21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil03.07.2008

Bundes­ver­fas­sungs­gericht: Teile des Bundes­wahl­ge­setzes sind verfas­sungs­widrigSitzverteilung im Bundestag muss reformiert werden

Teile des Bundes­wahl­ge­setzes hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht für verfas­sungs­widrig erklärt und eine Neuregelung bis 2011 gefordert. Verfas­sungs­widrig ist das so genannte negative Stimmengewicht. Dieses kann einer Partei trotz zusätzlicher Zweitstimmen weniger Mandate bescheren. Dies verletze den Grundsatz der Wahlgleichheit und führe zu willkürlichen Ergebnissen. Der derzeitige Bundestag könne aber trotz dieses Wahlfehlers weiter fortbestehen, entschieden die Richter.

Der durch § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 Bundes­wahl­gesetz bewirkte Effekt des negativen Stimmgewichts kann dazu führen, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für solche Parteien, die Überhangmandate in einem Land gewinnen, insofern negativ wirken, als diese Parteien in demselben oder einem anderen Land Mandate verlieren. Umgekehrt ist es auch möglich, dass die Nichtabgabe einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich ist.

Sachverhalt:

Unter dem Begriff des negativen Stimmgewichts werden unter­schiedliche Paradoxien im Verfahren der Mandats­zu­teilung zusammengefasst, denen gemeinsam ist, dass der Gewinn von Zweitstimmen einer Partei bei genau dieser Partei zu einem Mandatsverlust führen kann. Der Effekt kann auch in umgekehrter Richtung derart auftreten, dass der Verlust von Zweitstimmen zu einem Mandatsgewinn führt.

Bei Bundes­tags­wahlen kann das negative Stimmgewicht beim Entstehen von Überhang­mandaten gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 5 Bundes­wahl­gesetz auftreten. Stehen der Zahl der gewählten Wahlkreis­be­werber einer Partei in einem Land nur ebenso viele oder weniger nach Zweitstimmen auf der Landesliste (unter)verteilte Sitze gegenüber, dann kann es für die Partei günstiger sein, weniger Zweitstimmen in einem Bundesland zu erhalten, wenn dadurch die Sitzzahl in der bundesweiten Oberverteilung zwischen den verschiedenen Parteien nicht beeinflusst wird. Einfluss hat die niedrigere Stimmzahl dann allein auf die Unterverteilung der Sitze auf die einzelnen Landeslisten der betroffenen Partei. Denn eine niedrigere Anzahl an Zweitstimmen kann bei der Verteilung der bei der Unterverteilung übrig gebliebenen Reststimmen dazu führen, dass eine andere Landesliste vorrangig zum Zuge kommt. Je enger die Nachkom­maanteile des ungerundeten Sitzanspruchs zweier Länder liegen, nach denen sich die Verteilung der Reststimmen bemisst, desto eher kann - wenn mindestens in einem dieser Länder Überhangmandate gewonnen wurden - der Effekt des negativen Stimmgewichts eintreten. Büßt die Partei in dem Land, in dem sie ein Überhangmandat gewonnen hat, ein Listenmandat in der Unterverteilung ein, so erleidet sie dadurch keinen Nachteil, weil ihre Liste ohnehin nicht zum Zuge kommt und sie die ihr zustehenden Wahlkreis­mandate nicht verlieren kann. Eine andere Landesliste der Partei erhält hingegen einen Sitz mehr. Damit gewinnt die betroffene Partei bundesweit durch den geringeren Stimmenanteil einen Sitz hinzu. Auch in umgekehrter Reihenfolge ist dieser Effekt denkbar. Eine Partei kann durch mehr Zweitstimmen ein Überhangmandat verlieren und somit in der Gesamt­man­datszahl schlechter stehen.

Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann in den seltenen Fällen ausgenutzt werden, in denen eine Nachwahl an einem anderen Tag als dem Tag der Hauptwahl durchgeführt wird und das Ergebnis der Hauptwahl vor der Nachwahl bekannt ist. In diesen Fällen können Berechnungen dazu angestellt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen der Effekt des negativen Stimmgewichts eintreten kann, und die Wähler der Nachwahl können sich in ihrem Wahlverhalten hierauf einstellen. Dies war bei der Bundestagswahl 2005 im Wahlkreis Dresden der Fall, in dem die Direkt­kan­didatin der NPD plötzlich verstorben war. In der Presse wurde erläutert, dass die CDU bei einer Zweit­stim­me­n­anzahl von mehr als 41.225 Stimmen ein Mandat verlieren könnte, bei einer niedrigeren Zweit­stim­menzahl könnte sie jedoch ein Mandat gewinnen. Denn bei mehr als 41.225 Zweitstimmen würde sie zwar ein Listenmandat hinzugewinnen; da jedoch bereits nach dem vorläufigen Ergebnis der Hauptwahl in Sachsen drei Überhangmandate gewonnen waren, würde ein zusätzliches Listenmandat für Sachsen nicht zum Tragen kommen.

Die Beschwer­de­führer halten die Möglichkeit, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts auftreten kann, für verfassungswidrig. Hieraus resultiere eine Verletzung von Art. 38 GG, insbesondere der Freiheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Die Unmittelbarkeit der Wahl sei verletzt, weil die Stimmen nicht direkt wirkten, sondern Anhänger einer Partei gezwungen seien, ihrer Partei die Stimme zu verweigern. Eine Verletzung der Freiheit der Wahl liege vor, weil die Wähler, die ihrer Partei mit ihrer Stimme schaden können, davon abgehalten würden, dieser Partei ihre Stimme zu geben.

Entscheidung:

Dieser Effekt des negativen Stimmgewichts verletzt die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Die Regelung ist daher, soweit hierdurch der Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht wird, verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

16. Bundestag kann trotz des Wahlfehlers fortbestehen

Der Wahlfehler wirkt sich zwar auf die Zusammensetzung des 16. Deutschen Bundestages aus, führt aber nicht zu dessen Auflösung, da das Interesse am Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfas­sungs­mä­ßigkeit des Bundes­wahl­ge­setzes zusam­men­ge­setzten Volksvertretung überwiegt. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfas­sungs­gemäße Regelung zu treffen.

Im Zusammenhang mit der erhobenen Wahlprü­fungs­be­schwerde hatte der Zweite Senat auch über die Frage zu entscheiden, ob die nicht­öf­fentliche Neuauszählung von Stimmen in einigen Wahlkreisen durch den Kreiswahlleiter gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl verstößt. Dies hat der Senat verneint.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Soweit der Beschwer­de­führer zu 2. sich gegen die nicht­öf­fentliche Neuauszählung der Stimmen in einigen Wahlkreisen wendet, ist die Wahlprü­fungs­be­schwerde unbegründet. Aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl folgt nicht, dass sämtliche Handlungen im Zusammenhang mit der Ermittlung des Wahlergebnisses unter Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden müssen. Die Ordnungs­mä­ßigkeit und Nachvoll­zieh­barkeit der Feststellung des Wahlergebnisses wird nicht in Frage gestellt, wenn für einzelne Nachzählungen des Kreis­wahl­leiters im Rahmen seiner vorbereitenden Aufgaben die gebotene Öffentlichkeit nur mittelbar dadurch hergestellt wird, dass das Ergebnis solcher Nachzählungen der Überprüfung durch den Kreis­wahl­aus­schuss unterliegt, der seinerseits in öffentlicher Sitzung entscheidet. Ein Wahlfehler kann in diesem Zusammenhang nur festgestellt werden, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es bei der vorbereitenden Neuauszählung zu Unregel­mä­ßig­keiten gekommen ist und der zuständige Wahlausschuss seinen Aufgaben nicht nachgekommen ist. Ein derartiger Wahlfehler ist nicht geltend gemacht worden.

II. Der Effekt des negativen Stimmgewichts verletzt den Grundsatz der Gleichheit der Wahl.

1. Die Erfolgs­wert­gleichheit fordert, dass der Erfolgswert jeder Stimme, für welche Partei sie auch immer abgegeben wurde, gleich ist. Dies bedeutet auch, dass sie für die Partei für die sie abgegeben wurde, positive Wirkung entfalten können muss. Ein Wahlsystem, das darauf angelegt ist oder doch jedenfalls in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandats­ver­lusten führt oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlbe­rech­tigten widersinnig erscheinen. Der Effekt des negativen Stimmgewichts beeinträchtigt aber auch die Erfolg­s­chan­cen­gleichheit der Stimmen. Diese erlaubt zwar, dass - wie z.B. im Mehrheits­wahlrecht - Stimmen nicht gewertet werden, nicht aber, dass einer Wahlstimme neben der Chance, zum beabsichtigten Erfolg beizutragen, auch die Gefahr, dem eigenen Wahlziel zu schaden, innewohnt.

Gleichheit der Wahl beeinträchtigt

2. Die Beein­träch­tigung der Gleichheit der Wahl durch den Effekt des negativen Stimmgewichts kann nicht durch "zwingenden Gründe" gerechtfertigt werden.

Die Regelungen, aus denen sich der Effekt des negativen Stimmgewichts ergibt, dienen Belangen des föderalen Proporzes. Föderale Belange können zwar grundsätzlich bei der Ausgestaltung des Wahlrechts berücksichtigt werden. Diese Aspekte bilden jedoch keinen zwingenden Grund, der geeignet wäre, den Effekt des negativen Stimmgewichts zu rechtfertigen. Der Eingriff in die Gleichheit der Wahl durch den Effekt des negativen Stimmgewichts ist von hoher Intensität. Er führt nicht nur dazu, dass Wählerstimmen bei der Zuteilung der Mandate unterschiedlich gewichtet werden, sondern bewirkt, dass der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt wird. Demgegenüber kommt dem föderalen Element hier kein hinreichendes Gewicht zu, zumal der Gesetzgeber die bundess­taatliche Gliederung und den daraus folgenden Aufbau der Parteien im Wahlrecht in vielfältiger Weise berücksichtigt hat und die insoweit getroffenen Regelungen unabhängig sind von den Regelungen, aus denen sich der Effekt des negativen Stimmgewichts ergibt. Bei der Gewichtung des Anliegens einer föderalen Zuordnung der Stimmen ist zudem zu berücksichtigen, dass es bei der Wahl zum Bundestag um die Wahl des unitarischen Vertre­tungs­organs des Bundesvolkes geht. Bei einer solchen Wahl ist der Bundes­ge­setzgeber nicht verpflichtet, föderative Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

Der Effekt des negativen Stimmgewichts ist auch keine zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl. Der Effekt hängt von verschiedenen Faktoren, vor allem aber von der Konzeption der Verrechnung der Erst- mit den Zweit­stim­men­mandaten ab, die das Wahlsystem als solche nicht determinieren. Von Verfassungs wegen ist der Gesetzgeber nicht gehindert, eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl ohne den Effekt des negativen Stimmgewichts anzuordnen.

Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verletzt

III. Die Regelung verletzt auch die verfas­sungs­rechtlich verbürgte Unmittelbarkeit der Wahl. Der Wähler kann schon nicht erkennen, ob sich seine Stimme stets für die zu wählende Partei und deren Wahlbewerber positiv auswirkt, oder ob er durch seine Stimme den Misserfolg eines Kandidaten seiner eigenen Partei verursacht.

IV. § 7 Abs. 3 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG ist daher verfas­sungs­widrig, soweit er den Effekt des negativen Stimmgewichts bewirkt.

Der Wahlfehler hat auch Mandatsrelevanz. Es handelt sich bei diesem Effekt nicht um eine sehr seltene Ausnahme, sondern er wirkt sich regelmäßig auf das Wahlergebnis aus, wenn bei einer Wahl zum Deutschen Bundestag Überhangmandate entstehen. Dies gilt auch für die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag, bei der es zu insgesamt 16 Überhang­mandaten kam. Wären zum Beispiel in Hamburg für die SPD etwa 19.500 Zweitstimmen weniger abgegeben worden, so hätte diese Partei im Ergebnis einen Sitz mehr im Deutschen Bundestag beanspruchen können.

Gleichwohl führt der Wahlfehler nicht zur Ungül­ti­g­er­klärung der Wahl und damit zur Auflösung des 16. Deutschen Bundestags. Der Fehler beruht auf einer nicht ganz einfach nachzu­voll­zie­henden Paradoxie des geltenden Bundes­wahl­ge­setzes und betrifft insgesamt nur wenige Mandate des Deutschen Bundestages. Eine Auflösung des Deutschen Bundestages, ohne dass zuvor dem Parlament Gelegenheit gegeben wird, das Bundes­wahl­gesetz anzupassen, würde darüber hinaus dazu führen, dass auch der dann zu wählende Bundestag auf einer verfas­sungs­widrigen Rechtsgrundlage gewählt werden müsste. Im Gegensatz dazu sind die Folgen einer Entscheidung, die die bisherige Rechtslage für eine angemessene Übergangszeit billigt, von Verfassungs wegen hinnehmbar.

V. Dem Gesetzgeber ist eine angemessene Frist einzuräumen, die Verfassungswidrigkeit des geltenden Wahlsystems zu beheben. Die Behebung der Verfas­sungs­wid­rigkeit dieser Normen betrifft nicht nur die Unterverteilung von Sitzen bei Listen­ver­bin­dungen einer Partei, sondern das gesamte Berech­nungs­system der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag. Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen auf die geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag haben. Im Hinblick darauf, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts untrennbar mit den Überhang­mandaten und der Möglichkeit von Listen­ver­bin­dungen zusammenhängt, kann eine Neuregelung sowohl beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den Zweit­stim­men­mandaten oder auch bei der Möglichkeit von Listen­ver­bin­dungen ansetzen. Je nach dem, für welche Alternative sich der Gesetzgeber entscheidet, ergeben sich Auswirkungen auf das gesamte Wahlsystem. Im Hinblick auf die hohe Komplexität des Regelungs­auftrags und unter Berück­sich­tigung der gesetzlichen Fristen zur Vorbereitung einer Bundestagswahl erscheint es daher unangemessen, dem Gesetzgeber aufzugeben, das Wahlrecht rechtzeitig vor Ablauf der gegenwärtigen Wahlperiode zu ändern. Ein derart kurzer Zeitraum birgt die Gefahr, dass die Alternativen nicht in der notwendigen Weise bedacht und erörtert werden können. Dem Gesetzgeber wäre damit auch die Möglichkeit genommen, das für den Wähler kaum noch nachzu­voll­ziehende Regelungs­ge­flecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilungen des BVerfG

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