22.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil07.05.2008

Bundes­wehr­e­insätze in der Türkei waren verfas­sungs­widrigEinsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen über der Türkei bedurfte der Zustimmung des Bundestags

Für den Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO zur Luftrau­m­über­wachung über dem Hoheitsgebiet der Türkei im Frühjahr 2003 hätte die Bundesregierung die Zustimmung des Deutschen Bundestags einholen müssen. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Der wehrver­fas­sungs­rechtliche Parla­ments­vor­behalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte greift ein, wenn nach dem jeweiligen Einsatz­zu­sam­menhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen konkret zu erwarten ist. Diese Voraussetzungen lagen hier vor. Mit der Luftrau­m­über­wachung der Türkei in AWACS- Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem Militäreinsatz beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen bestanden.

Sachverhalt:

Die Türkei beantragte im Februar 2003 Konsultationen der Mitglieder der NATO nach Art. 4 des NATO-Vertrages. Auf der Grundlage der nachfolgend durchgeführten Konsultationen und Planungen ermächtigte der Vertei­di­gungs­pla­nungs­aus­schuss der NATO am 19. Februar 2003 die militärischen Behörden des Bündnisses, NATO-AWACS-Flugzeuge und Systeme zur Abwehr von Raketen­an­griffen sowie Angriffen mit chemischen und biologischen Waffen in der Türkei zu stationieren. Daraufhin wurden zunächst zwei und etwa drei Wochen später nochmals zwei AWACS-Flugzeuge der NATO von ihrem Standort in Geilenkirchen auf den Luftwaf­fen­stützpunkt Konya in der Türkei verlegt. Die vier Maschinen wurden in der Zeit vom 26. Februar 2003 bzw. 18. März 2003 bis zum 17. April 2003 im türkischen Luftraum zu Überwa­chungs­zwecken eingesetzt. Bei den eingesetzten AWACS-Flugzeugen handelt es sich um ein luftgestütztes Warn- und Überwa­chungs­system zur Früherkennung von Flugzeugen oder anderen fliegenden Objekten. Das System leistet Kontroll- und Führungs­funk­tionen und dient der Leitung von Jagdflugzeugen, wobei die AWACS-Flugzeuge selbst nicht mit Waffen ausgestattet sind. Die Besatzungen bestehen aus Angehörigen der Streitkräfte von zwölf NATO-Mitgliedern. Bei etwa einem Drittel der Besat­zungs­mit­glieder handelt es sich um Soldaten der Bundeswehr.

Im März 2003 teilte der Vorsitzende der FDP-Fraktion dem Bundeskanzler mit, dass nach Überzeugung der Fraktion die Bundesregierung verpflichtet sei, für die Beteiligung deutscher Soldaten an den AWACS-Einsätzen über der Türkei die Zustimmung des Deutschen Bundestages zu beantragen. Zumindest müsse die Bundesregierung darauf vorbereitet sein, einen solchen Antrag im Falle eines bewaffneten Konflikts unverzüglich zu beschließen und dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorzulegen. Die Bundesregierung lehnte es ab, die Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. Zur Begründung führte sie an, dass die NATO-AWACS-Flugzeuge über dem Territorium der Türkei nur Routineflüge durchführten. Ihre ausschließliche Aufgabe sei die strikt defensive Luftrau­m­über­wachung über der Türkei. Sie leisteten keinerlei Unterstützung für Einsätze im oder gegen den Irak.

Nachdem in den frühen Morgenstunden des 20. März 2003 der bewaffnete Konflikt im Irak begonnen hatte, brachten Abgeordnete der FDP sowie die FDP-Fraktion am selben Tag in der Sitzung des Deutschen Bundestages einen Entschlie­ßungs­antrag ein. Hiernach sollte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern, der Verpflichtung durch das Grundgesetz nachzukommen und die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages für die Beteiligung deutscher Soldaten an den AWACS-Einsätzen über der Türkei unverzüglich zu beantragen. Der Antrag erreichte nicht die erforderliche Mehrheit.

Einen Antrag der FDP-Fraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der sie erreichen wollte, dass die deutsche Beteiligung an den AWACS-Einsätzen in der Türkei nur auf der Grundlage eines Bundes­tags­be­schlusses aufrecht erhalten werden dürfe, lehnte der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts mit Beschluss vom 25. März 2003 ab.

Mit ihrem Haupt­sa­cheantrag begehrt die Antragstellerin die Feststellung, dass die Bundesregierung, indem sie für den Einsatz deutscher Soldaten bei Maßnahmen der Luftüberwachung zum Schutz der Türkei nicht die Zustimmung des Deutschen Bundestages eingeholt hat, dessen Recht verletzt hat. Es handele sich um einen Einsatz, der der parla­men­ta­rischen Zustimmung bedürfe. Der Einsatz der AWACS-Flugzeuge in der Türkei stelle keinesfalls eine reine Routinemaßnahme wie die Überwachung einer Grenze in Friedenszeiten dar. Die Bitte der Türkei um Schutzmaßnahmen der NATO beweise vielmehr, dass dieser Einsatz militärische Bedeutung in einem bewaffneten Konflikt habe und Schutz vor einer konkreten militärischen Bedrohung gewähren solle. Eine für das Staatswesen so wesentliche Entscheidung wie die Entfaltung militärischen Machtpotenzials durch Einsatz von oder Drohung mit bewaffneter Gewalt dürfe nicht allein der Exekutive überantwortet werden. Dies folge auch aus dem Gebot, für die beteiligten deutschen Soldaten Rechts­si­cherheit zu gewährleisten und ihnen politische Rückendeckung zu geben.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 aus dem Gesamt­zu­sam­menhang wehrver­fas­sungs­recht­licher Vorschriften des Grundgesetzes und vor dem Hintergrund der deutschen Verfas­sungs­tra­dition dem Grundgesetz ein allgemeines Prinzip entnommen, nach dem jeder Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Deutschen Bundestags bedarf. Die in Art. 24 Abs. 2 GG enthaltene Ermächtigung zur Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit bildet danach die verfas­sungs­rechtliche Grundlage für die Beteiligung der Bundeswehr an Einsätzen außerhalb des Bundesgebiets, soweit diese im Rahmen und nach den Regeln eines solchen Systems erfolgen. Der Deutsche Bundestag muss nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Vertrags­grundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zustimmen. Die Konkretisierung des Vertrags, die Ausfüllung des mit ihm niedergelegten Integra­ti­o­ns­pro­gramms ist dagegen Aufgabe der Bundesregierung. Die deutsche Mitwirkung an der strategischen Gesamt­aus­richtung und an der Willensbildung über konkrete Einsätze des Bündnisses liegt damit ganz überwiegend in den Händen der Bundesregierung.

2. Die bündnis­po­li­tische Gestal­tungs­freiheit der Bundesregierung schließt aber nicht die Entscheidung ein, wer innerstaatlich darüber zu befinden hat, ob sich Soldaten der Bundeswehr an einem konkreten Einsatz beteiligen, der im Bündnis beschlossen wurde. Wegen der politischen Dynamik eines Bündnissystems ist es umso bedeutsamer, dass die größer gewordene Verantwortung für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte in der Hand des Reprä­sen­ta­ti­o­ns­organs des Volkes liegt. Der wehrver­fas­sungs­rechtliche Parla­ments­vor­behalt stellt insoweit ein wesentliches Korrektiv für die Grenzen der parla­men­ta­rischen Verant­wor­tungs­übernahme im Bereich der auswärtigen Sicher­heits­politik dar. Der Deutsche Bundestag ist bei Einsatz bewaffneter Streitkräfte zur grundlegenden, konstitutiven Entscheidung berufen, ihm obliegt die Verantwortung für den bewaffneten Außeneinsatz der Bundeswehr. Angesichts der Funktion und Bedeutung des wehrver­fas­sungs­recht­lichen Parla­ments­vor­behalts darf seine Reichweite nicht restriktiv bestimmt werden. Vielmehr ist der Parla­ments­vor­behalt im Zweifel parla­ments­freundlich auszulegen. Wenn und soweit dem Grundgesetz eine Zuständigkeit des Deutschen Bundestags in Form eines wehrver­fas­sungs­recht­lichen Mitent­schei­dungs­rechts entnommen werden kann, besteht gerade kein eigen­ver­ant­wort­licher Entschei­dungsraum der Bundesregierung. Der Parla­ments­vor­behalt ist Teil des Bauprinzips der Gewaltenteilung, nicht seine Durchbrechung.

3. Ein unter dem Grundgesetz nur auf der Grundlage einer konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestags zulässiger Einsatz bewaffneter Streitkräfte liegt vor, wenn deutsche Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind. Für den wehrver­fas­sungs­recht­lichen Parla­ments­vor­behalt kommt es nicht darauf an, ob bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen sich schon im Sinne eines Kampfgeschehens verwirklicht haben, sondern darauf, ob nach dem jeweiligen Einsatz­zu­sam­menhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen konkret zu erwarten ist. Die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Ausein­an­der­set­zungen kommt, reicht hierfür nicht aus. Erst die qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen führt zur parla­men­ta­rischen Zustim­mungs­be­dürf­tigkeit eines Ausland­s­ein­satzes deutscher Soldaten. Hierfür bedarf es zum einen hinreichender greifbarer tatsächlicher Anhaltspunkte, dass ein Einsatz nach seinem Zweck, den konkreten politischen und militärischen Umständen sowie den Einsatz­be­fug­nissen in die Anwendung von Waffengewalt münden kann. Zum anderen bedarf es einer besonderen Nähe der Anwendung von Waffengewalt. Danach muss die Einbeziehung unmittelbar zu erwarten sein. Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen besteht, wenn sie im Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von ihnen Gebrauch zu machen.

Die Frage, ob eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Unternehmungen besteht, ist gerichtlich voll überprüfbar. Ein vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht nicht oder nur eingeschränkt nachprüfbarer Einschätzungs- oder Progno­se­spielraum ist der Bundesregierung hier nicht eröffnet.

4. Nach diesem Maßstab war die Beteiligung deutscher Soldaten an der Luftrau­m­über­wachung der Türkei durch die NATO vom 26. Februar bis zum 17 April 2003 ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte, der nach dem wehrver­fas­sungs­recht­lichen Parla­ments­vor­behalt der Zustimmung des Deutschen Bundestags bedurfte. Mit der Luftrau­m­über­wachung der Türkei in AWACS-Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem Militäreinsatz beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen bestanden. Die eingesetzten AWACS- Aufklä­rungs­flugzeuge waren Teil eines Systems konkreter militärischer Schutzmaßnahmen gegen einen befürchteten Angriff auf das Bündnisgebiet der NATO. Die Überwachung des türkischen Luftraums hatte von Beginn an einen spezifischen Bezug zu einer aufgrund konkreter Umstände für möglich gehaltenen militärischen Ausein­an­der­setzung mit dem Irak. Auf eine solche Ausein­an­der­setzung hatte sich die NATO spätestens ab dem 18. März 2003 ernsthaft eingestellt, weil der Beginn der Kampfhandlungen im Irak allgemein erwartet wurde. Es bestand ersichtlich mehr als eine lediglich abstrakte Möglichkeit bewaffneter Ausein­an­der­set­zungen. Es lagen vielmehr greifbare tatsächliche Anhaltspunkte vor, nach denen die Verwicklung der NATO in eine militärische Ausein­an­der­setzung zu erwarten war.

Eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen war auch unmittelbar zu erwarten. Spätestens mit den aufgrund der Lagever­schlech­terung erweiterten Einsatzregeln hing die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Ausein­an­der­set­zungen nur noch davon ab, ob und wann der Irak einen Angriff auf die Türkei unternehmen würde.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 52/08 des BVerfG vom 07.05.2008

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