18.10.2024
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Dokument-Nr. 17786

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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.02.2014

Bundes­verfassungs­gericht untersagt Zeugen­ver­nehmung in Sexual- und Körper­verletzungs­delikt wegen drohender Retrau­ma­ti­sierungEinstweilige Anordnung gegen Ablehnung einer audiovisuellen Zeugen­ver­nehmung in einem Strafprozess

Das Bundes­verfassungs­gericht hat dem Landgericht Waldshut-Tiengen im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Vernehmung einer Zeugin untersagt, sofern diese Vernehmung nicht audiovisuell durchgeführt wird. Bei der audiovisuellen Zeugen­ver­nehmung wird die Aussage aus einem anderen Raum zeitgleich in Bild und Ton in den Sitzungssaal übertragen. Die Beschwer­de­führerin ist ein mutmaßliches Opfer des Angeklagten, dem Sexual- und Körper­verletzungs­delikte zur Last gelegt werden. Zur Begründung verweist das Bundes­verfassungs­gericht im Wege der Folgenabwägung auf die Gefahr einer irreparablen Rechts­beein­trächtigung, falls die Vernehmung im Sitzungssaal tatsächlich, wie von der Beschwer­de­führerin geltend gemacht, zu einer Retrau­ma­ti­sierung aufgrund der unmittelbaren Konfrontation mit dem Angeklagten führt.

Die Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Verfahrens ist für den 4. März 2014 in einem Strafprozess vor dem Landgericht Waldshut-Tiengen als Zeugin geladen. Die Staats­an­walt­schaft wirft dem Angeklagten vor, Frauen in mehreren Fällen - auch der Beschwer­de­führerin - bei Verabredungen heimlich bewusst­sein­s­trübende Substanzen in ihre Getränke gemischt und mit ihnen gegen ihren Willen den Geschlechts­verkehr vollzogen zu haben. Der Angeklagte streitet die Vorwürfe mit der Begründung ab, der Geschlechts­verkehr sei jeweils einvernehmlich erfolgt.

Therapeutische Fortschritte des Opfers würden durch Aussage in Anwesenheit des Angeklagten gefährdet

Die Beschwer­de­führerin hat beantragt, die Zeugen­ver­nehmung gemäß § 247 a Abs. 1 Straf­pro­zess­ordnung audiovisuell durchzuführen, da anderenfalls die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihr psychisches Wohl bestehe. Sie habe das Geschehen verdrängt und einem emotionalen Zugang verschlossen. Bereits die Zeugen­ver­nehmung durch die Polizei habe ihr Leben „aus den Bahnen“ geworfen. Erste therapeutische Fortschritte seien gefährdet, wenn sie erneut mit dem Angeklagten im selben Raum konfrontiert werde oder in der Atmosphäre einer Haupt­ver­handlung - selbst bei Ausschluss der Öffentlichkeit - das angeklagte Tatgeschehen in unmittelbarer Gegenwart der im Strafverfahren notwendig Anwesenden schildern müsse. Dies komme einem erneuten Durchleben der Tat mit Zuschauern gleich.

LG lehnt Antrag auf audiovisuelle Zeugen­ver­nehmung ab

Das Landgericht lehnte den Antrag durch Beschluss vom 5. Februar 2014 ab. Die Beschwer­de­führerin hat hiergegen Verfas­sungs­be­schwerde erhoben und diese mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden.

Die wesentlichen Erwägungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

Nach § 32 Abs. 1 Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­gesetz kann das Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfas­sungs­wid­rigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfas­sungs­be­schwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang muss das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfas­sungs­be­schwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfas­sungs­be­schwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.

LG hat Abwägungs­ent­scheidung voraussichtlich zu Gunsten der Interessen des Angeklagten und der Straf­rechts­pflege getroffen

Die Verfas­sungs­be­schwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Beschwer­de­führerin auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verkannt hat. Vorliegend spricht vieles dafür, dass das Landgericht seine Abwägungs­ent­scheidung zu Gunsten der Interessen des Angeklagten und der Straf­rechts­pflege getroffen hat, ohne das entge­gen­stehende Interesse der Beschwer­de­führerin überhaupt zuverlässig gewichten zu können. Angesichts der konkreten Anhaltspunkte für eine posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung in Gestalt eines ärztlichen Befundberichts und einer Stellungnahme des Frauen- und Kinder­schutz­hauses, in welchen zudem ausdrücklich auf die im Falle der unmittelbaren Vernehmung bestehende Gefahr der „längerfristigen seelischen Desta­bi­li­sierung“ hingewiesen worden ist, hätte sich das Landgericht wohl nicht mehr darauf beschränken dürfen, auf die nach seiner Auffassung nicht eindeutig festgestellte Gefahr für die seelische Gesundheit der Beschwer­de­führerin zu verweisen. Die Annahme liegt nicht fern, dass das Gericht gehalten war, durch ergänzende Befragung der behandelnden Ärztin oder Zuziehung eines Sachver­ständigen unter Berück­sich­tigung der individuellen Belastbarkeit der Beschwer­de­führerin bestehende Zweifel über das Gewicht der drohenden Nachteile und den Grad der Gefahr ihrer Verwirklichung auszuräumen, um seine Abwägungs­ent­scheidung auf einer tragfähigen Tatsa­chen­grundlage vornehmen zu können.

Entscheidung des Landgerichts aufgrund unzureichender Ausstattung mit technischen Sachmitteln ist als sachfremde Erwägung anzusehen

Auch der gerügte Verstoß gegen das Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG) erscheint nach dem Vorbringen der Beschwer­de­führerin nicht offensichtlich ausgeschlossen. Sollte eine unzureichende Ausstattung mit technischen Sachmitteln ermes­sens­lenkend auf die Entscheidung des Gerichts eingewirkt haben, läge hierin eine sachfremde Erwägung, die unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar wäre, ohne dass es auf ein schuldhaftes Handeln des Gerichts ankäme. Die Erfolgs­aus­sichten der Verfas­sungs­be­schwerde stellen sich - abhängig von den konkreten Umständen - insoweit als offen dar.

Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung überwiegen

Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfas­sungs­be­schwerde später aber als begründet, könnte die Vernehmung der Beschwer­de­führerin in Anwesenheit des Angeklagten und der notwendig Anwesenden in der Zwischenzeit vollzogen werden. Gegenüber dieser Gefahr einer irreparablen Rechts­be­ein­träch­tigung wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfas­sungs­be­schwerde in der Hauptsache aber keinen Erfolg hätte, weniger schwer.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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