21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil24.05.2006

Rücknahme einer durch Täuschung erwirkten Einbürgerung ist rechtensBundes­ver­fas­sungs­gericht weist Verfas­sungs­be­schwerde zurück

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde eines Beschwer­de­führers, der sich gegen die Rücknahme einer durch Täuschung erwirkten Einbürgerung gewandt hatte, zurückgewiesen.

Der Beschwer­de­führer stammt aus Nigeria. Nachdem seine Ehefrau bereits 1997 durch Einbürgerung deutsche Staatsangehörige geworden war, beantragte im November 1999 auch er seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Dabei gab er an, bei einer Firma in Hanau beschäftigt zu sein, und legte eine auf seinen Namen ausgestellte Bescheinigung der Firma über das Bestehen dieses Arbeits­ver­hält­nisses vor. Am 9. Februar 2000 wurde er eingebürgert.

In einem in der Folgezeit gegen den Beschwer­de­führer eingeleiteten straf­recht­lichen Ermitt­lungs­ver­fahren stellte sich heraus, dass er bei der Firma in Hanau nicht bekannt, sondern eine andere Person dort unter seinem Namen beschäftigt war. Im Februar 2002 nahm die zuständige Behörde daraufhin, gestützt auf § 48 des Landes­ver­wal­tungs­ver­fah­rens­ge­setzes, die Einbürgerung des Beschwer­de­führers zurück. Die Einbürgerung sei rechtswidrig gewesen, weil sie voraussetze, dass der Ausländer im Stande sei, sich und seine Angehörigen zu ernähren. Dies sei tatsächlich nicht der Fall gewesen. Da der Beschwer­de­führer die Einbür­ge­rungs­behörde durch Vorlage wissentlich falscher, entschei­dungs­er­heb­licher Unterlagen über das Bestehen eines Arbeits­ver­hält­nisses arglistig getäuscht habe, sei sein Vertrauen auf den Bestand der Einbürgerung nicht schutzwürdig. Der Beschwer­de­führer habe auch derzeit keinen Anspruch auf Einbürgerung, da wegen der im Jahr 2001 erfolgten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe die Einbür­ge­rungs­vor­aus­set­zungen nicht erfüllt seien. Es müsse davon ausgegangen werden, dass der Beschwer­de­führer weiterhin im Besitz der nigerianischen Staatsangehörigkeit sei, so dass er durch die Rücknahme seiner Einbürgerung nicht staatenlos werde. Sollte er tatsächlich staatenlos werden, stünde dies im Übrigen nicht im Gegensatz zum geltenden Recht, denn die Einbürgerung sei auf Grund arglistiger Täuschung vollzogen worden, so dass kein schutzwürdiges Vertrauen bestehe.

Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage des Beschwer­de­führers blieb vor den Fachgerichten erfolglos. Das Verbot der Entziehung der Staats­an­ge­hö­rigkeit in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG sei als Reaktion auf die im natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Staat praktizierte Aberkennung der Staats­an­ge­hö­rigkeit aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen entstanden; es solle gezielte Zwangs­aus­bür­ge­rungen verhindern. Den Fall der Rücknahme einer durch bewußte Täuschung erwirkten Einbürgerung habe der Verfas­sungsgeber nicht im Blick gehabt. In derartigen Fällen stehe daher Artikel 16 Abs. 1 GG der Rücknahme nicht entgegen. Dies gelte auch für den Fall eintretender Staaten­lo­sigkeit. Neben dem Anliegen der Vermeidung von Staaten­lo­sigkeit sei gleichermaßen auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu berücksichtigen. Auf die - im gerichtlichen Verfahren nicht geklärte - Frage, ob der Beschwer­de­führer durch die Rücknahme der Einbürgerung staatenlos geworden ist, komme es daher nicht an.

Vorbringen des Beschwer­de­führers:

Der Beschwer­de­führer rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG.

Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG verbiete die Entziehung der Staats­an­ge­hö­rigkeit. Die Annahme, dass die „erschlichene“ Einbürgerung durch Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nicht geschützt sei, finde im Wortlaut der Bestimmung keinen Anhaltspunkt. Vielmehr werde die Staats­an­ge­hö­rigkeit hier generell gegen Entziehung geschützt. Die Einbürgerung könne auch nicht nach den allgemeinen Rücknah­me­vor­schriften der Verwal­tungs­ver­fah­rens­gesetze zurückgenommen werden. Denn das Staats­an­ge­hö­rig­keits­gesetz enthalte speziellere Regelungen für den Verlust der Staats­an­ge­hö­rigkeit, die einen Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften ausschlössen. Darüber hinaus scheide eine Rücknahme der Einbürgerung auch deswegen aus, weil dies zur Staaten­lo­sigkeit des Beschwer­de­führers führen würde. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verbiete ohne Einschränkung einen Verlust der Staats­an­ge­hö­rigkeit für den Fall, dass der Betroffene hierdurch staatenlos werde. Dies sei hier der Fall.

Entscheidung des Gerichts:

Die Verfassungsbeschwerde wurde nun zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesprochene Verbot der Entziehung der Staats­an­ge­hö­rigkeit stehe der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung nicht entgegen. Auch der in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Schutz vor Staaten­lo­sigkeit schließe in einem solchen Fall die Rücknahme der Einbürgerung nicht aus. Die Rücknahme sei auch aufgrund einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage erfolgt. Die Anwendung des § 48 Verwal­tungs­ver­fah­rens­gesetz des Landes Baden-Württemberg, der allgemein die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte regelt, sei unbedenklich, jedenfalls wenn der Betroffene die Einbürgerung durch Täuschung bewirkt hat. Der parla­men­ta­rische Gesetzgeber sei nicht verpflichtet gewesen, für erschlichene Einbürgerungen eine besondere staats­an­ge­hö­rig­keits­rechtliche Regelung zu treffen. Allerdings bedürfe die Frage, welche Auswirkungen ein Fehlverhalten im Einbür­ge­rungs­ver­fahren auf den Bestand der Staats­an­ge­hö­rigkeit Dritter haben kann, die an diesem Fehlverhalten nicht beteiligt waren, einer Antwort durch den Gesetzgeber.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Das in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesprochene Verbot der Entziehung der Staats­an­ge­hö­rigkeit steht der Rücknahme einer durch Täuschung erwirkten rechtswidrigen Einbürgerung nicht entgegen.

Mit dem Verbot der Entziehung der deutschen Staats­an­ge­hö­rigkeit grenzt die Verfassung sich ab von historischen Mißbräuchen des Staats­an­ge­hö­rig­keits­rechts. Vor Mißbräuchen dieser Art, die der Staats­an­ge­hö­rigkeit ihre Bedeutung als verlässliche Grundlage gleich­be­rech­tigter Zugehörigkeit raubten und sie in ein Mittel der Ausgrenzung statt der Integration verkehrten, soll Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG nach dem Willen des Verfas­sungs­gebers Schutz gewährleisten. Entziehung ist danach jede Verlustzufügung, die die Funktion der Staats­an­ge­hö­rigkeit als verlässliche Grundlage gleich­be­rech­tigter Zugehörigkeit beeinträchtigt. Zur Verlässlichkeit des Staats­an­ge­hö­rig­keit­status gehört auch die Vorher­seh­barkeit eines Verlusts und damit ein ausreichendes Maß an Rechts­si­cherheit und Rechtsklarheit im Bereich der staats­an­ge­hö­rig­keits­recht­lichen Verlust­re­ge­lungen.

Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG schließt danach die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung nicht grundsätzlich aus. Wenn demjenigen, der durch Täuschung oder vergleichbares Fehlverhalten eine rechtswidrige Einbürgerung erwirkt hat, die missbräuchlich erworbene Rechtsposition nicht belassen wird, beeinträchtigt dies weder ein berechtigtes Vertrauen des Betroffenen noch kann das Stabi­li­täts­ver­trauen Anderer, die sich im Verfahren ihrer Einbürgerung solche Missbräuche nicht haben zuschulden kommen lassen, beschädigt werden.

2. Auch der in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Schutz vor Staaten­lo­sigkeit steht der Rücknahme der Einbürgerung des Beschwer­de­führers nicht entgegen.

Die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung daran scheitern zu lassen, dass der Betroffene dadurch möglicherweise staatenlos wird, läge so eindeutig außerhalb des Sinns und Zwecks der Vorschrift, dass der insoweit überschießende Wortlaut für die Auslegung nicht maßgeblich sein kann. Der Schaffung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG lag die Absicht zugrunde, sich in Abgrenzung von der natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Ausbür­ge­rungs­politik und den Ausbürgerungen, von denen Deutsche im Zuge der Vertreibungen betroffen waren, an völker­rechtliche Bestrebungen zur Bekämpfung der Staaten­lo­sigkeit anzuschließen. Mit dieser Zielsetzung ist die Inkaufnahme von Staaten­lo­sigkeit im Fall der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung vereinbar. Es gab und gibt weder einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts noch eine die Bundesrepublik Deutschland bindende völker­rechtliche Vereinbarung, die die Inkaufnahme von Staaten­lo­sigkeit in einem solchen Fall ausschließen. In den völker­recht­lichen Vereinbarungen wird Staaten­lo­sigkeit gerade für den Fall der Rücknahme erschlichener Einbürgerungen ausdrücklich hingenommen.

3. Die in § 48 Verwal­tungs­ver­fah­rens­gesetz des Landes Baden-Württemberg (LVwVfGBW) getroffene allgemeine Regelung über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte reicht hier als gesetzliche Grundlage der Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung aus.

a) Nach Ansicht der Richter Hassemer, Di Fabio, Mellinghoff und Landau genügt die Bestimmung den Anforderungen des in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG konkretisierten Geset­zes­vor­behalts, jedenfalls wenn der Betroffene die Einbürgerung durch Täuschung bewirkt hat. Ihre Anwendung ist nicht wegen fehlender Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Landes Baden-Württemberg ausgeschlossen. Der parla­men­ta­rische Gesetzgeber war auch nicht verpflichtet, für erschlichene Einbürgerungen eine besondere staats­an­ge­hö­rig­keits­rechtliche Regelung zu wählen.

Art. 16 Abs. 1 GG fordert eine der Bedeutung des Staats­an­ge­hö­rig­keits­status angemessene gesetzliche Ausgestaltung für den Erwerb, die Aufhebung der Einbürgerung und den Verlust der Staats­an­ge­hö­rigkeit. Ob diese Anforderungen erfüllt sind, kann nicht allein nach der systematischen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gesetz entschieden, sondern muss vor allem danach beurteilt werden, ob den inhaltlichen verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben Rechnung getragen wird. Im vorliegenden Fall, da der Betroffene selbst nachweislich durch Täuschung die Einbürgerung herbeiführte und diese zeitnah zurückgenommen wird, ist der grundrechtlich geforderten Rechts­si­cherheit und Normenklarheit Genüge getan, wenn der Betroffene anhand einer allgemeinen gesetzlichen Verwal­tungs­ver­fah­rens­vor­schrift die Folge der Rücknahme voraussehen kann. In einem solchen Fall steht dem Täuschenden kein schützenswertes Vertrauen zu, so dass das rechts­s­taatliche Interesse an der rückwirkenden Wieder­her­stellung rechtmäßiger Zustände regelmäßig überwiegt. Mit § 48 LVwVfGBW besteht eine Regelung, in der das Ermessen der Verwaltung durch ein rechts­s­taat­liches Abwägungs­programm zwischen Vertrau­ens­schutz und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung begrenzt wird.

Allerdings sind Fallkon­stel­la­tionen möglich, die in § 48 LVwVfGBW keine hinreichende gesetzliche Ermäch­ti­gungs­grundlage finden. Die Regelungs­be­dürf­tigkeit der Aufhebung von Einbürgerungen sowie der Nichtigkeit von Einbür­ge­rungsakten zeigt sich insbesondere bei – im vorliegenden Fall nicht einschlägigen – Konstellationen, in denen die Rechtmäßigkeit der Einbürgerung von Angehörigen, insbesondere von Kindern, im Vordergrund steht. Die Frage, welche Auswirkungen ein Fehlverhalten im Einbür­ge­rungs­ver­fahren auf den Bestand der Staats­an­ge­hö­rigkeit Dritter haben kann, die an diesem Fehlverhalten nicht beteiligt waren, bedarf einer Antwort durch den Gesetzgeber.

b) Nach Ansicht der Richterinnen und Richter Broß, Osterloh, Lübbe- Wolff und Gerhardt reicht § 48 LVwVfGBW als gesetzliche Grundlage für die Rücknahme einer Einbürgerung nicht aus.

Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Möglichkeit der Rücknahme von Einbürgerungen, hat er Reichweite und Grenzen dieser Möglichkeit selbst zu bestimmen und die notwendigen Abwägungs­ent­schei­dungen unter Berück­sich­tigung der Besonderheiten der Materie selbst zu treffen. Art. 16 Abs. 1 GG liegt die Absicht des Verfas­sungs­gebers zugrunde, in Bezug auf den Bestand der Staats­an­ge­hö­rigkeit besonders strenge Vorkehrungen gegen gleich­heits­widrige Behandlung zu treffen. Der gesetzlichen Vorprägung behördlicher Entscheidungen als der elementarsten Form der Gleich­heits­si­cherung kommt daher gerade hier besonders große Bedeutung zu.

Gegen die Heranziehung von § 48 LVwVfGBW als Rechtsgrundlage für die Rücknahme von Einbürgerungen bestehen schon aus kompe­tenz­recht­lichen Gründen erhebliche Bedenken. Jedenfalls genügt § 48 LVwVfGBW inhaltlich nicht den Anforderungen an eine Verlustregelung im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung die erforderlichen grund­rechtss­pe­zi­fischen Entscheidungen gerade nicht getroffen. Die als allgemeine Auffang­vor­schrift für die Rücknahme von Verwal­tungsakten konzipierte Bestimmung des § 48 LVwVfGBW ist auf die besonderen Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Rücknahme von Einbür­ge­rungs­ent­schei­dungen stellen, in keiner Weise zugeschnitten. Wesentliche Fragen der sachlichen und zeitlichen Reichweite der Rücknehmbarkeit von Einbürgerungen, über die der Gesetzgeber zu entscheiden hat, beantwortet die Vorschrift nicht, sondern überlässt sie der Klärung durch Behörden und Gerichte. Dies gilt auch für den konkreten Fall. Ob eine ausreichende Befugnisnorm für einen hoheitlichen Eingriff vorhanden ist, hängt zudem nicht von der Beschaffenheit des konkreten Einzelfalles ab. Die erforderliche gesetz­ge­be­rische Abwägung kann nicht durch ein Evidenzerlebnis ersetzt werden. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage ist von der materiellen Bewertung des Grund­recht­s­ein­griffs unabhängig.

c) Da der Senat mit Stimmen­gleichheit entschieden hat, kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden (§ 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG). Die Verfas­sungs­be­schwerde hatte daher keinen Erfolg.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 106/05 u. 41/06 des BVerfG vom 28.10.2005 u. 24.05.2006

der Leitsatz

1. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG schließt die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung nicht grundsätzlich aus.

2. Eine Auslegung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG, nach der das Verbot der Inkaufnahme von Staaten­lo­sigkeit sich auch auf den Fall der erschlichenen Einbürgerung erstreckte, entspricht nicht dem Willen des Verfas­sungs­gebers; sie liegt außerhalb des Schutzzwecks der Norm.

3. Für den Fall der zeitnahen Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte selbst getäuscht hat, bietet § 48 Verwal­tungs­ver­fah­rens­gesetz für Baden-Württemberg eine ausreichende Ermäch­ti­gungs­grundlage.

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