Dokument-Nr. 23662
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- NJW 2016, 3090Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2016, Seite: 3090
- NZM 2016, 807Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht (NZM), Jahrgang: 2016, Seite: 807
- WuM 2016, 729Zeitschrift: Wohnungswirtschaft und Mietrecht (WuM), Jahrgang: 2016, Seite: 729
- Amtsgericht Aachen, Beschluss13.11.2015, 018 K 266/12, 018 K 267/12, 018 K 268/12, 018 K 269/12, 018 K 270/12, 018 K 271/12
- Landgericht Aachen, Beschluss09.03.2016, 3 T 362/15, 3 T 363/15, 3 T 364/15, 3 T 365/15, 3 T 366/15, 3 T 367/15
Bundesverfassungsgericht Beschluss06.07.2016
BVerfG: Erhebliche Suizidgefahr ohne Aussicht auf Besserung kann dauerhaften Vollstreckungsschutz rechtfertigenBeachtung des Gesundheits- und Lebensschutzes des Art. 2 Abs. 2 GG
Besteht im Falle der Zwangsversteigerung eine erhebliche Suizidgefahr beim Grundstückseigentümer, kann die dauerhafte Einstellung der Zwangsvollstreckung gerechtfertigt sein, wenn eine Besserung des Zustands nicht zu erwarten ist. In diesem Fall wiegt der Gesundheits- und Lebensschutz aus Art. 2 Abs. 2 GG schwerer als die Vermögensinteressen des Gläubigers. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hervor.
In dem zugrunde liegenden Fall sollten sechs Grundstücke, darunter das Wohnanwesen, einer 70-jährigen Frau zwangsversteigert werden. Das Amtsgericht Aachen stellte die Zwangsversteigerung aber im Mai 2014 auf Antrag der Grundstückseigentümerin für einen Zeitraum von sechs Monaten ein, da sie erheblich suizidgefährdet war. Ihr wurde aber aufgegeben, sich regelmäßig psychiatrisch und psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Da sich ihr Zustand im Zeitraum des Vollstreckungsschutzes trotz der Therapie nicht verbesserte, beantragte sie nach Anordnung der Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens im Mai 2015 erneut Vollstreckungsschutz. Dies gewährte das Amtsgericht im November 2015 für weitere acht Monate. Der Grundstückseigentümerin sollte Zeit gegeben werden, ohne Auflagen ihre Therapie zu beenden und somit eine Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes zu erreichen. Damit war weder die Gläubigerin noch die Grundstückseigentümerin einverstanden. Während die Gläubigerin sofort vollstrecken wollte, beabsichtigte die Grundstückseigentümerin die dauerhafte Einstellung der Zwangsversteigerung. Beides lehnte das Landgericht Aachen jedoch ab. Die Grundstückseigentümerin legte daraufhin Verfassungsbeschwerde ein.
Verletzung des Grundrechts auf Leben und Gesundheit
Das Bundesverfassungsgericht entschied zu Gunsten der Grundstückseigentümerin. Das Landgericht habe bei seiner Entscheidung nicht ausreichend das Grundrecht auf Leben und Gesundheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG beachtet. Zwar werde bei erheblichen Gefahren für Leben und Gesundheit regelmäßig die Einstellung der Vollstreckung für einen längeren Zeitraum ausreichen, weil solche Gefahren meist mit zunehmendem Zeitablauf ausgeräumt werden können. Sei eine Besserung des Zustands aber nicht möglich, könne als enger Ausnahmefall die Gewährung von dauerhaften Vollstreckungsschutz geboten sein. Mit dieser Möglichkeit habe sich das Landgericht nicht ausreichend auseinandergesetzt.
Notwendigkeit weiterer Feststellung zum Gesundheitszustand
Laut den ärztlichen Attesten sei es für die Grundstückseigentümerin am Besten gewesen, so das Bundesverfassungsgericht, wenn das Zwangsversteigerungsverfahren ihres Wohnhauses endgültig eingestellt würde. Solange der Verlust des Wohnanwesens gedroht habe, sei sie weiter als schwer suizidgefährdet einzustufen gewesen. Auf dieser Grundlage sei es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht nachvollziehbar gewesen, wie Leben und Gesundheit der Grundstückseigentümerin durch eine bloße vorübergehende Vollstreckungseinstellung habe geschützt werden können. Es hätte vielmehr weiterer Feststellungen zu dem Gesundheitszustand der Grundstückseigentümerin und den langfristig bestehenden Lösungsmöglichkeiten für den Konflikt zwischen der Gesundheitsgefahr und den Vermögensinteressen der Gläubigerin bedurft.
Fehlende Angaben zum Wert des Grundstücks
Es sei darüber hinaus nach Auffassung des Bundesgerichtshofs zu beanstanden, dass Angaben zu Art und Umfang der gegenläufigen Interessen der Gläubigerin gefehlt haben. So habe das Landgericht weder die Höhe der Ansprüche, noch den Wert des Grundstücks beziffert oder zumindest geschätzt.
Vorläufige Aussetzung der Verfahren
Das Bundesverfassungsgericht setzte die Verfahren vorläufig aus, bis das Landgericht eine neue Entscheidung erlassen hat.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 06.01.2017
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (vt/rb)
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