18.10.2024
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Dokument-Nr. 34388

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Bundesverfassungsgericht Urteil18.09.2024

AfD-Fraktion scheitert mit Klagen zum Ausschuss­vorsitzAfD hat keinen Anspruch auf Ausschuss­vorsitze im Bundestag

Das Bundes­verfassungs­gericht hat zwei Organklagen der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag (Antragstellerin) teilweise als unbegründet zurückgewiesen und im Übrigen als unzulässig verworfen. Im Verfahren 2 BvE 1/20 wendet sich die Antragstellerin gegen die Abwahl des ihrer Fraktion angehörenden Vorsitzenden des Rechts­aus­schusses des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode. Im Verfahren 2 BvE 10/21 rügt sie die Durchführung von Wahlen zur Bestimmung der Vorsitzenden des Innen­aus­schusses, des Gesundheits­ausschusses und des Entwicklungs­ausschusses in der 20. Wahlperiode, bei denen die von ihr vorgeschlagenen Kandidaten jeweils keine Mehrheit erreichten. Die Antragstellerin sieht sich dadurch in ihren Rechten auf Gleich­be­handlung als Fraktion verletzt.

Die Fachausschüsse im Deutschen Bundestag nehmen in großem Umfang Aufgaben des Plenums wahr. Weite Teile der fachlichen Beratungen und der Vorbereitung der Entscheidungen des Bundestages, die abschließend dem Plenum in seiner Gesamtheit obliegen, sowie der Informations-, Kontroll- und Unter­su­chungs­aufgaben des Parlaments finden in den Ausschüssen statt. Die Zusammensetzung der Ausschüsse und die Regelung ihres Vorsitzes wird im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorgenommen (§ 12 Satz 1 GO-BT). Die Fraktionen benennen die Ausschuss­mit­glieder (§ 57 Abs. 2 Satz 1 GO-BT). Die Ausschuss­vor­sit­zenden erfüllen geschäfts­leitende und repräsentative Funktionen. Ihnen obliegt die Vorbereitung, Einberufung und Leitung der Ausschuss­sit­zungen sowie die Durchführung der Ausschuss­be­schlüsse (§ 59 Abs. 1 GO-BT). Die Vorsitzenden sind bei der Wahrnehmung ihrer amtlichen Aufgaben gehalten, partei­po­li­tische Neutralität zu wahren. § 58 GO-BT statuiert, dass die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stell­ver­tre­te­rinnen und Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO-BT) „bestimmen“. Seit der ersten Wahlperiode ist es üblich, dass sich die Fraktionen im Ältestenrat um eine Einigung bemühen, welche Fraktion welchen Ausschuss­vorsitz erhalten soll. Gelingt eine solche Einigung nicht, werden die Ausschuss­vorsitze im sogenannten Zugriffs­ver­fahren verteilt. Die Fraktionen wählen in einer anhand der Stärke­ver­hältnisse im Parlament bestimmten Zugriffs­rei­henfolge je einen noch freien Ausschuss­vorsitz, sodass nach und nach alle Ausschuss­vorsitze vergeben werden. Die Ausschüsse bestimmen in ihren konsti­tu­ie­renden Sitzungen ihre Vorsitzenden. Dabei erklärt die vorschlags­be­rechtigte Fraktion, wen sie für das Amt des Ausschuss­vor­sitzes vorsieht. Bis einschließlich zur 18. Wahlperiode (2013-2017) wurde dann wie folgt vorgegangen: Erhob sich gegen den Vorschlag kein Widerspruch oder ließ das Verhalten der Ausschuss­mit­glieder auf allgemeine Zustimmung schließen, war der Vorschlag durch Akklamation bestätigt. Nur wenn Widerspruch geäußert wurde, wurde gegebenenfalls eine Wahl durchgeführt. Beides war nur vereinzelt der Fall.

In der 19. Wahlperiode kam es in mehreren Ausschüssen nach Widersprüchen durch Ausschuss­mit­glieder anderer Fraktionen zu Wahlen zum Ausschuss­vorsitz. Die von der Antragstellerin benannten Kandidaten erreichten damals die erforderlichen Mehrheiten, darunter der Abgeordnete Brandner im Ausschuss für Recht und Verbrau­cher­schutz (Rechtsausschuss). In den Jahren 2018 und 2019 beanstandeten Mitglieder des Rechts­aus­schusses das Auftreten des Vorsitzenden bei Veranstaltungen des Deutschen Anwaltvereins am 28. Februar 2018 und 15. Januar 2019. Sie beklagten, der Vorsitzende habe nicht das erforderliche Maß an partei­po­li­tischer Zurückhaltung walten lassen und dadurch seine Aufgabe, den Ausschuss als Ganzen zu repräsentieren, verfehlt. In der zweiten Hälfte des Jahres 2019 rief der Abgeordnete Brandner durch mehrere Beiträge auf dem Kurznach­rich­ten­dienst „Twitter“ öffentliche Empörung hervor. Vor diesem Hintergrund beschloss der Rechtsausschuss am 13. November 2019 auf Antrag der Obleute der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen mit 37 Ja- gegen sechs Nein-Stimmen, den Abgeordneten Brandner vom Ausschuss­vorsitz abzuberufen. Fortan leitete der stell­ver­tretende Ausschussvorsitzende den Rechtsausschuss. Auch zu Beginn der 20. Wahlperiode kam das Zugriffs­ver­fahren bei der Verteilung der Ausschuss­vorsitze zur Anwendung. Dabei fielen der Antragstellerin die Vorsitze der Ausschüsse für Inneres und Heimat (Innenausschuss), Gesundheit (Gesund­heits­aus­schuss) und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Entwick­lungs­aus­schuss) zu. In den konsti­tu­ie­renden Ausschuss­sit­zungen am 15. Dezember 2021 wurden auf Antrag der Regie­rungs­frak­tionen geheime Wahlen zur Bestimmung der Vorsitzenden durchgeführt. Bei diesen Wahlen erhielt keiner der von der Antragstellerin vorgeschlagenen Kandidaten die erforderliche Mehrheit. Die Vorsitze sind seitdem vakant; die stell­ver­tre­tenden Vorsitzenden leiten die Ausschüsse. Die Antragstellerin macht jeweils geltend, von den Antragsgegnern – den genannten Ausschüssen, dem Bundestag sowie der Präsidentin und dem Präsidium des Bundestages – in ihren Rechten auf Gleich­be­handlung als Fraktion, auf faire und loyale Anwendung der Geschäfts­ordnung und auf effektive Opposition verletzt worden zu sein.

Spiegel­bildliche Besetzung gilt für Ausschüsse, aber nicht für Vorsitzposten

Die Anträge sind zulässig, soweit sich die Antragstellerin gegen den Rechtsausschuss (2 BvE 1/20) beziehungsweise den Innen-, den Gesundheits- und den Entwick­lungs­aus­schuss (2 BvE 10/21) wendet und die Verletzung ihres Rechts auf Gleich­be­handlung als Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages durch die Abwah­l­ent­scheidung beziehungsweise die Durchführung ungebundener Mehrheitswahlen geltend macht. Im Übrigen sind die Anträge unzulässig. Soweit sie sich gegen den Deutschen Bundestag als Gesamtorgan sowie im Verfahren 2 BvE 10/21 zusätzlich gegen die Präsidentin des Bundestages und gegen das Präsidium richten, fehlt es diesen an der passiven Prozess­füh­rungs­be­fugnis. Im Organ­streit­ver­fahren passiv prozess­füh­rungs­befugt und damit richtiger Antragsgegner ist, wer die angegriffene Maßnahme zu verantworten hat. Die im Verfahren 2 BvE 1/20 angegriffene Abwah­l­ent­scheidung wurde von dem Rechtsausschuss getroffen. Es ist nicht zu erkennen, dass die Abwahl dem Bundestag in seiner Gesamtheit rechtlich zugerechnet werden könnte. Die im Verfahren 2 BvE 10/21 angegriffenen Wahlakte sind von den jeweiligen Ausschüssen zu verantworten. Es ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, weshalb die lediglich organi­sa­to­rische Rolle eines Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages bei der Durchführung der Wahlen in der konsti­tu­ie­renden Sitzung der Ausschüsse und der Feststellung des Abstim­mungs­er­geb­nisses zu einer rechtlichen Verant­wort­lichkeit des Bundestages oder seiner Präsidentin für die Durchführung der Wahl führen sollte.

Die Anträge sind, soweit zulässig, unbegründet. Prüfungsmaßstab ist allein das Grundgesetz, nicht hingegen die Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages. Nur in der Geschäfts­ordnung gewährleistete Rechte können für sich genommen im Organstreit nicht geltend gemacht werden. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert den Abgeordneten des Deutschen Bundestages die zur Ausübung ihres Mandats erforderlichen Befugnisse zur gleich­be­rech­tigten Mitwirkung an der Willensbildung und Entschei­dungs­findung des Bundestages. Als politische Kräfte sind die Fraktionen ebenso gleich und entsprechend ihrer Stärke zu behandeln. Die Mitwir­kungs­be­fugnis der Abgeordneten erstreckt sich auch auf die Ausschüsse des Deutschen Bundestages. Grundsätzlich muss jeder Ausschuss, soweit er Aufgaben des Plenums übernimmt beziehungsweise dessen Entscheidungen vorbereitet, ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung dessen Zusammensetzung widerspiegeln. Dies erfordert eine möglichst getreue Abbildung der Stärke der im Plenum vertretenen Fraktionen.

Der Grundsatz der Spiegel­bild­lichkeit gilt hingegen nicht für Gremien und Funktionen, die lediglich organi­sa­to­rischer Art sind und daher nicht dem Einfluss des Prinzips gleich­be­rech­tigter Teilnahme an den dem Bundestag nach dem Grundgesetz übertragenen Aufgaben unterliegen. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG begründet folglich für sich genommen keinen Anspruch auf Zugang zu Leitungsämtern, bei denen es nicht zur inhaltlichen Vorformung der parla­men­ta­rischen politischen Willensbildung kommt. Daraus folgt, dass sich gerade die Beschränkung der Vergabe von Vorsitzen in Ausschüssen durch die Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages im Rahmen der dem Bundestag zustehenden Geschäfts­ord­nungs­au­tonomie hält. Bei dem Zugang zum Amt des Ausschuss­vor­sitzes handelt es sich nicht um ein spezifisch mitglied­s­chaft­liches Recht. Allerdings bleibt der Deutsche Bundestag auch jenseits der Mitwirkung der Abgeordneten und ihrer Zusam­men­schlüsse an der parla­men­ta­rischen Willensbildung im engeren Sinne und an den Organi­sa­ti­o­ns­ent­schei­dungen des Bundestages dem Grundsatz der Gleichheit verpflichtet. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG begründet einen Status formaler Gleichheit der Abgeordneten und ihrer Zusam­men­schlüsse. Der Gehalt des Gleich­heits­grund­satzes erschöpft sich nicht in einem rein objektiven Rechtssatz. Er prägt den Status der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusam­men­schlüsse und vermittelt ihnen daher ein Recht, diesem Grundsatz entsprechend behandelt zu werden. Seinen Ausdruck findet dieser verfas­sungs­rechtliche Gleich­be­hand­lungs­an­spruch unter anderem im Recht der Abgeordneten und ihrer Zusam­men­schlüsse auf eine faire und loyale Auslegung und Anwendung der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages. Indem sich der Bundestag eine Geschäfts­ordnung gibt, bindet er sich selbst und ist gehalten, von ihm eingeräumte Rechte gleichmäßig und sachgemäß zur Geltung zu bringen. Der Gleich­be­hand­lungs­an­spruch erstreckt sich daher – als Teilha­be­an­spruch – auch auf jene Betei­li­gungs­rechte, die über die unmittelbar in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wurzelnden spezifischen Statusrechte der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusam­men­schlüsse hinausgehen.

Gericht betont große Autonomie des Bundestags

Nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG kommt es dem Deutschen Bundestag zu, kraft seiner Geschäfts­ord­nungs­au­tonomie über seine innere Organisation und sein Verfahren zu entscheiden. Bei der Gestaltung hat er einen weiten Spielraum. Hierbei sind nicht nur Erlass, sondern auch Auslegung und Anwendung der Geschäfts­ordnung grundsätzlich dem Bundestag selbst überantwortet. Einschränkungen der dem Mandat entspringenden spezifischen Mitwir­kungs­be­fugnisse der Abgeordneten beziehungsweise ihrer Zusam­men­schlüsse durch die Geschäfts­ordnung unterliegen besonderen verfas­sungs­recht­lichen Recht­fer­ti­gungs­an­for­de­rungen. Ist demgegenüber nicht ein unmittelbar in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankertes spezifisches mitglied­s­chaft­liches Recht betroffen, sondern geht es allein um den formalen Status der Gleichheit der Abgeordneten in Form der Teilhabe an Rechts­po­si­tionen, die erst die Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages einräumt, findet eine verfas­sungs­ge­richtliche Überprüfung lediglich dahingehend statt, ob die einschlägigen Bestimmungen der Geschäfts­ordnung oder ihre Auslegung und Anwendung jedenfalls nicht evident sachwidrig und damit willkürlich sind. An diesen Maßstäben gemessen scheidet eine Verletzung des Rechts der Antragstellerin auf Gleich­be­handlung als Fraktion aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der fairen und loyalen Auslegung der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages aus. Der Abgeord­ne­ten­status und daraus abgeleitet die Rechtsstellung der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisten kein Recht auf Besetzung von Ausschuss­vor­sitzen. Der Grundsatz der Spiegel­bild­lichkeit ist nicht auf die Leitungsämter des Deutschen Bundestages anzuwenden. Bei solchen Funktionen, die rein organi­sa­to­rischer Art sind, kommt er nicht zum Tragen.

Die Antragstellerin kann indes aus dem Recht auf Gleich­be­handlung der Abgeordneten und daraus abgeleitet ihrer Zusam­men­schlüsse in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG beanspruchen, bei der Bestimmung der Ausschuss­vorsitze in einer Weise behandelt zu werden, die einer fairen und loyalen Auslegung und Anwendung der Vorschriften der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages betreffend die Besetzung der Ausschuss­vorsitze entspricht. § 12 Satz 1 GO-BT bestimmt, dass die Positionen der Ausschuss­vor­sit­zenden nach dem Stärke­ver­hältnis der Fraktionen zuzuweisen sind. Zugleich legt § 58 GO-BT fest, dass die Ausschüsse ihre Vorsitzenden „bestimmen“. Die Durchführung von Wahlen zum Ausschuss­vorsitz im Innen-, Gesundheits- und Entwick­lungs­aus­schuss (2 BvE 10/21), deren Vorsitze der Antragstellerin nach § 12 GO-BT grundsätzlich zustehen, verletzen das Recht der Antragstellerin auf Gleich­be­handlung nicht. Die Auslegung und Anwendung der Regelungen der §§ 12, 58 GO-BT in dem Sinne, dass Ausschuss­vor­sitzende im Wege einer Mehrheitswahl durch die jeweiligen Ausschüsse bestimmt werden, wahren den Grundsatz einer fairen und loyalen Auslegung der Geschäfts­ordnung des Deutschen Bundestages; sie sind nicht evident sachwidrig. Die Regelung des Beset­zungs­ver­fahrens der Ausschuss­vorsitze unterfällt der Geschäfts­ord­nungs­au­tonomie des Deutschen Bundestages. Die Ausgestaltung des Beset­zungs­ver­fahrens stellt sich als eine innere Angelegenheit des Parlaments dar, die dieses im Rahmen der verfas­sungs­mäßigen Ordnung autonom regeln kann. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das gewählte Leitungsmodell und seine geschäfts­ord­nungs­rechtliche Ausgestaltung (§§ 12, 58 GO-BT) diesen Rahmen überschritten haben. Die Auslegung der §§ 12, 58 GO-BT durch die betroffenen Ausschüsse ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Diese gehen davon aus, § 58 GO-BT sei so zu verstehen, dass die Ausschüsse dazu berufen seien, die Entscheidung über die Besetzung des Vorsitzes selbst zu treffen, und dass sie sich hierzu des Mittels der Wahl eines Ausschuss­mit­glieds ohne weitere Einschränkungen bedienen könnten. Ein Benennungsrecht der Fraktionen besteht nach ihrer Ansicht nicht. Diese Auslegung ist nicht evident sachwidrig. Eine nach Maßgabe der Geschäfts­ordnung zulässige Wahl zur Besetzung eines parla­men­ta­rischen Leitungsamtes kann nur eine freie Wahl sein. Der mit einer Wahl einhergehende legiti­ma­to­rische Mehrwert könnte nicht erreicht werden, wenn es eine Pflicht zur Wahl eines bestimmten Kandidaten oder einer bestimmten Kandidatin gäbe. Mit einer freien Wahl wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion das Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte. Die Mitwirkung einer Fraktion bei der Besetzung der Ausschuss­vorsitze im Deutschen Bundestag kann daher nach Maßgabe der Geschäfts­ordnung unter den Vorbehalt einer freien Wahl im Ausschuss gestellt werden. Sie ist dann darauf beschränkt, dass eine Fraktion einen Kandidaten für die Wahl vorschlagen kann und dass die freie Wahl ordnungsgemäß durchgeführt wird. Schließlich bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine dem Grundsatz der fairen und loyalen Anwendung der Geschäfts­ordnung widersprechende Anwendung der §§ 12, 58 GO-BT in den hier streitigen Fällen.

Auch Abwahl des Vorsitzenden des Rechts­aus­schusses zulässig

Auch die Abwahl des Vorsitzenden des Rechts­aus­schusses am 13. November 2019 (2 BvE 1/20) verletzt die Antragstellerin nicht in ihrem Recht auf Gleich­be­handlung. Der Rechtsausschuss durfte davon ausgehen, zur Abwahl seines Vorsitzenden grundsätzlich befugt zu sein. Er befand sich insoweit in Übereinstimmung mit der Auffassung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts­ordnung. Dieser hatte in seiner Ausle­gungs­ent­scheidung vom 7. November 2019, der sich das Plenum anschloss, die Ansicht vertreten, die Abwahl sei als Actus contrarius zu der Entscheidung, mit der ein Ausschuss seinen Vorsitz bestimme, auch ohne ausdrückliche Regelung in der Geschäfts­ordnung nach Maßgabe der §§ 58, 12 GO-BT zulässig. Verfas­sungs­rechtlich sei das Amt des Ausschuss­vor­sit­zenden nicht in einer Weise geschützt, die einer Abberufung entgegenstehe. Dieses Verständnis der Geschäfts­ordnung ist nicht evident sachwidrig. Dem steht nicht entgegen, dass der Deutsche Bundestag die Abwahl der von der Fraktion DIE LINKE vorgeschlagenen Vizepräsidentin in Folge der Auflösung dieser Fraktion für unzulässig hielt. Eine unter­schiedliche Handhabung der Abwahl­mög­lichkeit von Präsi­di­ums­mit­gliedern und Ausschuss­vor­sit­zenden ist jedenfalls nicht evident sachwidrig. Die Ämter der Präsi­di­ums­mit­glieder unterscheiden sich derart vom Amt des Ausschuss­vor­sitzes, dass eine unter­schiedliche Handhabung der Geschäfts­ordnung (§ 2 und §§ 58, 12) in Hinblick auf die Möglichkeit einer Abwahl jedenfalls vertretbar ist.

Die Handhabung der von der Geschäfts­ordnung zugelassenen Abwahlbefugnis durch den Rechtsausschuss begegnet keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Die Annahme, der Ausschuss selbst sei für eine etwaige Abwah­l­ent­scheidung zuständig, ist vertretbar und fügt sich in das vom Deutschen Bundestag vertretene Verständnis des § 58 GO-BT ein. Da sich danach die Abwahl als Actus contrarius zu dem Rechtsakt des „Bestimmens“ des Ausschuss­vor­sitzes darstellt, ist die Annahme, der Ausschuss habe auch über die Abberufung zu entscheiden, folgerichtig. Das Verfahren im Rechtsausschuss vor der Entscheidung über den Abwahlantrag ist ebenfalls verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Mitglieder der Antragstellerin im Ausschuss hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde damit gewahrt. Der Ausschuss sprach sich mit einer Mehrheit von 37 Ja-Stimmen gegen 6 Nein-Stimmen für die Abwahl aus. Die für eine Abwahl genügende einfache Mehrheit (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG) wurde bei Weitem überschritten.

Im Übrigen ist die Abwahl nicht willkürlich. Dass ihr Erwägungen zugrunde gelegen hätten, die keinen sachlichen Zusammenhang zum Amt des Vorsitzes beziehungsweise zu der Befähigung des Vorsitzenden, sein Amt in angemessener Weise auszuüben, erkennen lassen, ist nicht ersichtlich. Vor dem Hintergrund einer Reihe von Vorfällen, die zu erheblichen Irritationen in der allgemeinen Öffentlichkeit, aber auch der Fachöf­fent­lichkeit geführt hatten, kam die Ausschuss­mehrheit zu dem Schluss, der Vorsitzende des Rechts­aus­schusses werde sein Amt nicht in einer den Anforderungen des Amtes entsprechenden Weise ausüben und durch seine Person die Ausschussarbeit belasten. Die Ausschuss­mehrheit hatte erkennbar das Vertrauen in den Ausschuss­vor­sit­zenden und seine Fähigkeit zur amtsan­ge­messenen Amtsführung verloren. Eine gedeihliche und effektive Zusammenarbeit im Ausschuss war damit aus ihrer Sicht nicht mehr möglich.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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