15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss20.06.2012

Vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung verfas­sungsgemäß und konven­ti­o­ns­rechtlich zulässigBundes­ver­fas­sungs­gericht verneint Verstoß gegen grundrechtlich gesicherte Garantie der Menschenwürde durch vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung - mit Ausnahme von Verstößen gegen das Abstandsgebot - für verfas­sungsgemäß und konven­ti­o­ns­rechtlich zulässig erklärt. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bejahte in seiner Entscheidung zwar einen Verstoß gegen das Freiheits­grundrecht, stellte jedoch zugleich klar, dass die Regelung der vorbehaltenen Siche­rungs­ver­wahrung nach § 66 a StGB a. F. nicht gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes verstößt.

Mit dem Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, das zum 28. August 2002 durch den neu eingeführten § 66 a StGB Eingang in das Strafgesetzbuch fand, wurde die Möglichkeit geschaffen, in einem zweiaktigen Erkennt­nis­ver­fahren über die Verhängung der Maßregel zu entscheiden. Nach der damaligen, hier maßgeblichen Fassung des § 66 a StGB kann das Gericht zunächst mit der Verurteilung die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung vorbehalten, wenn zum Zeitpunkt der Verurteilung die Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden konnte und deshalb die Anordnung der primären Siche­rungs­ver­wahrung nicht in Betracht kam, im Übrigen aber deren Voraussetzungen nach § 66 Abs. 3 StGB a. F. vorlagen. Zum Ende der Straf­voll­streckung hat das erkennende Gericht sodann in einem zweiten Verfah­rens­schritt nach Durchführung einer (weiteren) Haupt­ver­handlung über die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung zu entscheiden. Sie ist zwingend anzuordnen, wenn eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs von ihm erhebliche Straftaten erwarten lässt, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen (§ 66 a Abs. 2 StGB a. F.; jetzt: § 66 a Abs. 3 Satz 2 StGB). Mit der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Neuregelung der Siche­rungs­ver­wahrung wurde auch die Vorschrift des § 66 a StGB geändert; unter anderem ist der Straf­ta­ten­katalog der Anlasstaten reduziert worden.

Sachverhalt

Der seit den 1980er Jahren kontinuierlich wegen pädophiler Straftaten verurteilte Beschwer­de­führer wurde im Februar 2008 vom Landgericht u. a. wegen mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und versuchter Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Zugleich wurde die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung vorbehalten. Im November 2010 ordnete das Landgericht sodann mit dem hier angegriffenen Urteil gegen den Beschwer­de­führer auf der Grundlage eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nach § 66 a Abs. 2 StGB a. F. an.

Beschwer­de­führer rügt Verletzung des Freiheits­grund­rechts

Seine hiergegen eingelegte Revision hatte vor dem Bundes­ge­richtshof keinen Erfolg. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt er im Wesentlichen - unter Berufung auf das Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 4. Mai 2011 - eine Verletzung seines Freiheits­grund­rechts.

Verletzung des Freiheits­grund­rechts im vorliegenden Fall bejaht – Verstoß gegen andere Bestimmung des Grundrechts durch vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung verneint

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat festgestellt, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen, weil sie auf der Vorschrift des § 66 a StGB a. F. beruhen, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 für verfas­sungs­widrig erklärt hat. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an den Bundes­ge­richtshof zurückverwiesen worden. Zugleich hat der Senat klargestellt, dass die Regelung der vorbehaltenen Siche­rungs­ver­wahrung nach § 66 a StGB a. F. nicht - über die im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellte Verletzung des Freiheits­grund­rechts hinaus - gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes verstößt.

Siche­rungs­ver­wahrung wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot grundsätzlich nicht mit Freiheits­grundrecht vereinbar

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 alle Vorschriften des Straf­ge­setz­buches und des Jugend­ge­richts­ge­setzes über die Anordnung und Dauer der Siche­rungs­ver­wahrung und damit auch § 66 a StGB a. F. wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheits­grundrecht erklärt. Die Vorschrift des § 66 a StGB a. F. verstößt jedoch nicht aus anderen Gründen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes.

Ungewissheiten über mögliche Siche­rungs­ver­wahrung stellt keine besondere unmenschliche, grausame oder erniedrigende psychische oder physische Belastung dar

Das Institut der vorbehaltenen Siche­rungs­ver­wahrung verletzt nicht die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde. Der Senat hat bereits entschieden, dass die Menschenwürde durch eine Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nicht verletzt wird, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten als Präven­tiv­maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit notwendig ist. Für die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung ergibt sich keine hiervon abweichende Beurteilung. Der Betroffene wird nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Er wird zwar im Fall der vorbehaltenen Siche­rungs­ver­wahrung zum Zeitpunkt der Verurteilung sowie in der Regel zumindest während eines großen Teils seiner Strafhaft über sein weiteres Schicksal im Ungewissen gelassen. Diese Ungewissheiten führen jedoch nicht zu besonderen Belastungen psychischer oder physischer Art, die als unmenschlich, grausam oder erniedrigend zu werten wären. Vielmehr hat der Betroffene die Vermeidung einer späteren Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung weitgehend selbst in der Hand, indem er etwa durch Mitwirkung an einer Therapie zu einer für ihn günstigen Gefähr­lich­keits­prognose beitragen kann. Gerade der bloße Vorbehalt der Siche­rungs­ver­wahrung ist daher geeignet, dem Betroffenen zu verdeutlichen, dass er nicht einem für ihn unbeherr­schbaren Verlauf ausgeliefert ist.

Vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung verstößt nicht gegen Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes

Die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung verstößt jenseits des bereits im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellten Verstoßes gegen das Abstandsgebot nicht aus weiteren Gründen gegen das Freiheits­grundrecht. Sie genügt den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes. Die Anordnung des Vorbehalts stellt für den Betroffenen bei Abwägung mit dem Sicher­heits­be­dürfnis der Allgemeinheit keine unzumutbare Beein­träch­tigung dar. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung kann sie nicht bloß rein vorsorglich erfolgen, sondern erfordert neben den weiteren Voraussetzungen der Siche­rungs­ver­wahrung eine erhebliche, nahe liegende Wahrschein­lichkeit dafür, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist und dies zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung auch noch sein wird. Zudem sind mit dem Vorbehalt keine rechtlichen Nachteile für den Vollzug der Strafe verbunden.

Vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung steht außer Verhältnis zur Intensität des Grund­recht­s­ein­griffs

Die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung und deren spätere Anordnung stehen auch nicht angesichts der in Betracht kommenden Anlass- und Vortaten außer Verhältnis zur Intensität des Grund­recht­s­ein­griffs. Dem ultima-ratio-Prinzip im Rahmen der Siche­rungs­ver­wahrung wird dadurch Rechnung getragen, dass der Vorbehalt nur angeordnet werden kann, wenn die erforderliche erhebliche, nahe liegende Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit sich auf solche drohenden Straftaten bezieht, durch die potentielle Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden. Damit ist die Anordnung des Vorbehalts und die spätere Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung in der Praxis regelmäßig dann ausgeschlossen, wenn im Vorfeld Straftaten begangen worden sind, die keine körperliche und seelische Schädigung beim Opfer hervorgerufen haben und nicht geeignet waren, solche Schädigungen herbeizuführen.

Verhalten des Betroffenen in der Strafhaft wird mit besonderer Vorsicht gewürdigt

Des Weiteren erweist sich die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung auch nicht dadurch als unver­hält­nismäßig, dass bei der Entscheidung über ihre Anordnung die Gefähr­lich­keits­prognose auf das Verhalten des Betroffenen im Strafvollzug gestützt wird. Die begrenzte Aussagekraft des Vollzugs­ver­haltens führt dazu, dass das Verhalten des Betroffenen in der Strafhaft mit besonderer Vorsicht zu würdigen ist. Dem trägt die Rechtsprechung bereits dadurch hinreichend Rechnung, dass allgemein verbreitete und vollzugs­ty­pische Verhal­tens­weisen, wie etwa unfreundliches, aufsässiges Verhalten, nicht ohne Weiteres als Hinweis auf eine erhebliche Gefährlichkeit eines Verurteilten gewertet werden.

Vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung mit Wertungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention vereinbar

Die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung enthält auch unter Berück­sich­tigung der Wertungen der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) keinen unver­hält­nis­mäßigen Eingriff in das Freiheits­grundrecht. Dieser findet seine Rechtfertigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) EMRK, der eine „rechtmäßige Freiheits­ent­ziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht“ gestattet. Voraussetzung ist, dass zwischen der Verurteilung, die die Schuld­fest­stellung enthält, und der in Rede stehenden Freiheits­ent­ziehung ein hinreichender Kausa­l­zu­sam­menhang besteht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht es der Annahme eines solchen Kausa­l­zu­sam­menhangs nicht entgegen, dass die Freiheits­ent­ziehung nicht zusammen mit der Verurteilung ausgesprochen wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich eine später angeordnete Freiheits­ent­ziehung in dem zum Zeitpunkt der Verurteilung bestehenden gesetzlichen und durch die Verurteilung gesteckten Rahmen bewegt.

Vorbehalt schafft lediglich Grundlage für Möglichkeit der späteren Anordnung

Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil mit der Entscheidung, die Siche­rungs­ver­wahrung vorzubehalten, die Grundlage für eine spätere Anordnung geschaffen wird. Sinn und Zweck des Vorbehalts ist es gerade, eine breitere Tatsa­chen­grundlage für die Entscheidung zu schaffen, ob die Notwendigkeit besteht, den Täter zum Schutz der Allgemeinheit in der Siche­rungs­ver­wahrung unterzubringen, und damit eine genauere Gefähr­lich­keits­prognose zu erhalten. Die Entscheidung über die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung beruht daher auf Gründen, die bereits in dem Vorbe­halts­urteil angelegt sind.

BVerfG verneint Verstoß gegen Gebot der Rechts­si­cherheit

Die vorbehaltene Siche­rungs­ver­wahrung verstößt auch weder gegen das Bestimmt­heitsgebot noch gegen das Gebot der Rechts­si­cherheit. Insbesondere besteht kein allgemeiner Grundsatz dahingehend, dass der von einem staatlichen Eingriff in seine Freiheit Betroffene bereits mit der Aburteilung Gewissheit über die tatsächliche Dauer der Freiheits­ent­ziehung haben müsste. Das Gebot der Rechts­si­cherheit gibt dem Betroffenen lediglich den Anspruch auf Gewissheit über die Länge einer Freiheits­ent­ziehung zu dem Zeitpunkt, der nach der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens eine verbindliche Entscheidung erlaubt. Der Konstruktion der vorbehaltenen Siche­rungs­ver­wahrung ist es gerade immanent, dass die Entscheidung über die Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung erst zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden kann.

BGH muss Zulässigkeit der Unterbringung des Beschwer­de­führers in der Siche­rungs­ver­wahrung erneut prüfen

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Freiheits­grundrecht, weil sie auf der verfas­sungs­widrigen Vorschrift des § 66 a StGB a. F. beruhen. Nach den im Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 4. Mai 2011 getroffenen Überg­angs­re­ge­lungen darf die Vorschrift des § 66 a StGB a. F. - wie alle wegen Verletzung des Freiheits­grund­rechts verfas­sungs­widrigen Vorschriften zur Siche­rungs­ver­wahrung - nur nach Maßgabe einer strikten Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung angewandt werden. In der Regel wird dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz nur Genüge getan, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexual­straftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Die Gerichte haben nicht geprüft, ob nach diesem Maßstab die Anordnung der Unterbringung des Beschwer­de­führers in der Siche­rungs­ver­wahrung zulässig ist. Der Bundes­ge­richtshof hat in seiner erneuten Revisi­ons­ent­scheidung zu prüfen, ob die erstinstanzlich bereits getroffenen Feststellungen zur abschließenden Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung des Beschwer­de­führers in der Siche­rungs­ver­wahrung genügen oder ob hierfür ergänzende Feststellungen zu treffen sind.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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