18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss15.05.2019

Bei Suizidgefahr kann Zwangs­ver­stei­gerung für längeren Zeitraum oder auf unbestimmte Zeit einzustellen seinVerfassungs­beschwerde gegen die Versagung von Vollstreckungs­schutz in einem Zwangs­versteigerungs­verfahren erfolgreich

Lehnt ein Vollstreckungs­gericht die einstweilige Einstellung der Zwangs­ver­stei­gerung mit der Begründung ab, dass der Gefahr eines Suizids des Betroffenen durch dessen zeitweilige Unterbringung vor Erteilung des Zuschlags begegnet werden könne, muss es sicherstellen, dass die zuständigen Stellen rechtzeitig tätig werden. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und gab damit der Verfassungs­beschwerde einer Vollstreckungs­schuldnerin statt, der im Zwangs­versteigerungs­verfahren Vollstreckungs­schutz gemäß § 765 a ZPO versagt worden war. Das Bundes­verfassungs­gericht hat den entsprechenden Beschluss des Beschwer­de­ge­richts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung dorthin zurückverwiesen. Der Beschluss lasse nicht erkennen, dass das Gericht geeignete - der Suizidgefahr effektiv entge­gen­wirkende - Vorkehrungen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt habe.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die 53jährige alleinstehende Beschwer­de­führerin beantragte im Rahmen des Zwangs­ver­stei­ge­rungs­ver­fahrens ihres Hausgrund­s­tückes Vollstre­ckungs­schutz gemäß § 765 a ZPO. Die Fortführung des Verstei­ge­rungs­ver­fahrens gefährde ihre Gesundheit und ihr Leben akut. Der mit dem Zuschlag verbundene Verlust ihres Hausgrundstücks werde eine unkon­trol­lierbare psychische Überbelastung verursachen und lebensbeendende Suizid­hand­lungen sehr wahrscheinlich machen. Zum Beweis ihres Vortrags bot die Beschwer­de­führerin die Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens an.

AG verneint ausreichend vorgetragene und glaubhaft gemachte Suizidgefahr

Das Amtsgericht führte den bereits angesetzten Verstei­ge­rungs­termin durch. In einem gesonderten Verkün­dungs­termin wies es den Vollstre­ckungs­schutz­antrag zurück und erteilte dem Meistbietenden den Zuschlag. Die Suizidgefahr sei nicht ausreichend vorgetragen und glaubhaft gemacht worden. Zudem fehle es an Vortrag, wie die Beschwer­de­führerin selbst zur Verbesserung ihres Gesund­heits­zu­stands beitrage.

LG ordnet Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens an

Auf die sofortige Beschwerde der Beschwer­de­führerin stellte das Landgericht Dessau-Roßlau die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlags­be­schluss einstweilen ein und ordnete die Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens an. Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass der Verlust des Hauses bei dem aktuellen psychischen Zustand der Beschwer­de­führerin geeignet sei, eine lebensbeendende Handlung sehr wahrscheinlich zu machen. Das Landgericht wies die sofortigen Beschwerden gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts sowie die Anhörungsrüge der Beschwer­de­führerin zurück.

Gewährleistete Grundrechte von Schuldnern in der Zwangs­voll­streckung sind zu berücksichtigen

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass der Beschluss des Landgerichts gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verstößt. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichte die Vollstre­ckungs­ge­richte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765 a ZPO auch die Wertent­schei­dungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangs­voll­streckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände könne in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen sei, so das Gericht. Ergebe die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangs­voll­streckung entge­gen­ste­henden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstre­ckungs­maßnahme dienen soll, so könne der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhält­nis­mä­ßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Die Vollstre­ckungs­ge­richte haben in ihrer Verfah­rens­ge­staltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfas­sungs­ver­let­zungen durch Zwangs­voll­stre­ckungs­maß­nahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird. Dies könne es erfordern, dass Beweisangeboten des Schuldners, ihm drohten schwerwiegende Gesund­heits­be­ein­träch­ti­gungen, besonders sorgfältig nachgegangen werde. Ein Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Betreu­ungs­ge­richte könne laut Gericht allenfalls dann verfas­sungs­rechtlich tragfähig sein, wenn diese entweder Maßnahmen zum Schutz des Betroffenen getroffen oder aber eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösende Moment nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint haben. Liege eine solche Situation nicht vor und gelange das Vollstre­ckungs­gericht zu dem Schluss, dass eine zeitweilige Unterbringung des Betroffenen vor Erteilung des Zuschlags zum Schutz seines Lebens geboten sei und andere Schutzmaßnahmen - wie etwa eine einstweilige Einstellung der Zwangsversteigerung, gegebenenfalls gegen Auflagen - nicht in Betracht kämen, müsse es sicherstellen, dass die zuständigen öffentlichen Stellen rechtzeitig tätig werden.

Vorgenommene Abwägung mit Vollstre­ckungs­in­teresse der Gläubigerinnen genügt nicht verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen

Danach ist der Beschluss des Landgerichts mit dem Grundrecht der Beschwer­de­führerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht zu vereinbaren. Zwar habe das Landgericht dieses Grundrecht bei seiner Entscheidung berücksichtigt und eine Abwägung mit dem Vollstre­ckungs­in­teresse der Gläubigerinnen vorgenommen, diese genüge den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen jedoch nicht.

LG missachtet in Entscheidung Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit

Das Landgericht unterstelle - entgegen eigener Überzeugung - die vom Gutachten angenommene Suizidgefahr der Beschwer­de­führerin. Eine vorübergehende Einstellung habe es dennoch mit der Begründung abgelehnt, dass der Gefahr der Selbsttötung durch die von der Sachver­ständigen aufgezeigte Möglichkeit der Herausnahme der Beschwer­de­führerin aus ihrem häuslichen Umfeld und eine vorübergehende Unterbringung während der Dauer des Zwangs­ver­stei­ge­rungs­ver­fahrens gegen ihren Willen begegnet werden könne. Hierbei habe das Landgericht jedoch zum einen den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit missachtet, da es verkannt habe, dass die Sachverständige die (unfreiwillige) Unterbringung erst als zweiten Schritt nach einer tagesklinischen oder stationären Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer psychiatrischen Abteilung eines Allge­mein­kran­ken­hauses empfohlen habe. Für eine stationäre Behandlung gegen den Willen der Beschwer­de­führerin spreche sich die Sachverständige hingegen erst für den Fall aus, dass es der Beschwer­de­führerin nicht möglich sein sollte, entsprechende Fortschritte innerhalb von sechs Monaten zu machen. Die angegriffene Entscheidung enthalte keine Ausführungen dazu, warum eine einstweilige Einstellung unter der Erteilung von Auflagen im Hinblick auf die von der Sachver­ständigen angeführten Thera­pie­mög­lich­keiten nicht in Betracht komme, zumal die Sachverständige diese offenbar für erfolg­ver­sprechend halte.

Der Suizidgefahr effektiv entge­gen­wirkende geeignete Vorkehrungen nicht sorgfältig geprüft

Zum anderen lasse der angegriffene Beschluss nicht erkennen, dass das Landgericht geeignete - der Suizidgefahr effektiv entge­gen­wirkende - Vorkehrungen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt habe. Allein der Verweis auf die Möglichkeit der Unterbringung genüge nicht. Vielmehr habe das Vollstre­ckungs­gericht sicherzustellen, dass die für eine Unterbringung nach polizei­recht­lichen oder betreu­ungs­recht­lichen Vorschriften zuständigen Stellen Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners getroffen haben.

Gericht darf nicht ohne weiteres von Aussagen der beauftragten Gutachterin abweichen

Soweit das Landgericht die Einschätzung der Sachver­ständigen hinsichtlich der für den Fall des Hausverlustes bestehenden Suizidgefahr in Frage stelle, dürfe es nicht ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen anderen Sachver­ständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen der von ihm gerade wegen fehlender medizinischer Sachkunde beauftragten Gutachterin abweichen. Der Beschluss erweise sich deshalb auch nicht wegen einer weiteren, möglicherweise selbstständig tragenden Begründung als verfas­sungsgemäß.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm/kg)

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