohe Hürden für nachträgliche Sicherungs­verwahrung – Annahme von erheblichen Straftaten und gegenwärtige Gefahr als VoraussetzungErfolgreiche Verfassungs­beschwerde gegen Unterbringungs­befehl im Zusammenhang mit der Anordnung nachträglicher Sicherungs­verwahrung

Wenn nachträglich eine Sicherungs­verwahrung angeordnet werden soll, reicht es nicht aus, dass "sexuelle Übergriffe" befürchtet werden. Es muss vielmehr angenommen werden, dass der in die nachträgliche Sicherungs­verwahrung zu Nehmende mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen. "Sexuelle Übergriffe" müssen nicht notwendiger Weise erhebliche Straftaten sein, entschied das Bundes­verfassungs­gericht.

Der Beschwer­de­führer wurde wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch eines Kindes vom Landgericht zu einer Gesamt­frei­heits­strafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nach Vollzug der Unterbringung und der Freiheitsstrafe ordnete das Landgericht nach § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB in Verbindung mit § 66 Abs. 1 Nr. 1-2, Abs. 4 StGB nachträglich die Sicherungsverwahrung an, weil während der Unterbringung Umstände erkennbar geworden seien, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hindeuteten.

Der Beschwer­de­führer legte gegen dieses Urteil Revision ein. Im März 2008 erließ das Landgericht einen Unter­brin­gungs­befehl, gegen den der Verurteilte Beschwerde einlegte, die durch das Oberlan­des­gericht verworfen wurde. Zwischen­zeitlich hob der 5. Strafsenat des Bundes­ge­richtshofs (Beschluss vom 3. September 2008 - 5 StR 281/08) auf die Revision des Beschwer­de­führers das Urteil des Landgerichts auf und verwies die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Landgericht.

Verfas­sungs­be­schwerde ist erfolgreich

Die Verfassungsbeschwerde gegen den Unter­brin­gungs­befehl und die diesen bestätigende Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts hatte Erfolg. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob diese Entscheidungen auf, da sie den Beschwer­de­führer in seinen Rechten aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzen. Zwar ist § 275 a Abs. 5 StPO als gesetzliche Grundlage des angegriffenen Unter­brin­gungs­befehls verfas­sungs­rechtlich auch insofern nicht zu beanstanden, als die Vorschrift Fälle erfasst, in denen die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung auf der Grundlage des § 66 b Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB zu erwarten ist. Die Anwendung der Vorschrift im vorliegenden Einzelfall durch das Landgericht und das Oberlan­des­gericht ist aber mit dem Freiheits­grundrecht des Beschwer­de­führers nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht zu vereinbaren.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die mit § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB einhergehende Erweiterung der Möglichkeiten zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung verstößt nicht gegen das verfas­sungs­rechtliche Rückwir­kungs­verbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG oder das Doppel­be­stra­fungs­verbot des Art. 103 Abs. 3 GG sowie gegen das rechts­s­taatliche und grundrechtliche Gebot des Vertrau­ens­schutzes (Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG). Die Neuregelung greift zwar in das Freiheits­grundrecht ein, genügt aber insbesondere den Anforderungen des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit und verletzt daher auch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht.

II. Die Auslegung und Anwendung des § 275 a Absatz 5 StPO in Verbindung mit § 66 Absatz 1 StGB in den angegriffenen Entscheidungen genügen allerdings den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht. Die Auffassung des Landgerichts, es bestünden dringende Gründe für die Annahme, dass die nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung des Beschwer­de­führers angeordnet werde, verkennt die hier zu beachtenden Anforderungen des Freiheits­grund­rechts in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit.

Gegenwärtige Gefahr muss vorliegen

1. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts im Unter­brin­gungs­befehl und im - ergänzend heran­zu­zie­henden - Urteil lässt sich zunächst die Gegenwärtigkeit der vom Beschwer­de­führer ausgehenden Gefahr, wie sie von Verfassungs wegen zu fordern ist, nicht bejahen. Ein nur "mittel- oder langfristig" bestehendes Risiko, wie vom Landgericht festgestellt, genügt für den erheblichen Eingriff in das Freiheitsrecht des Beschwer­de­führers nicht.

Hohe Wahrschein­lichkeit der Begehung erheblicher Straftaten, durch die Opfer schwer seelisch oder körperlich geschädigt werden, muss gegeben sein

2. Ferner fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für den vom Landgericht gezogenen Schluss, dass der Beschwer­de­führer mit hoher Wahrschein­lichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Der Prognose der Sachver­ständigen, nach denen der Beschwer­de­führer "sexuelle Übergriffe" begehen werde, hat sich das Landgericht zwar nachvollziehbar angeschlossen. "Sexuelle Übergriffe" sind aber nicht notwendig erhebliche Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Vielmehr versteht darunter auch das Landgericht eine große Bandbreite von Handlungen. Es liegt auf der Hand, dass es in einer solchen Konstellation erforderlich ist, spezifisch zur Wahrschein­lichkeit gerade der gesetzlich einzig bedeutsamen schweren Delikte Stellung zu nehmen. Insofern lässt sich dem Urteil und dem Unter­brin­gungs­befehl jedoch nur entnehmen, dass diese "nicht auszuschließen" seien. Dass ein solcher geringer Wahrschein­lich­keitsgrad nicht genügt, hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits ausdrücklich ausgesprochen und unterliegt angesichts des verfas­sungs­rechtlich notwendigen Ausnah­me­cha­rakters der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung auch keinen Zweifeln.

Quelle: ra-online, BVerfG (pm)

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