21.11.2024
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Dokument-Nr. 31563

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Bundesverfassungsgericht Urteil22.03.2022

Bundes­ver­fas­sungs­gericht: Einzelner Abgeordneter hat kein Vorschlagsrecht bei der Wahl des Bundestags-VizepräsidentenErfolgloses Organ­streit­ver­fahren zum Vorschlagsrecht bei der Wahl einer Vizepräsidentin/eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat einen Antrag im Organ­streit­ver­fahren zurückgewiesen, der die Frage betrifft, ob aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG für einen Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Recht folgt, für die Wahl des Bundes­tags­vi­ze­prä­si­denten im zweiten Wahlgang einen eigenen Kandidaten vorzuschlagen und über diesen Vorschlag abstimmen zu lassen.

Für eine Sitzung des Deutschen Bundestages im November 2019 kündigte der Antragsteller an, neben dem von seiner Fraktion bereits vorgeschlagenen Abgeordneten im zweiten Wahlgang einen weiteren Abgeordneten zur Wahl zum Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages vorschlagen zu wollen. Der Antrag wurde in der Sitzung – nach vorangegangener Ankündigung durch den Bundes­tags­prä­si­denten – von der sitzungs­lei­tenden Vizepräsidentin mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass einem einzelnen Abgeordneten insoweit kein Vorschlagsrecht zustehe. Der Zweite Senat hat nun entschieden, dass Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zwar grundsätzlich ein Recht des einzelnen Abgeordneten umfasst, bei den durch den Deutschen Bundestag durch­zu­füh­renden Wahlen eigene Wahlvorschläge zu machen. Einschränkungen dieses Rechts sind nur zum Schutz gleichwertiger Verfas­sungsgüter unter Beachtung des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit zulässig. Davon ausgehend ist die Nichtzulassung des Wahlvorschlags des Antragstellers verfas­sungs­rechtlich hinreichend gerechtfertigt. Sie beruht auf § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT, dessen Auslegung im Sinne einer Beschränkung des Wahlvor­schlags­rechts auf die Fraktionen durch den Antragsgegner vertretbar und verfas­sungs­rechtlich unbedenklich ist.

Sachverhalt

Der Antragsteller ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und gehört der Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) an. Die AfD-Fraktion hatte in der zurückliegenden Legis­la­tur­periode mehrere Frakti­o­ns­mit­glieder erfolglos für die Wahl zum Vizepräsidenten des 19. Deutschen Bundestages vorgeschlagen.

In der Sitzung vom 26. September 2019 wurde – im ersten Wahlgang – über einen von der AfD-Fraktion eingebrachten Wahlvorschlag abgestimmt, der nicht die erforderliche Mehrheit erhielt. Für die Sitzung am 7. November 2019 wurde erneut die Wahl eines Stellvertreters des Bundes­tags­prä­si­denten – als zweiter Wahlgang – auf die Tagesordnung gesetzt. Die AfD-Fraktion schlug wiederum denselben Abgeordneten vor. Der Antragsteller kündigte schriftlich an, einen weiteren Abgeordneten zur Wahl vorschlagen zu wollen. Der damalige Bundes­tags­prä­sident, der Antragsgegner, teilte dem Antragsteller mit, dass der angekündigte Wahlvorschlag nicht zugelassen werde. Nach Aufruf des Tages­ord­nungs­punktes erhielt der Antragsteller das Wort zur Geschäfts­ordnung und begründete seinen Antrag, der jedoch von der sitzungs­lei­tenden Vizepräsidentin mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen wurde, dass einem einzelnen Abgeordneten kein Vorschlagsrecht für die Wahl eines Vizepräsidenten zustehe.

Der Antragsteller macht geltend, dass er durch die Zurückweisung seines Wahlvorschlags in seinem Recht als Abgeordneter auf gleiche Mitwirkung an der parla­men­ta­rischen Willensbildung gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sei.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Der Antrag ist nicht begründet.

I. Prüfungsmaßstab des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts im Organstreit ist allein das Grundgesetz, nicht hingegen die lediglich in der Geschäfts­ordnung des Bundestages nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG getroffenen Regelungen.

II. Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Diese Norm schützt nicht nur den Bestand, sondern auch die tatsächliche Ausübung des Mandats. Aus dem freien Mandat des Abgeordneten resultieren umfangreiche Statusrechte. Der Schutzbereich von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erstreckt sich auf sämtliche Gegenstände der parla­men­ta­rischen Willensbildung. Die Norm schützt den Status der Gleichheit der Abgeordneten und deren Mitwir­kungs­be­fugnisse in einem formellen und umfassenden Sinn. Sie entfaltet daher grundsätzlich auch Wirkung bei Entscheidungen über die innere Organisation des Parlaments einschließlich der hierfür erforderlichen Wahlakte.

III. Das Recht auf gleich­be­rechtigte Teilhabe an der politischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist – wie die übrigen Statusrechte – nicht schrankenlos gewährleistet. Einschränkungen der Mitwir­kungs­be­fugnisse der Abgeordneten müssen aber dem Schutz gleichwertiger Verfas­sungsgüter dienen und dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit Rechnung tragen. Die Funkti­o­ns­fä­higkeit des Parlaments stellt dabei ein gleichwertiges Rechtsgut von Verfassungsrang dar. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gibt dem Parlament die Befugnis, seine inneren Angelegenheiten im Rahmen der verfas­sungs­mäßigen Ordnung autonom zu regeln und sich selbst so zu organisieren, dass es seine Aufgaben effektiv erfüllen kann. In diesem Sinne kann der Deutsche Bundestag näher bestimmen, auf welche Weise seine Mitglieder an der parla­men­ta­rischen Willensbildung mitwirken. Bei der Entscheidung darüber, welcher Regelungen es zur effektiven Selbst­or­ga­ni­sation und zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs bedarf, kommt dem Deutschen Bundestag ein weiter Gestal­tungs­spielraum zu. Einschränkungen des Status der Gleichheit der Abgeordneten darf er jedoch auch im Rahmen seiner Geschäfts­ord­nungs­au­tonomie nur anordnen, soweit dies zur effektiven Aufga­be­n­er­füllung oder zum Schutz sonstiger gleichwertiger Verfas­sungsgüter geeignet, erforderlich und angemessen ist.

IV. Ausgestaltung und Anwendung der Geschäfts­ordnung durch den Deutschen Bundestag beziehungsweise durch seine hierzu berufenen Organe unterliegen nur eingeschränkter verfas­sungs­ge­richt­licher Überprüfung. Hinsichtlich der Auslegung und Anwendung der Geschäfts­ordnung findet lediglich eine am – im Rahmen von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu beachtenden – Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung und den anerkannten Ausle­gungs­me­thoden orientierte Kontrolle daraufhin statt, ob diese evident sachwidrig sind. Ist dies nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob ein mit der Auslegung und Anwendung der Geschäfts­ordnung durch den Bundestag selbst verbundener Eingriff in das Recht der Abgeordneten auf gleich­be­rechtigte Mitwirkung an der parla­men­ta­rischen Willensbildung den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an eine Einschränkung von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung trägt.

V. Nach diesen Maßstäben ist der Antrag unbegründet.

1. Das Recht des einzelnen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, bei den durch den Deutschen Bundestag durch­zu­füh­renden Wahlen eigene Wahlvorschläge zu machen, entspricht dem Leitbild der Wahrnehmung des freien Mandats als zweite Stufe des Prozesses der demokratischen Willensbildung. Demgemäß umfasst der Schutzbereich des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich auch das Recht des einzelnen Abgeordneten, sich an der Wahl der Stellvertreter des Bundes­tags­prä­si­denten durch eigene Wahlvorschläge zu beteiligen.

2. Die Einschränkung dieses Rechts durch die Nichtzulassung des Wahlvorschlags des Antragstellers ist jedoch verfas­sungs­rechtlich hinreichend legitimiert. Sie beruht auf § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT, der bestimmt, dass jede Fraktion durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten ist. Die Regelung des Wahlvor­schlags­rechts für die Besetzung des Präsidiums des Deutschen Bundestages unterfällt der Geschäfts­ord­nungs­au­tonomie des Parlaments. Eine ausdrückliche Regelung des Wahlvor­schlags­rechts enthalten die Bestimmungen der Geschäfts­ordnung zwar nicht. Gleichwohl hat der Antragsgegner den Wahlvorschlag des Antragstellers unter Verweis auf § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT zurückgewiesen. Er hat dabei die Auffassung vertreten, dass die Norm eine Beschränkung des Wahlvor­schlags­rechts für die Wahl der Vizeprä­si­den­tinnen und Vizepräsidenten auf die Fraktionen beinhalte. Verfas­sungs­rechtlich ist hiergegen nichts zu erinnern. Ob die vom Antragsgegner vorgenommene Auslegung von § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT die einzig vertretbare Möglichkeit der Inhalts­be­stimmung dieser Norm darstellt, kann dahinstehen. Sie erscheint jedenfalls nicht evident sachwidrig. Für einen Verstoß gegen den Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäfts­ordnung sind keine Anhaltspunkte ersichtlich.

3. Der mit dieser Auslegung von § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT verbundene Eingriff in das freie Mandat des Abgeordneten ist verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt. Die Norm dient dem Schutz eines gleichwertigen Verfassungsguts. Sie bezweckt die Repräsentation aller Fraktionen in den Leitungs­strukturen des Parlaments. Über den jeweiligen Vizepräsidenten sollen – ungeachtet seiner Verpflichtung zur Unpar­tei­lichkeit im Fall der Sitzungsleitung – die Interessen und Vorstellungen aller Fraktionen eingebracht und die Akzeptanz der zur Bewältigung der Aufgaben des Deutschen Bundestages zu treffenden Organi­sa­ti­o­ns­ent­schei­dungen in den einzelnen Fraktionen verbessert werden. Demgemäß soll mit dem für jede Fraktion vorgesehenen Grundmandat auf der Ebene der Bundes­tags­vi­ze­prä­si­denten ein Beitrag zur Arbeits- und Funkti­o­ns­fä­higkeit des Deutschen Bundestages geleistet werden.

4. Der Eingriff in die Mandatsfreiheit des Antragstellers ist zur Erreichung des Erhalts und der Effektivierung der Funkti­o­ns­fä­higkeit des Parlaments geeignet, erforderlich und angemessen.

a) Dass die Beschränkung des Vorschlags­rechts für die zu wählenden Stellvertreter des Bundes­tags­prä­si­denten auf die im Parlament vertretenen Fraktionen einen Beitrag dazu leisten kann, inter­frak­ti­onelle Verständigungs- und Kompro­miss­po­tentiale zu erschließen und dadurch die Arbeits­fä­higkeit des Parlaments zu verbessern, liegt auf der Hand. Selbst ein Wahlvor­schlagsrecht des einzelnen Abgeordneten, das auf die Mitglieder der zu vertretenden Fraktion beschränkt würde, könnte nicht in gleicher Weise wie im Falle des Vorschlags­rechts der Fraktion selbst deren Einbindung auf der Leitungsebene des Parlaments und die Nutzung damit verbundener inter­frak­ti­o­neller Abstimmungs- und Kompro­miss­mög­lich­keiten gewährleisten. Es wäre in diesem Fall nicht auszuschließen, dass von dem einzelnen Abgeordneten ein Vorschlag gemacht und sodann eine Person zum Bundes­tags­vi­ze­prä­si­denten oder zur Bundes­tags­vi­ze­prä­si­dentin gewählt würde, die das Vertrauen der zu vertretenden Fraktion nicht oder nicht in vollem Umfang genießt. Dies gilt umso mehr, wenn der Wahlvorschlag des einzelnen Abgeordneten wie im vorliegenden Fall neben den Wahlvorschlag der Fraktion tritt.

b) Durch den Ausschluss des einzelnen Abgeordneten von der Möglichkeit, im Plenum eigene Kandidaten für die Wahl eines Bundes­tags­vi­ze­prä­si­denten oder einer Bundes­tags­vi­ze­prä­si­dentin vorzuschlagen, werden dessen Mitwir­kungs­be­fugnisse an der parla­men­ta­rischen Willensbildung nur in geringem Umfang eingeschränkt. Dem Abgeordneten ist es unbenommen, sich innerhalb der Fraktion für den von ihm favorisierten Vorschlag einzusetzen und darauf hinzuwirken, dass die Fraktion sich diesen zu eigen macht. Seine Mitwirkung an der Wahl selbst bleibt erhalten. Der begrenzten Beein­träch­tigung der Mitwir­kungs­be­fugnisse des einzelnen Abgeordneten durch die Ausgestaltung des Vorschlags­rechts als (Fraktions-)Gruppenrecht steht ein erhebliches Interesse des Parlaments an der Absicherung der mit der „Grundmandats“-Regelung in § 2 Abs. 1 Satz 2 GO-BT verfolgten Ziele einer Einbindung der Fraktionen in die Leitungs­strukturen des Deutschen Bundestages und einer Aktivierung der damit verbundenen Abstimmungs- und Koordi­na­ti­o­ns­mög­lich­keiten gegenüber. Vor diesem Hintergrund ist der Ausschluss des Vorschlags­rechts des einzelnen Abgeordneten für die Wahl der Stellvertreter des Bundes­tags­prä­si­denten angemessen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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