14.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss06.12.2005

Weigerung der Kranken­ver­si­cherung zur Kostenübernahme einer neuen Behand­lungs­methode ist verfas­sungs­widrigVerfas­sungs­richter stärken Rechte der Patienten

Wer in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert ist, hat einen verfas­sungs­rechtlich garantierten Anspruch auf freie Wahl der Arznei- und Hilfsmittel zum Schutz seines Lebens. Im Notfall müssen Krankenkassen auch alternative Behand­lungs­me­thoden bezahlen, selbst wenn sie nicht als gängige Methode im Leistungs­katalog der Kassen aufgeführt sind.

Die Verfassungsbeschwerde des 18-jährigen Beschwer­de­führers, der an einer seltenen, lebens­be­droh­lichen Krankheit leidet, gegen die Weigerung der gesetzlichen Krankenversicherung, für die Kosten einer so genannten neuen Behand­lungs­methode aufzukommen, war erfolgreich.

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hob das angegriffene Urteil des Bundes­so­zi­al­ge­richts auf, das eine Leistungs­pflicht der Krankenkasse verneinte. Es sei mit der grundgesetzlich garantierten allgemeinen Handlungs­freiheit, dem Sozial­staats­prinzip und dem Grundrecht auf Leben nicht vereinbar, einen gesetzlich Kranken­ver­si­cherten, für dessen lebens­be­drohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behand­lungs­methode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank­heits­verlauf besteht. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Bundes­so­zi­al­gericht zurückverwiesen.

Sachverhalt

Der Beschwer­de­führer war von 1992 bis 1994 in einer Ersatzkasse als Familien­an­ge­höriger versichert. Er leidet an der Duchenne’schen Muskel­dys­trophie. Diese Krankheit tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf, und zwar mit einer Häufigkeit von 1:3.500. Die Krankheit manifestiert sich in den ersten Lebensjahren; ihr prognos­ti­zierter Verlauf ist fortschreitend. Mit dem Verlust der Gehfähigkeit ist normalerweise zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr zu rechnen; es tritt zunehmend Atemin­suf­fizienz auf. Die Krankheit äußert sich auch in Wirbel­säu­len­de­for­mie­rungen, Funktions- und Bewegungs­ein­schrän­kungen von Gelenken sowie in Herzmus­ke­l­er­kran­kungen. Die Lebenserwartung ist stark eingeschränkt. Üblicherweise wird nur eine sympto­mo­ri­en­tierte Behandlung durchgeführt. Bislang gibt es keine wissen­schaftlich anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des Krank­heits­verlaufs bewirken kann.

Seit September 1992 befindet sich der Beschwer­de­führer in Behandlung bei einem Facharzt für Allge­mein­medizin. Bei dieser Behandlung werden neben Thymuspeptiden, Zytoplasma und homöopathischen Mitteln hochfrequente Schwingungen angewandt. Bis Ende 1994 hatten die Eltern des Beschwer­de­führers dafür einen Betrag von 10.000 DM aufgewandt. Die Ärzte der Orthopädischen Klink der Technischen Hochschule A. und eine mitbetreuende Ärztin hielten den bisherigen Krank­heits­verlauf für günstig. Seit Herbst 2000 ist der Beschwer­de­führer, der eine öffentliche Schule besucht, auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Antrag auf Übernahme der entstandenen Kosten für die Therapie wurde von der Krankenkasse abgelehnt, da ein Therapieerfolg der angewandten Methoden wissen­schaftlich nicht nachgewiesen sei. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in letzter Instanz vor dem Bundes­so­zi­al­gericht ohne Erfolg. Die Verfas­sungs­be­schwerde war erfolgreich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde

Die Entscheidung des Bundes­so­zi­al­ge­richts steht nicht im Einklang mit dem Grundgesetz. Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungs­freiheit) in Verbindung mit dem Sozial­staats­prinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter bestimmten Voraussetzungen einer Versi­che­rungs­pflicht in der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung zu unterwerfen und für seine Beiträge die notwendige Krank­heits­be­handlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebens­be­droh­lichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schul­me­di­zi­nische Behand­lungs­me­thoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behand­lungs­methode auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte Behand­lungs­methode eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank­heits­verlauf versprechen. Für die Behandlung der Duchenne’schen Muskel­dys­trophie steht gegenwärtig allein ein symptomatisches Thera­pie­spektrum zur Verfügung. Eine unmittelbare Einwirkung auf die Krankheit und ihren Verlauf mit gesicherten wissen­schaft­lichen Methoden ist noch nicht möglich.

Die angegriffene Auslegung der leistungs­recht­lichen Vorschriften des Fünften Buches Sozial­ge­setzbuch durch das Bundes­so­zi­al­gericht ist in der extremen Situation einer krank­heits­be­dingten Lebensgefahr auch nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das Leben zu vereinbaren. Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebens­be­droh­lichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungs­pflicht und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindest­ver­sorgung.

In derartigen Fällen haben daher die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Heilungserfolg oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank­heits­verlauf im konkreten Einzelfall gibt.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 126/05 des BVerfG vom 16.12.2005

der Leitsatz

Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozial­staats­prinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Kranken­ver­si­cherten, für dessen lebens­be­drohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behand­lungs­methode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank­heits­verlauf besteht.

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