23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss15.01.2009

BVerfG kann auch nach Ende einer Wahlperiode wahlrechtliche Zweifelsfragen prüfenMöglicher Wahlfehler kann grundsätzliche Bedeutung haben

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht behält sich vor, grundsätzlich auch nach der Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode im Rahmen einer zulässigen Wahlprü­fungs­be­schwerde die Verfas­sungs­wid­rigkeit von Wahlrechts­normen zu prüfen. Das hierfür erforderliche öffentliche Interesse an einer Sachent­scheidung ist jedoch für Wahlprü­fungs­be­schwerden gegen die ordnungsgemäße Zusammensetzung des 15. Deutschen Bundestages insbesondere insoweit entfallen, als die Verfas­sungs­wid­rigkeit der Überhangmandate und die Berück­sich­tigung von bestimmten Zweitstimmen in zwei Berliner Wahlkreisen gerügt wird.

Der Beschwer­de­führer legte im November 2002 Einspruch beim Deutschen Bundestag gegen die Wahl zum 15. Deutschen Bundestag ein. Der Deutsche Bundestag wies diesen Wahleinspruch als offensichtlich unbegründet zurück. Dagegen erhob der Beschwer­de­führer Beschwerde zum Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Am 21. Juli 2005 löste der Bundespräsident den 15. Deutschen Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers auf. Augrund der Wahl vom 18. September 2005 konstituierte sich inzwischen der 16. Deutsche Bundestag. Der Beschwer­de­führer verfolgt seine Beschwerde weiter.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bleibt grundsätzlich auch nach der Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprü­fungs­be­schwerde erhobenen Rügen der Verfas­sungs­wid­rigkeit von Wahlrechts­normen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen. Nach Ablauf einer Wahlperiode kann ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts über die Verfas­sungs­ge­mäßheit von Wahlrechts­normen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat.

Kein öffentliches Interesse wenn die Wahlprü­fungs­be­schwerde von Anfang an unzulässig ist

Ein öffentliches Interesse an einer Sachent­scheidung nach Ablauf der Wahlperiode besteht nicht, soweit eine Wahlprü­fungs­be­schwerde von Anfang an unzulässig ist oder wenn das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits in anderem Zusammenhang die Verfas­sungs­mä­ßigkeit oder Verfas­sungs­wid­rigkeit der angegriffenen Vorschrift oder vom Beschwer­de­führer aufgeworfene wahlrechtliche Zweifelsfragen geklärt und der Beschwer­de­führer keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten. Gleiches gilt, wenn der gerügte Mangel durch Änderung der Vorschrift zwischen­zeitlich behoben wurde oder die Vorschrift in einem engen sachlichen Zusammenhang mit Normen steht, deren Verfas­sungs­wid­rigkeit das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits festgestellt hat. Ein öffentliches Sachent­schei­dungs­in­teresse kann auch entfallen, wenn der Deutsche Bundestag einen vom Beschwer­de­führer gerügten Verstoß gegen eine Wahlrechtsnorm bereits im Einspruchs­ver­fahren festgestellt hat.

Das öffentliche Interesse steht einer Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung zur Sache nicht entgegen, weil die vom Beschwer­de­führer erhobenen Rügen zum Teil schon deshalb unzulässig sind, weil sie den Begrün­dungs­an­for­de­rungen nicht genügen. Soweit der Beschwer­de­führer die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht als verfas­sungs­widrig rügt, die Möglichkeit eines Wahlfehlers aufgrund von Zeitungs- und Magazinbeilagen geltend macht und Meinungs­um­fragen vor der Wahl als verfas­sungs­widrig beanstandet, genügt sein pauschales Vorbringen nicht den Begrün­dungs­an­for­de­rungen. Auch hat der Beschwer­de­führer einen Wahlfehler aufgrund einer wegen Verstoßes gegen die Rechen­schafts­pflicht unzulässig finanzierten Wahlwerbung durch die FDP nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

Gesetzgeber muss Regelungs­komplex, der zum Auftreten des so genannten negativen Stimmgewichts führen kann, bis spätestens zum 30. Juni 2011 ändern

An der Rüge des Beschwer­de­führers, dass die Entstehung von Überhang­mandaten und die Berück­sich­tigung der Zweitstimmen von Wählern, die in zwei Berliner Wahlkreisen mit ihrer Erststimme der jeweiligen Wahlkreis­kan­didatin der PDS zu einem Mandat verholfen haben, mit ihrer Zweitstimme jedoch für eine andere Landesliste gestimmt haben (so genannte Berliner Zweitstimmen), die Gleichheit der Wahl verletzen, besteht aufgrund der Entscheidung des Senats zum so genannten negativen Stimmgewicht kein öffentliches Interesse mehr an der Weiterführung des Wahlprü­fungs­ver­fahrens. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, den Regelungs­komplex, der zum Auftreten des so genannten negativen Stimmgewichts führen kann, bis spätestens zum 30. Juni 2011 zu ändern, damit der Deutsche Bundestag in Zukunft aufgrund eines in Einklang mit der Verfassung stehenden Gesetzes gewählt werden kann. Im Hinblick darauf, dass der genannte Effekt untrennbar mit den Überhang­mandaten und der Möglichkeit von Listen­ver­bin­dungen zusammenhängt, kann eine Neuregelung beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den Zweit­stim­men­mandaten oder auch bei der Möglichkeit von Listen­ver­bin­dungen ansetzen. Die vom Beschwer­de­führer aufgeworfene Frage der Verfas­sungs­wid­rigkeit von Überhang­mandaten wird sich nach einer Neuregelung nicht mehr in der gleichen Weise stellen. Ob und inwieweit die Mandats­ver­teilung im Deutschen Bundestag mit der Verfassung vereinbar ist, lässt sich nur unter Würdigung des Zusammenspiels der verschiedenen Wahlrechts­normen und mit Blick auf das vom Gesetzgeber gewählte Wahlsystem beurteilen. Gleiches gilt für die Frage, ob durch das "Splitten" von Erst- und Zweitstimme ein doppelter Stimmerfolg erzielt werden kann, wenn die für politische Parteien abgegebenen Zweitstimmen diesen zu Listenplätzen verhelfen, obwohl die Erststimmen der Wähler schon zur Zuteilung eines Bundes­tags­sitzes geführt haben, der nicht im Wege des Verhält­nis­aus­gleichs verrechnet werden kann.

Rechtwidrige Datennutzung der CDU für Wahlkampfzwecke wurde bereits festgestellt

Soweit der Beschwer­de­führer eine rechtswidrige Datennutzung seitens der CDU für Wahlkampfzwecke rügt, besteht kein öffentliches Sachent­schei­dungs­in­teresse, weil der Deutsche Bundestag bereits im Einspruchs­ver­fahren festgestellt hat, dass die Übermittlung der Daten aller Wahlbe­rech­tigten der betreffenden Wahlkreise seitens der Stadt Köln an die CDU rechtswidrig war. Der nordrhein-westfälische Landes­ge­setzgeber hat dies inzwischen auch durch eine Geset­ze­s­än­derung klargestellt. Ob und inwieweit die Übermittlung der Daten aller Wahlbe­rech­tigten in der Vergangenheit einen erheblichen Wahlfehler begründen konnte, bedarf daher keiner Entscheidung mehr.

Die verbleibenden Rügen des Beschwer­de­führers betreffen Wahlrechts­normen, deren Verfas­sungs­mä­ßigkeit das Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits festgestellt, und wahlrechtliche Zweifelsfragen, die das Bundes­ver­fas­sungs­gericht schon entschieden hat. Der Beschwer­de­führer hat diesbezüglich keine Gesichtspunkte vorgetragen, die Anlass zu einer anderweitigen Beurteilung geben könnten.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 04/09 des BVerfG vom 23.01.2009

der Leitsatz

Im Wahlprü­fungs­ver­fahren kann auch nach Ablauf einer Wahlperiode ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts über die Verfas­sungs­ge­mäßheit von Wahlrechts­normen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat.

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