18.10.2024
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Dokument-Nr. 19159

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Beschluss06.10.2014Bundesverfassungsgericht2 BvR 1568/12
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2015, 150Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2015, Seite: 150
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Bundesverfassungsgericht Beschluss06.10.2014

Einstellung des Ermittlungs­ver­fahrens nach dem Tod einer Offizier­s­an­wärterin auf der "Gorch Fock" gerechtfertigtBundes­verfassungs­gericht verneint Verstoß gegen das Grundrecht

Die Einstellung des Ermittlungs­ver­fahrens gegen den Schiffsarzt des Bundeswehr-Segel­schul­schiffs "Gorch Fock" nach dem Tod einer Offizier­s­an­wärterin im September 2008 verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht und nahm damit eine Verfassungs­be­schwerde der Eltern nicht zur Entscheidung an. Aufgrund der staatlichen Schutzpflicht für das Leben der zu Tode gekommenen Offizier­s­an­wärterin steht den Eltern im konkreten Fall ein verfassungs­recht­licher Anspruch auf sorgfältige und effektive Ermittlungen zu. Die diesbezügliche Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlan­des­ge­richts genügt jedoch den sich hieraus ergebenden verfassungs­recht­lichen Anforderungen.

Die Beschwer­de­führer sind die Eltern einer Offizier­s­an­wärterin, die in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2008 auf dem Segel­schul­schiff „Gorch Fock“ der Bundeswehr zu Tode gekommen ist. Sie wenden sich gegen die Einstellung eines Ermitt­lungs­ver­fahrens gegen den Schiffsarzt wegen fahrlässiger Tötung. Mit Verfügung vom 17. Oktober 2011 sah die Staats­an­walt­schaft Kiel mangels Anfangs­ver­dachts von der Einleitung eines Ermitt­lungs­ver­fahrens ab (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 2 der Straf­pro­zess­ordnung). Die hiergegen erhobene Beschwerde wies der General­staats­anwalt des Landes Schleswig-Holstein am 8. März 2012 als unbegründet zurück. Einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung verwarf das Schleswig-Holsteinische Oberlan­des­gericht am 12. Juni 2012 als unbegründet.

Anspruch auf Strafverfolgung Dritter nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich

Dass Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass sich dem Grundgesetz grundsätzlich kein Anspruch auf Strafverfolgung Dritter entnehmen lässt. Etwas anderes kann aufgrund der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbst­be­stimmung und die Freiheit der Person gelten. Wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchst­per­sön­lichen Rechtsgüter selbst abzuwehren und ein Verzicht auf Strafverfolgung zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates sowie einem allgemeinen Klima der Rechts­un­si­cherheit und Gewalt führen kann, besteht ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung. Ein solcher Anspruch kann ferner in Betracht kommen, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger Straftaten bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben begangen haben, oder wenn den Staat eine spezifische Obhutspflicht für die Opfer aus Straftaten trifft, etwa weil sie sich im Maßregel- oder Strafvollzug befinden. Bei Kapitaldelikten kann ein solcher Anspruch auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen.

Straf­ver­fol­gungs­be­hörden müssen wirksame Anwendung der Straf­vor­schriften sicherstellen

Die (verfas­sungs­rechtliche) Verpflichtung zu effektiver Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Straf­ver­fol­gungs­organe. Ihr Ziel muss es sein, eine wirksame Anwendung der Straf­vor­schriften sicherzustellen. Dies bedeutet nicht, dass dieser Verpflichtung nur durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach wird es ausreichend sein, wenn die Straf­ver­fol­gungs­be­hörden ihre Befugnisse nach Maßgabe eines angemessenen Ressour­cen­ein­satzes nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern. Dies setzt allerdings eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermitt­lungs­verlaufs ebenso voraus wie eine nachvoll­ziehbare Begründung der Einstel­lungs­ent­schei­dungen.

Dies deckt sich weitgehend mit den Anforderungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention, für die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 EMRK eine Verpflichtung der Signatarstaaten entnommen hat, wirksame amtliche Ermittlungen dann anzustellen, wenn ein Mensch durch Gewalt­ein­wirkung zu Tode gekommen ist, insbesondere dann, wenn auch staatliche Stellen an dem Vorfall beteiligt waren.

Beschluss des Oberlan­des­ge­richts trägt Anspruch auf effektive Strafverfolgung hinreichend Rechnung

Der angegriffene Beschluss des Oberlan­des­ge­richts Schleswig-Holstein vom 12. Juni 2012 genügt diesen Anforderungen. Die Beschwer­de­führer verlangen die strafrechtliche Verfolgung einer fahrlässigen Tötung durch den Schiffsarzt der „Gorch Fock“, den sie für den Tod ihrer Tochter mitver­ant­wortlich machen. Da ein Verzicht auf eine effektive Verfolgung von Tötungsdelikten zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen kann und bereits der Anschein vermieden werden muss, dass Todesfälle nur unzureichend untersucht werden oder gegen Amtswalter des Staates weniger effektiv ermittelt wird als gegen andere Beschuldigte, haben die Eltern - vermittelt über Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG - grundsätzlich einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung. Diesem Anspruch trägt der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts Schleswig-Holstein vom 12. Juni 2012 hinreichend Rechnung.

Ausreichende Anhaltspunkte für hinreichenden Tatverdacht nicht gegeben

Wie vom Oberlan­des­gericht dargelegt, belegen die staats­an­walt­schaft­lichen Entscheidungen, dass die Ermittlungen gewissenhaft erfolgt sind und sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für einen hinreichenden Tatverdacht ergeben haben. Die Annahme der General­staats­an­walt­schaft, mögliche Beschwerden der Verstorbenen seien von dieser gegenüber dem Schiffsarzt nicht angezeigt worden, erscheint nicht willkürlich und ist aus verfas­sungs­recht­licher Sicht daher nicht zu beanstanden.

Soweit das Oberlan­des­gericht seinerseits dazu verpflichtet ist, die Erfüllung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung sowie die detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermitt­lungs­verlaufs und die Begründung der Einstel­lungs­ent­schei­dungen zu überprüfen, wird dies in dem angegriffenen Beschluss zwar nicht ausdrücklich thematisiert. Indem das Oberlan­des­gericht den Sachverhalt jedoch inhaltlich würdigt und sich insbesondere mit der Kausalität eines möglichen Fehlverhaltens des Beschuldigten beschäftigt, knüpft es konkludent an die Ergebnisse des staats­an­walt­schaft­lichen Ermitt­lungs­ver­fahrens an und billigt damit auch dessen Ablauf.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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