23.11.2024
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Dokument-Nr. 30155

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Bundesverfassungsgericht Beschluss17.03.2021

Erfolgreiche Verfassungs­beschwerde eines ehemals Inhaftierten gegen die Anhaltung eines BriefesÜberwachter Briefverkehr eines Strafgefangenen fällt in Schutzbereich der Vertraulichen Kommunikation

Das Bundes­verfassungs­gericht hat einer Verfassungs­beschwerde eines ehemals Inhaftierten stattgegeben, die sich gegen die Anhaltung eines Briefs richtet.

Der ehemals inhaftierte Beschwer­de­führer schrieb aus der Justizvollzugsanstalt einen Brief an seine Großnichte und ehemalige Verlobte, die als seine Mittäterin in einer anderen Justiz­voll­zugs­anstalt inhaftiert war. Der Brief enthielt zum einen Äußerungen in Bezug auf seine Vorgesetzten in der Kfz-Werkstatt („[…] ich kenne das echte „Arschloch“ noch nicht, über das echt jeder lästert, weil es echt ein Prolet sein soll!“) und den „[…] scheiß Nazi- und Bullenstaat Bayern“. Zum anderen beinhaltete er Schilderungen über geplante Versuche, bei einer Anstalts­psy­chologin im Rahmen eines hierfür von ihm beantragten psychologischen Fachgesprächs Informationen über eine ehemalige Anstalts­be­dienstete einzuholen, für die der Beschwer­de­führer offenbar ein (auch sexuelles) Interesse hegte.

Fachgerichte: Äußerungen gefährden Sicherheit und Ordnung der Anstalt

Den gegen eine Anhal­te­ver­fügung der Justiz­voll­zugs­anstalt gerichteten Antrag des Beschwer­de­führers wies das Landgericht Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen mit angegriffenem Beschluss als unbegründet zurück. Es sei „offensichtlich“, dass das Schreiben sowohl Beleidigungen von Bediensteten als auch Formulierungen enthalte, welche die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdeten. Mit weiterhin angegriffenem Beschluss verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht die gegen den Beschluss des Landgerichts gerichtete Rechts­be­schwerde als offensichtlich unbegründet. Der besondere Schutz des Angehö­ri­gen­pri­vilegs umfasse zwar auch Personen, zu denen der Verurteilte ein enges Vertrau­ens­ver­hältnis unterhalte, greife jedoch dann nicht mehr ein, wenn Äußerungen – wie vorliegend – die Sicherheit und Ordnung der Justiz­voll­zugs­anstalt gefährdeten. Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde wendet sich der Beschwer­de­führer gegen beide Beschlüsse.

Vertrau­lich­keits­schutz nicht hinreichend beachtet

Das BVerfG hat die beiden Beschlüsse aufgehoben und die Sache an das LG Augsburg zurückverwiesen. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwer­de­führer in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Sie verkennen Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit in Verbindung mit dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht, indem sie dem daraus folgenden Vertrau­lich­keits­schutz nicht hinreichend Rechnung tragen. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Zu den Bedingungen der Persön­lich­keits­ent­faltung gehört es, dass der Einzelne einen Raum besitzt, in dem er unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesell­schaftliche Verhal­ten­s­er­war­tungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen verkehren kann. Aus der Bedeutung einer solchen Rückzugs­mög­lichkeit für die Persön­lich­keits­ent­faltung folgt, dass der Schutz des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts auch die Privatsphäre umfasst. Am Schutz der Privatsphäre nimmt die vertrauliche Kommunikation teil. Gerade bei Äußerungen gegenüber Familien­an­ge­hörigen und Vertrau­ens­personen steht häufig weniger der Aspekt der Meinungs­kundgabe und die damit angestrebte Einwirkung auf die Meinungsbildung Dritter als der Aspekt der Selbs­t­ent­faltung im Vordergrund. Der Kreis möglicher Vertrau­ens­personen ist dabei nicht auf Ehegatten oder Eltern beschränkt, sondern erstreckt sich auf ähnlich enge – auch rein freund­schaftliche – Vertrau­ens­ver­hältnisse. Der besondere persön­lich­keits­rechtliche Schutz einer Sphäre vertraulicher Kommunikation kann dem Gefangenen, dessen Schriftwechsel der Überwachung unterliegt, nur erhalten werden, indem an die im Zuge der Überwachung zwangsläufig gewonnenen Kenntnisse vom Inhalt seiner Kommunikation mit Personen seines besonderen Vertrauens nicht ohne weiteres in gleicher Weise, wie dies bei Äußerungen außerhalb besonderer Vertrau­ens­be­zie­hungen zulässig wäre, Sanktionen oder sonstige Eingriffe geknüpft werden.

Fachgerichte haben die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungs­freiheit verkannt

Das Landgericht verkennt die Reichweite des aus dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht folgenden Schutzes der vertraulichen Kommunikation. Der Beschwer­de­führer hat vor dem Landgericht geltend gemacht, dass er die Briefadressatin schon seit ihrer frühen Kindheit kenne. Sie hätten mehrfach eine Leben­s­part­ner­schaft geführt, seien verlobt gewesen und hätten bis zu ihrer Inhaftierung zusammengewohnt. Auf diese Umstände geht das Landgericht nicht ein, weil es fehlerhaft davon ausgeht, nur die Kommunikation zu einem Angehörigen unterfalle dem besonderen Schutz der Vertraulichkeit. Der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts beruht auf einer eigenständigen Verkennung von Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts in Verbindung mit dem Recht auf Meinungs­freiheit. Das Gericht geht davon aus, dass der besondere Schutz der Privatsphäre dann nicht mehr greife, wenn eine Äußerung die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährde. Ob der Beschwer­de­führer die betreffenden Äußerungen im Rahmen eines Vertrau­ens­ver­hält­nisses vorgenommen hat, hätte jedoch entgegen der Auffassung des Bayerischen Obersten Landesgerichts gewürdigt werden müssen.

Schmähkritik nicht generell vom Schutzbereich der Meinungs­freiheit ausgeschlossen

Der angegriffene Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts verletzt den Beschwer­de­führer auch unabhängig von der Berück­sich­tigung der sich aus dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht ergebenden Besonderheiten in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG. Schmähkritik fällt im Gegensatz zu Formal­be­lei­di­gungen nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG heraus. Die Wertung einer Äußerung als Schmähkritik gebietet es, diese Einordnung klar kenntlich zu machen und sie in einer auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen, gehaltvollen und verfas­sungs­rechtlich tragfähigen Weise zu begründen. Diesen Maßstäben genügt der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts nicht, weil das Gericht ohne Weiteres davon ausgeht, dass Schmähkritik von vornherein nicht dem Grund­rechts­schutz des Art. 5 Abs. 1 GG unterfalle.

Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwer­de­führer überdies in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Daraus folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Diesen Maßstäben wird die angegriffene Entscheidung des Landgerichts nicht gerecht. Der Beschwer­de­führer legt in seinen Schriftsätzen unter Bezugnahme auf verfas­sungs­ge­richtliche Rechtsprechung dar, dass auch sonstige Vertrau­ens­personen von dem im Schriftverkehr von Strafgefangenen geltenden Schutz der vertraulichen Kommunikation erfasst sind. Zudem benennt er konkrete Gründe, warum die Briefadressatin als eine solche Vertrau­ens­person anzusehen sei. Mit diesen Ausführungen setzt sich das Landgericht nicht auseinander. Es verkennt zudem, dass die Einordnung als Vertrau­ens­person eine rechtliche Wertung darstellt, für deren Würdigung die Umstände des Briefkontakts hätten aufgeklärt werden müssen. Auch der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts verletzt das Recht des Beschwer­de­führers auf effektiven Rechtsschutz. Das Bayerische Oberste Landesgericht stellt trotz der verfas­sungs­recht­lichen Darlegungen des Beschwer­de­führers fest, dass der angefochtene Beschluss auf einer vollständigen Tatsa­chen­grundlage beruhe und die Entscheidung des Landgerichts der geltenden Rechtslage entspreche. Dies lässt eine wirksame gerichtliche Kontrolle vermissen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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