18.10.2024
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Dokument-Nr. 15457

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Urteil19.03.2013Bundesverfassungsgericht2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • AnwBl 2013, 381Zeitschrift: Anwaltsblatt (AnwBl), Jahrgang: 2013, Seite: 381
  • JuS 2013, 659Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2013, Seite: 659
  • NJW 2013, 1058Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2013, Seite: 1058
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Urteil19.03.2013

BVerfG zu Deals im Strafprozess: Gesetzliche Regelungen zur Verständigung im Strafprozess noch verfas­sungsgemäßInformelle Absprachen sind unzulässig

Die gesetzlichen Regelungen zur Verständigung im Strafprozess sind trotz eines erheblichen Vollzugs­de­fizits derzeit noch nicht verfas­sungs­widrig. Der Gesetzgeber muss jedoch die Schutz­me­cha­nismen, die der Einhaltung der verfassungs­rechtlichen Anforderungen dienen, fortwährend auf ihre Wirksamkeit überprüfen und gegebenenfalls nachbessern. Unzulässig sind sogenannte informelle Absprachen, die außerhalb der gesetzlichen Regelungen erfolgen. Dies hat das Bundes­verfassungs­gericht entschieden. Zugleich hat das Bundes­verfassungs­gericht die von den Beschwer­de­führern angegriffenen fachge­richt­lichen Entscheidungen wegen Verfassungs­verstößen im jeweiligen Verfahren aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Dem zugrunde liegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwer­de­führer wenden sich gegen ihre straf­ge­richtliche Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung zwischen Gericht und Verfah­rens­be­tei­ligten. In den Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10 richten sich die Verfas­sungs­be­schwerden zudem gegen die Vorschrift des § 257 c Straf­pro­zess­ordnung (StPO), die durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (im Folgenden: Verstän­di­gungs­gesetz) eingefügt worden ist. Die Verfas­sungs­be­schwerden sind begründet, soweit sie sich gegen die angegriffenen Entscheidungen richten; im Übrigen haben sie keinen Erfolg.

Staat muss funkti­o­ns­tüchtige Straf­rechts­pflege gewährleisten

Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz, der Verfassungsrang hat. Dieser ist in der Garantie der Würde und Eigen­ver­ant­wort­lichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechts­s­taats­prinzip verankert (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Staat ist von Verfassungs wegen gehalten, eine funkti­o­ns­tüchtige Straf­rechts­pflege zu gewährleisten. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt.

Ausgestaltung der Verfah­rens­rechte sind dem Gesetzgeber aufgegeben

Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Beschuldigten, prozessuale Rechte wahrzunehmen und Übergriffe - insbesondere staatlicher Stellen - angemessen abwehren zu können. Die Ausgestaltung dieser Verfah­rens­rechte ist in erster Linie dem Gesetzgeber aufgegeben. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde. Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funkti­o­ns­tüchtigen Straf­rechts­pflege einschließlich des Beschleu­ni­gungs­grund­satzes in den Blick zu nehmen.

Mitwirkung im Strafverfahren ist Beschuldigtem selbst überlassen

Der Grundsatz der Selbst­be­las­tungs­freiheit und die Unschulds­ver­mutung sind im Rechts­s­taats­prinzip verankert und haben Verfassungsrang. Insbesondere muss der Beschuldigte frei von Zwang eigen­ver­ant­wortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren mitwirkt.

Gesetzgeber hat Verstän­di­gungs­gesetz für notwendig erachtet

Ausgehend davon tragen Verständigungen zwar das Risiko in sich, dass die verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht schlechthin verwehrt, sie zur Verfah­rens­ver­ein­fachung zuzulassen. Um den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben gerecht zu werden, hat es der Gesetzgeber für notwendig erachtet, klare gesetzliche Vorgaben für das in der Praxis bedeutsame, aber stets umstritten gebliebene Institut der Verständigung zu schaffen. Mit dem Verständigungsgesetz hat er kein neues, „konsensuales“ Verfah­rens­modell eingeführt, sondern die Verständigung in das geltende Straf­pro­zess­rechts­system integriert.

Verstän­di­gungs­ba­siertes Geständnis zwingend auf Richtigkeit zu überprüfen

Das Verstän­di­gungs­gesetz verweist ausdrücklich darauf, dass die Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, unberührt bleibt. Damit hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine Verständigung als solche niemals alleinige Urteils­grundlage sein kann, sondern weiterhin ausschließlich die Überzeugung des Gerichts. Zudem ist das verstän­di­gungs­ba­sierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Soweit der praktische Anwen­dungs­bereich von Verständigungen dadurch beschränkt wird, ist dies die zwangsläufige Konsequenz der Einfügung in das System des geltenden Straf­pro­zess­rechts. Auch die rechtliche Würdigung ist der Disposition im Rahmen einer Verständigung entzogen; dies gilt auch für eine Straf­rah­men­ver­schiebung bei besonders schweren oder minder schweren Fällen.

Verstän­di­gungs­gesetz beschränkt Verständigung auf Gegenstand der Haupt­ver­handlung

Das Verstän­di­gungs­gesetz regelt die Zulässigkeit einer Verständigung im Strafverfahren abschließend. Es untersagt damit die beschönigend als „informell“ bezeichneten Vorgehensweisen bei einer Verständigung. Zudem beschränkt es die Verständigung auf den Gegenstand der Haupt­ver­handlung. Sogenannte „Gesamtlösungen“, bei denen die Staats­an­walt­schaft auch die Einstellung anderer Ermitt­lungs­ver­fahren zusagt, sind daher unzulässig.

Mit Verständigung verbundene Vorgänge müssen in Haupt­ver­handlung einbezogen werden

Transparenz und Dokumentation von Verständigungen stellen einen Schwerpunkt des Regelungs­konzepts dar. Dies soll eine effektive Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staats­an­walt­schaft und Rechts­mit­tel­gericht gewährleisten. Insbesondere müssen die mit einer Verständigung verbundenen Vorgänge umfassend in die - regelmäßig öffentliche - Haupt­ver­handlung einbezogen werden. Dies bekräftigt zugleich, dass die richterliche Überzeugung sich auch nach einer Verständigung aus dem Inbegriff der Haupt­ver­handlung ergeben muss.

Rechtswidrige Verständigung bei Verstoß gegen Transparenz- und Dokumen­ta­ti­o­ns­pflichten

Ein Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumen­ta­ti­o­ns­pflichten führt grundsätzlich zur Rechts­wid­rigkeit einer gleichwohl getroffenen Verständigung. Hält sich das Gericht an eine solche gesetzeswidrige Verständigung, wird ein Beruhen des Urteils auf diesem Gesetzesverstoß regelmäßig nicht auszuschließen sein.

Staats­an­walt­schaft muss rechtswidrige Verständigungen versagen

Eine herausgehobene Bedeutung kommt der Kontrolle durch die Staats­an­walt­schaft zu. Sie ist nicht nur gehalten, ihre Zustimmung zu einer geset­zes­widrigen Verständigung zu versagen, sondern hat auch Rechtsmittel gegen Urteile einzulegen, die auf einer solchen Verständigung beruhen. Weisungs­ge­bun­denheit und Berichts­pflichten ermöglichen es zudem, diese Kontroll­funktion der Staats­an­walt­schaft nach einheitlichen Standards auszuüben.

Durch Belehrung soll Angeklagter Entscheidung über Mitwirkung treffen

Schließlich sieht das Verstän­di­gungs­gesetz vor, dass der Angeklagte darüber zu belehren ist, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen das Gericht von dem in Aussicht gestellten Ergebnis abweichen kann. Diese Belehrung soll den Angeklagten in die Lage versetzen, eine autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung zu treffen. Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht wird im Rahmen der revisi­ons­ge­richt­lichen Prüfung regelmäßig davon auszugehen sein, dass das Geständnis und damit auch das Urteil hierauf beruhen.

Einhaltung verfas­sungs­recht­licher Vorgaben durch Verstän­di­gungs­gesetz gesichert

Das Verstän­di­gungs­gesetz sichert die Einhaltung der verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben in ausreichender Weise. Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verstän­di­gungs­ge­setzes führt derzeit nicht zur Verfas­sungs­wid­rigkeit der gesetzlichen Regelung.

Bei lückenhafter oder unzureichender Schutz­me­cha­nismen Regelungs­konzept verfas­sungs­widrig

Verfas­sungs­widrig wäre das gesetzliche Regelungs­konzept nur, wenn die vorgesehenen Schutz­me­cha­nismen in einer Weise lückenhaft oder sonst unzureichend wären, die eine gegen das Grundgesetz verstoßende „informelle“ Absprachepraxis fördert, das Vollzugsdefizit also durch die Struktur der Norm determiniert wäre.

Fehlende Praxi­s­taug­lichkeit der Vorschriften

Weder das Ergebnis der empirischen Erhebung noch die in den Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahren abgegebenen Stellungnahmen zwingen zu der Annahme, dass es strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungs­konzepts sind, die zu dem bisherigen Vollzugsdefizit geführt haben. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Als Hauptgrund wird in der empirischen Untersuchung eine „fehlende Praxi­s­taug­lichkeit“ der Vorschriften genannt. Dies spricht für ein bisher nur unzureichend ausgeprägtes Bewusstsein, dass es Verständigungen ohne die Einhaltung der Anforderungen des Verstän­di­gungs­ge­setzes nicht geben darf.

Gesetzgeber muss Entwicklung weiter im Auge behalten

Der Gesetzgeber muss die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetzen und das Verstän­di­gungs­gesetz nicht ausreichen, um das festgestellte Vollzugsdefizit zu beseitigen, muss der Gesetzgeber der Fehlentwicklung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken. Unterbliebe dies, träte ein verfas­sungs­widriger Zustand ein.

Entscheidungen mit Vorgaben des Grundgesetzes nicht vereinbar

Die mit den Verfas­sungs­be­schwerden angefochtenen fachge­richt­lichen Entscheidungen sind mit den Vorgaben des Grundgesetzes für eine Verständigung im Strafprozess nicht zu vereinbaren.

Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10: Verletzung des Rechts auf faires, rechts­s­taat­liches Verfahren und Verstoß gegen Selbst­be­las­tungs­freiheit

Die von den Beschwer­de­führern der Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10 angegriffenen Entscheidungen verletzen sie in ihrem Recht auf ein faires, rechts­s­taat­liches Verfahren und verstoßen gegen die Selbst­be­las­tungs­freiheit. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist. Fließt das unter Verstoß gegen die Beleh­rungs­pflicht abgegebene Geständnis in das Urteil ein, beruht dieses Urteil auf der Grund­rechts­ver­letzung, es sei denn eine Ursächlichkeit des Beleh­rungs­fehlers für das Geständnis kann ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte dieses auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte. Hierzu müssen vom Revisi­ons­gericht konkrete Feststellungen getroffen werden.

Verfahren 2 BvR 2155/11: Verstoß gegen verfas­sungs­recht­lichen Schuldgrundsatz wegen Verurteilung aufgrund ungeprüften Formal­ge­ständ­nisses

Die im Verfahren 2 BvR 2155/11 angegriffene landge­richtliche Entscheidung verstößt schon deshalb gegen den verfas­sungs­recht­lichen Schuldgrundsatz, weil das Landgericht den Beschwer­de­führer im Wesentlichen auf Grundlage eines ungeprüften Formal­ge­ständ­nisses verurteilt hat. Darüber hinaus beruht das Urteil auf einer Verständigung, die unzulässig über den Schuldspruch disponiert hat. In diesem Fall ist auch die Grenze zu einer verfas­sungs­widrigen Beein­träch­tigung der Selbst­be­las­tungs­freiheit deutlich überschritten. Das Landgericht hat eine - schon für sich gesehen übermäßige - Differenz zwischen den beiden Strafgrenzen noch zusätzlich mit der Zusage einer Strafaussetzung zur Bewährung verbunden, die überhaupt nur aufgrund der Straf­rah­men­ver­schiebung zu einem minder schweren Fall möglich war.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online

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