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Dokument-Nr. 34929

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Urteil26.03.2025Bundesverfassungsgericht2 BvR 1505/20
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Bundesverfassungsgericht Urteil26.03.2025

Solida­ri­täts­zu­schlag ist verfas­sungsgemäßErfolglose Verfas­sungs­be­schwerde gegen Solida­ri­täts­zu­schlag

Der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat eine Verfas­sungs­be­schwerde gegen das Solida­ri­täts­zu­schlag­gesetz 1995 (SolZG 1995) in der Fassung des Gesetzes zur Rückführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 vom 10. Dezember 2019 zurückgewiesen.

Der zum 1. Januar 1995 eingeführte Solidaritätszuschlag stellt eine Ergän­zungs­abgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 Grundgesetz (GG) dar. Der Senat führt in seinem Urteil aus, dass eine solche Ergän­zungs­abgabe einen aufga­ben­be­zogenen finanziellen Mehrbedarf des Bundes voraussetzt, der durch den Gesetzgeber allerdings nur in seinen Grundzügen zu umreißen ist. Im Fall des Solida­ri­täts­zu­schlags ist dies der wieder­ver­ei­ni­gungs­be­dingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes. Weiter führt der Senat aus, dass ein evidenter Wegfall des Mehrbedarfs eine Verpflichtung des Gesetzgebers begründet, die Abgabe aufzuheben oder ihre Voraussetzungen anzupassen. Insoweit trifft den Bundes­ge­setzgeber – bei einer länger andauernden Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe – eine Beobach­tungs­ob­lie­genheit. Ein offen­sicht­licher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zurück­zu­füh­renden Mehrbedarfs des Bundes kann auch heute (noch) nicht festgestellt werden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Aufhebung des Solida­ri­täts­zu­schlags ab dem Veran­la­gungs­zeitraum 2020 bestand und besteht folglich nicht.

Die Verfas­sungs­be­schwerde, mit der sich die Beschwer­de­füh­re­rinnen und Beschwer­de­führer gegen die unveränderte Fortführung der Solida­ri­täts­zu­schlags­pflicht und gegen den nur teilweisen Abbau des Solida­ri­täts­zu­schlags wenden, blieb daher erfolglos.

Richterin Wallrabenstein hat sich der Senatsmehrheit im Ergebnis angeschlossen, jedoch hinsichtlich der Begründung ein Sondervotum verfasst.

Sachverhalt

Der – auch heute noch erhobene – Solida­ri­täts­zu­schlag wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1995 eingeführt. Er wird als Ergän­zungs­abgabe zur Einkommen- und Körper­schaft­steuer im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG erhoben. Seit dem Jahr 2021 werden nur noch bestimmte Gruppen der Einkom­men­steu­er­pflichtigen und nach wie vor alle Körper­schaft­steu­er­subjekte mit dem Solida­ri­täts­zu­schlag belastet. Bemes­sungs­grundlage für den Zuschlag sind im Falle der Veranlagung zur Einkommen- oder Körper­schaft­steuer grundsätzlich die berechnete Einkommensteuer oder die festgesetzte Körper­schaft­steuer beziehungsweise die zu entrichtenden Vorauszahlungen. Wird die Einkommensteuer in Form der Lohnsteuer erhoben, ist für die Bemessung des Solida­ri­täts­zu­schlags grundsätzlich diese maßgebend. Im Falle des Kapita­l­er­trag­steu­er­abzugs bemisst sich der Solida­ri­täts­zu­schlag nach der anfallenden Kapita­l­er­trag­steuer. Im Übrigen lehnen sich Festsetzung und Erhebung des Solida­ri­täts­zu­schlags an die entsprechenden Vorschriften des Einkommen- beziehungsweise Körper­schaft­steu­er­ge­setzes an.

Seit dem Jahr 1998 beträgt der Zuschlagsatz zur Einkommen- oder Körper­schaft­steuer 5,5 %.

Abgabepflichtig sind nach § 2 SolZG 1995 unter anderem natürliche Personen, die nach § 1 Einkom­men­steu­er­gesetz einkom­men­steu­er­pflichtig sind. Weiter wird der Solida­ri­täts­zu­schlag von Körperschaften, Perso­nen­ver­ei­ni­gungen und Vermögensmassen erhoben, die nach § 1 oder § 2 Körper­schaft­steu­er­gesetz körper­schaft­steu­er­pflichtig sind. Im Bereich der Einkommensteuer sind Freigrenzen vorgesehen. Überschreitet die Bemes­sungs­grundlage diese Freigrenzen nicht, fällt ein Solida­ri­täts­zu­schlag nicht an. Bei einer Überschreitung kommt nicht sofort der volle Zuschlagsatz zur Anwendung (sog. Gleitzone). Durch das Gesetz zur Rückführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 vom 10. Dezember 2019 wurden die Freigrenzen mit Wirkung ab dem Veran­la­gungs­zeitraum 2021 deutlich angehoben. Diese Freigrenzen finden jedoch nicht für alle in § 3 Abs. 1 SolZG 1995 geregelten Bemes­sungs­grundlagen Anwendung.

Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde wenden sich die Beschwer­de­füh­re­rinnen und Beschwer­de­führer einerseits im Hinblick auf den Veran­la­gungs­zeitraum 2020 gegen die unveränderte Fortführung der Solida­ri­täts­zu­schlags­pflicht und andererseits ab dem Veran­la­gungs­zeitraum 2021 gegen den nur teilweisen Abbau des Solida­ri­täts­zu­schlags. Sie rügen unter anderem eine Verletzung der Eigen­tums­ga­rantie des Art. 14 Abs. 1 GG sowie einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Die zulässige Verfas­sungs­be­schwerde ist unbegründet. Das SolZG 1995 ist als Inhalts- und Schran­ken­be­stimmung der Eigen­tums­ga­rantie gerechtfertigt.

1. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes zur Rückführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 im Dezember 2019 kam dem Bundes­ge­setzgeber nach den finanz­ver­fas­sungs­recht­lichen Bestimmungen die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz für die (modifizierte) Fortführung des Solida­ri­täts­zu­schlags ab dem Jahr 2020 zu. Die finanz­ver­fas­sungs­recht­lichen Voraussetzungen für die Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe sind auch seither (noch) nicht evident entfallen.

a) Welche verfas­sungs­recht­lichen Auswirkungen es hat, wenn eine vom Bundes­ge­setzgeber ursprünglich in kompe­tenz­rechtlich zulässiger Weise eingeführte Steuer aufgrund nachträglicher Veränderungen aus dem Rahmen der herkömmlichen Merkmale dieser Steuer herausfällt, hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bislang noch nicht entschieden.

Hinsichtlich des vorliegend relevanten Steuertypus der Ergän­zungs­abgabe ist davon auszugehen, dass ein evidenter Wegfall der für ihre Erhebung erforderlichen Voraussetzungen eine Verpflichtung des Gesetzgebers begründet, die Abgabe aufzuheben oder ihre Voraussetzungen anzupassen. Dies ist im Hinblick darauf anzunehmen, dass die Ergän­zungs­abgabe gegenüber anderen Steuern Besonderheiten aufweist. So knüpft sie nicht an einen steuer­be­grün­denden Vorgang oder einen bestimmten Steuer­ge­genstand an. Ihre Erhebung wird vielmehr im Wesentlichen durch das Erfordernis eines finanziellen Mehrbedarfs des Bundes, der zur Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben benötigt wird, bestimmt. Damit ist die Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe weitgehend von den vom Gesetzgeber angetroffenen und bewerteten tatsächlichen Verhältnissen abhängig. Ändern sich diese später in solch signifikanter Weise, dass der ursprünglich angenommene finanzielle Mehrbedarf des Bundes evident entfallen ist, wird der Typusbegriff des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG nicht mehr gewahrt.

Bei der Frage des Fortbestands des finanziellen Mehrbedarfs des Bundes besteht zwar ein weiter Einschätzungs- und Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers. Sieht er aber keinen Anpas­sungs­me­cha­nismus für den Fall einer (wesentlichen) Änderung der seiner Entscheidung zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnisse vor, überprüft das Bundes­ver­fas­sungs­gericht, ob die auf dieser Grundlage getroffene Regelung auch unter veränderten Rahmen­be­din­gungen noch von der Einschät­zungs­prä­ro­gative des Gesetzgebers getragen wird und daher im Ergebnis weiter zu rechtfertigen ist. Dies ist dann nicht mehr der Fall, wenn sich eine Regelung unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als evident nicht mehr reali­täts­gerecht erweist.

Insoweit trifft den Bundes­ge­setzgeber - bei einer länger andauernden Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe - eine Beobach­tungs­ob­lie­genheit. Er ist gehalten, in solchen Fällen seine ursprüngliche Entscheidung zur Einführung einer Ergän­zungs­abgabe in gewissen Abständen daraufhin zu überprüfen, ob die seinerzeit angenommene Entwicklung des finanziellen Bedarfs noch der Realität entspricht.

b) Es kommt damit maßgeblich darauf an, welche Merkmale eine Ergän­zungs­abgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG prägen und ob diese zum Zeitpunkt des Erlasses des Steuergesetzes vorlagen und auch heute noch nicht evident entfallen sind.

Der Wortlaut des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG sieht – über eine gewisse Akzessorietät zur Einkommen- und Körper­schaft­steuer hinaus – keine weiteren Einschränkungen für die Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe vor. Der Ergän­zungs­abgabe sind allerdings angesichts des ihr vom verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgeber verliehenen Charakters, ihrer in den Geset­zes­ma­te­rialien ausführlich beschriebenen Funktion innerhalb der bundess­taat­lichen Finanz­ver­fas­sungs­ordnung sowie der finanz­ver­fas­sungs­recht­lichen Systematik weitere Grenzen gezogen.

aa) Die Ergän­zungs­abgabe setzt als ungeschriebenes Tatbe­stands­merkmal einen finanziellen Mehrbedarf des Bundes voraus, der nach Einschätzung des Gesetzgebers durch die Erfüllung einer vom Bund angeführten bestimmten Aufgabe voraussichtlich entstehen wird und zu dessen Deckung die Erhebung der Ergän­zungs­abgabe notwendig erscheint. Dies ist im Gesetz­ge­bungs­ver­fahren offenzulegen.

Ausweislich der Geset­zes­be­gründung ist die heute in Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG verankerte Ergän­zungs­abgabe geschaffen worden, um „in begrenztem Rahmen“ eine möglichst reibungslose und flexible Deckung eines finanziellen Mehrbedarfs des Bundes zu gewährleisten, ohne die sachgerechte und stabile Verteilung des Steuer­auf­kommens zwischen Bund und Ländern infrage zu stellen.

Hieraus folgt, dass die Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe nicht voraus­set­zungslos möglich sein soll, sondern ihre inhaltliche Ausgestaltung durch die mit ihr verbundene Zielsetzung, die notwendige finanzielle Flexibilität des Bundes bedarf­s­o­ri­entiert sicherzustellen, geprägt und begrenzt wird. Dem verfas­sung­s­än­dernden Gesetzgeber ging es somit darum, die Ergän­zungs­abgabe ohne Zustimmung des Bundesrats aktivieren zu können, nicht aber darum, sie ohne Benennung eines Mehrbedarfs erheben zu dürfen.

Damit die Ergän­zungs­abgabe den ihr unverändert zugewiesenen Zweck erfüllen kann, ist es notwendig, aber auch hinreichend, dass sich der finanzielle Mehrbedarf auf eine bestimmte Aufgabe zurückführen lässt. Die Identifizierung eines solchen aufga­ben­be­zogenen finanziellen Mehrbedarfs des Bundes als Voraussetzung der Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe sichert die Interessen der Länder, die mangels Zustim­mungs­er­for­dernis des Bundesrats keinen entscheidenden Einfluss auf die einfach­ge­setzliche Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe nehmen können und die selbst über kein vergleichbares Einnah­me­in­strument verfügen. Angesichts der grundsätzlich strikten Trennung zwischen steuerlicher Staats­fi­nan­zierung und haushalts­recht­licher Verwen­dungs­ent­scheidung muss der Gesetzgeber den aufga­ben­be­zogenen Mehrbedarf allerdings nur in seinen Grundzügen umreißen.

Die Aufga­ben­be­zo­genheit der Ergän­zungs­abgabe hat zugleich eine zeitliche Komponente. Für die Berechtigung ihrer Weitererhebung kommt es nicht auf den Ablauf ausschließlich zeitlich definierter Fristen wie etwa diejenige eines „Genera­ti­o­ne­n­ab­stands“ an, sondern allein darauf, ob der aufga­ben­be­zogene Mehrbedarf evident weggefallen ist.

bb) Weiter darf die Ergän­zungs­abgabe das finanzielle Ausgleichs­system des Grundgesetzes nicht zu Lasten der Länder in einer Art und Weise antasten, die Steuerarten oder Steuern aushöhlen würden, deren Aufkommen allein den Ländern zufließt oder die Bund und Ländern gemeinsam zustehen (sogenanntes „Aushöh­lungs­verbot“).

cc) Dagegen ist die Ergän­zungs­abgabe nicht als subsidiäres Finan­zie­rungs­in­strument ausgestaltet worden. Der Bundes­ge­setzgeber ist daher aus verfas­sungs­recht­lichen Gründen nicht gezwungen, von der Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe abzusehen, wenn auch eine Erhöhung der Einkommen- oder Körper­schaft­steuer beziehungsweise eine Anhebung der dem Bund zustehenden Verbrauch­steuern in Betracht käme, dies aber aus politischen Gründen nicht opportun oder durchsetzbar erscheint.

dd) Eine Ergän­zungs­abgabe im Sinne des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ist von Verfassungs wegen auch nicht von vornherein zu befristen. Gegen eine Befristung spricht insbesondere die Funktion, die die Ergän­zungs­abgabe als flexible Alternative zur Anpassung der Einkommen- oder Körper­schaft­steuer als gemein­schaftliche Steuern oder zur Erhöhung der allein dem Bund zufließenden Verbrauch­steuern erfüllen soll.

ee) Schließlich beschränkt Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG den Bundes­ge­setzgeber auch nicht darauf, eine Ergän­zungs­abgabe nur während einer „Notlage“ oder „Ausnahmelage“, nicht aber auch in einer „finanz­ver­fas­sungs­recht­lichen Normallage“ zu erheben.

Dafür, dass die Ergän­zungs­abgabe nur in „Notfällen“ erhoben werden soll, gibt es in den Geset­zes­ma­te­rialien keinen tragfähigen Anhaltspunkt. Weder in den Geset­zes­ma­te­rialien zum Finanz­ver­fas­sungs­gesetz 1955 beziehungsweise zur Finanzreform 1969 noch im Verfassungstext des Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG werden den Erhebungs­zeitraum eingrenzende Formulierungen verwendet. Soweit in der Geset­zes­be­gründung zum Finanz­ver­fas­sungs­gesetz 1955 unter anderem von „anderweitig nicht auszu­glei­chenden Bedarfsspitzen im Bundeshaushalt“ die Rede ist, ist deren Deckung nicht als isolierte Zielstellung formuliert, sondern in eine untrennbare Aufzählung mit weiteren, miteinander eng verknüpften Zwecken gestellt worden.

c) In Anbetracht der beschriebenen Maßstäbe besaß der Bund im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes zur Rückführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 am 10. Dezember 2019 die dafür erforderliche Gesetz­ge­bungs­kom­petenz. Er ist von Verfassungs wegen auch nicht verpflichtet, den Solida­ri­täts­zu­schlag wegen eines späteren evidenten Wegfalls des angeführten aufga­ben­be­zogenen Mehrbedarfs aufzuheben.

aa) Zunächst wird durch die mit dem Gesetz zur Rückführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 ab dem Jahr 2021 erheblich ausgeweitete Staffelung des Solida­ri­täts­zu­schlags die eine Ergän­zungs­abgabe prägende Akzessorietät zur Einkommen- und Körper­schaft­steuer nicht infrage gestellt und damit der Typus dieser Steuer nicht schon deshalb verfehlt.

Zwar mag der Gesetzgeber bei einer Ergän­zungs­abgabe wie dem Solida­ri­täts­zu­schlag nicht zu einer sozialen Abstufung verpflichtet sein; dies ändert aber nichts daran, dass er in Anbetracht des Sozial­staats­prinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) und der unter­schied­lichen wirtschaft­lichen Leistungs­fä­higkeit der Einkom­men­steu­er­pflichtigen zu einer solchen Abstufung berechtigt ist. Das gilt auch dann, wenn die sozialen Erwägungen – wie beim Solida­ri­täts­zu­schlag 1995 – nicht bereits bei dessen Einführung, sondern erst bei dessen teilweiser Rückführung berücksichtigt werden.

bb) Der wieder­ver­ei­ni­gungs­be­dingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes war bei Erlass des Gesetzes zur Rückführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 mit Wirkung zum 1. Januar 2020 noch nicht in evidenter Weise entfallen. Auch heute kann ein offen­sicht­licher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zum Bundesgebiet zurück­zu­füh­renden – wenn auch verringerten – Mehrbedarfs des Bundes (noch) nicht festgestellt werden. Der Bund verzeichnet weiterhin einen wieder­ver­ei­ni­gungs­be­dingten zusätzlichen Finan­zie­rungs­bedarf. Diese Einschätzung hält sich im Rahmen des dem Bundes­ge­setzgeber bei der Bestimmung einer Aufgabe und des durch sie bedingten finanziellen Mehrbedarfs zukommenden Spielraums. Dieser besteht zwar angesichts der langen Erhebungszeit des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 nicht mehr in dem ursprünglichen Umfang. Er bleibt dem Gesetzgeber aber insoweit erhalten, als das Bundes­ver­fas­sungs­gericht lediglich nachprüfen kann, ob die Aufgabe, auf die die Einführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995 gestützt worden war, im Jahr 2020 oder danach offensichtlich in keiner Weise mehr einen finanziellen Mehrbedarf des Bundes begründet. Dies ist jedenfalls derzeit noch nicht der Fall.

Ein im Verfahren vorgelegtes Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass selbst 30 Jahre nach der Wieder­ver­ei­nigung trotz positiver Entwicklungen noch strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland verbleiben und es auch noch bis 2030 in bestimmten Bereichen wieder­ver­ei­ni­gungs­be­dingte Belastungen des Bundeshaushalts gibt. Die erhobenen, in dem Gutachten ausgewerteten Daten und die daraus von den beteiligten sachkundigen Dritten gezogenen Schluss­fol­ge­rungen zeigen, dass von einem evidenten Entfallen des wieder­ver­ei­ni­gungs­be­dingten Mehrbedarfs des Bundes noch nicht ausgegangen werden kann. Auch der Umstand, dass unter den in der mündlichen Verhandlung angehörten Ökonomen gerade keine einheitliche Bewertung zu erzielen war, verdeutlicht die fehlende Evidenz eines Wegfalls des wieder­ver­ei­ni­gungs­be­dingten Mehrbedarfs. Die Frage, ob Ausgaben des Bundes jedenfalls auch auf ein bestimmtes Ereignis (hier: Wieder­ver­ei­nigung) (mit) zurückgeführt werden können oder möglicherweise vollständig durch andere Einfluss­faktoren bestimmt sind, kann je nach ökonomischer Grundannahme unterschiedlich beantwortet werden. Es ist nicht Aufgabe des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, eine Auswahl zwischen diesen Annahmen zu treffen, solange die Annahme, auf die sich der Gesetzgeber gestützt hat, nicht evident neben der Sache liegt.

Das Auslaufen des sogenannten Solidarpakts II mit Ablauf des Jahres 2019 ist hingegen unerheblich. Dadurch ist lediglich die bis dahin erfolgte konkrete Ausgestaltung der Unterstützung der neuen Länder durch den Bund zu ihrem Ende gekommen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Bund - wie er im vorliegenden Verfahren hinreichend dargetan hat - nicht auch nach diesem Zeitpunkt wieder­ver­ei­ni­gungs­be­dingte Bedarfe der neuen Länder im gesamt­s­taat­lichen Interesse, namentlich zur Herstellung möglichst gleichwertiger Lebens­be­din­gungen, finanziell auszugleichen hat.

2. Das SolZG 1995 in der hier maßgeblichen Fassung genügt auch den materiellen Anforderungen an eine Inhalts- und Schran­ken­be­stimmung.

a) Es ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass vorliegend mit dem Ansatz des Solida­ri­täts­zu­schlags in Höhe von 5,5 % der Einkommen- beziehungsweise Körper­schaft­steuer eine übermäßige, mit einer verfas­sungs­recht­lichen Obergrenze zumutbarer Besteuerung nicht mehr vereinbare Steuerbelastung verbunden wäre und damit ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit vorläge. Dies gilt sowohl für das Jahr 2020, in dem - mit wenigen Ausnahmen - grundsätzlich von allen Einkommen- beziehungsweise Körper­schaft­steu­er­pflichtigen die Abgabe erhoben wurde, als auch für die Jahre ab 2021, in denen in Bezug auf die Einkom­men­steu­er­pflichtigen grundsätzlich nur noch höhere Einkom­mens­gruppen der Ergän­zungs­abgabe unterworfen sind.

Auch steht der Zuschlagsatz in Höhe von 5,5 % derzeit noch nicht evident außer Verhältnis zu der Höhe des aufga­ben­be­zogenen Mehrbedarfs, der mit dem Solida­ri­täts­zu­schlag gedeckt werden soll. Zwar betrug das Aufkommen aus dem Solida­ri­täts­zu­schlag im Jahr 2020 18,7 Milliarden Euro, wohingegen die Summe der zumindest auch verei­ni­gungs­be­dingten überpro­por­ti­onalen Belastungen des Bundeshaushalts in den Jahren ab 2020 lediglich rund 13 Milliarden Euro beträgt. Der Bundes­ge­setzgeber reagierte jedoch hierauf entsprechend seiner verfas­sungs­recht­lichen Beobach­tungs­ob­lie­genheit mit dem Gesetz zur Rückführung des Solida­ri­täts­zu­schlags 1995, indem er den Solida­ri­täts­zu­schlag nicht mehr von allen einkom­men­steu­er­pflichtigen Personen erhob und damit das Aufkommen für die Jahre ab 2021 deutlich verringerte. Im Jahr 2021 betrug das Aufkommen aus dem Solida­ri­täts­zu­schlag nur noch 11 Milliarden Euro.

b) Das SolZG 1995 verletzt auch Art. 3 Abs. 1 GG nicht. Im Hinblick auf die soziale Staffelung der Ergän­zungs­abgabe kann offenbleiben, ob eine grund­rechts­re­levante Ungleich­be­handlung darin liegen könnte, dass sich der Gesetzgeber (durch eine Gleitzone abgemilderter) Freigrenzen und keiner alle Steuer­pflichtigen entlastender Freibeträge bedient beziehungsweise sich nicht dafür entschieden hat, alle Steuer­pflichtigen gleichmäßig zu belasten. Eine solche wäre jedenfalls gerechtfertigt.

Soweit die Freigrenzen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 SolZG 1995 grundsätzlich nicht auf die im Wege des Kapita­l­er­trag­steu­er­abzugs erhobene, sondern nur auf die veranlagte Einkommensteuer und Lohnsteuer Anwendung finden, handelt es sich nicht um im Wesentlichen vergleichbare Sachverhalte. Dies gilt ebenso, soweit die ab dem Jahr 2021 geltenden Freigrenzen nur auf Einkommensteuer- und nicht auch auf Körper­schaft­steu­er­subjekte Anwendung finden. Insoweit liegen ebenfalls keine im Wesentlichen vergleichbare Sachverhalte vor.

Abweichende Meinung der Richterin Wallrabenstein

Die Maßstabsbildung und den damit konstruierten Kontrol­lan­spruch des Senats darüber, ob vom Gesetzgeber angeführte Finanzbedarfe (fort)bestehen, halte ich für verfehlt. Auch wenn der Senat diese Kontrolle zurückgenommen ausübt, erschweren die neue Benen­nungs­pflicht und Beobach­tungs­ob­lie­genheit die Erhebung einer Ergän­zungs­abgabe. Dies schafft verfas­sungs­rechtliche Unsicherheit.

Erfasst man den grund­ge­setz­lichen Gestal­tungs­rahmen für den Steuer­ge­setzgeber anhand von Art. 14 GG, bilden Privat­nüt­zigkeit und Sozialbindung seine beiden Pole. Der Schutz vor einer Steuerlast durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist wesentlich auch durch Art. 14 Abs. 2 GG geprägt. Gerade wegen der Entscheidung des Grundgesetzes für den Schutz des Privateigentums sind Steuern das wesentliche Instrument für eine regelmäßige und damit nachhaltig freiheits­si­chernde Korrektur der Eigen­tum­s­ent­wicklung, die der Umverteilung bedarf.

Indem der Senat die Ergän­zungs­abgabe an materielle Voraussetzungen bindet, verkürzt er diesen Gestal­tungs­spielraum einseitig. Der Bundestag muss dadurch seine Budge­tent­schei­dungen nicht nur allen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber demokratisch verantworten. Zusätzlich ist er nun speziell denjenigen, deren Eigentum er durch eine Ergän­zungs­abgabe belastet, nochmals rechen­schafts­pflichtig. Diese Erweiterung der Eigen­tü­mer­stellung zu einem Kontrollrecht über Staatsausgaben ist mit Art. 14 Abs. 1 und 2 GG nicht in Einklang zu bringen.

Zudem belegt der Senat die Ergän­zungs­abgabe mit einem für das Steuerrecht grundlegend neuartigen Kassa­ti­o­ns­risiko. Ob der aufga­ben­be­zogene Mehraufwand, den der Bundestag zur Rechtfertigung einer Ergän­zungs­abgabe angeben muss, tatsächlich und in der Höhe des durch die Ergän­zungs­abgabe erzielten Steuervolumens besteht und nicht in evidenter Weise entfallen ist, will der Senat entscheiden. Dies zeigt seine Bereitschaft, in die Finanzpolitik einzugreifen. Das widerspricht meinem Grund­ver­ständnis der aus dem Demokra­tie­prinzip und der Gewaltenteilung folgenden Kompe­tenz­grenzen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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