18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil19.04.2016

Grundgesetz gebietet keinen Abstammungs­klärungs­anspruch gegenüber mutmaßlich leiblichem VaterAus allgemeinem Persönlichkeits­recht abgeleiteter Schutz der Kenntnis der eigenen Abstammung gilt nicht absolut

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass von Verfassung wegen kein Anspruch auf Durchführung eines Verfahrens zur sogenannten rechts­fol­genlosen Klärung der Abstammung gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater besteht. Der aus dem allgemeinen Persönlichkeits­recht abgeleitete Schutz der Kenntnis der eigenen Abstammung ist nicht absolut, sondern muss mit wider­strei­tenden Grundrechten in Ausgleich gebracht werden. Hierfür verfügt der Gesetzgeber über einen Ausgestaltungs­spielraum. Auch wenn eine andere gesetzliche Lösung verfassungs­rechtlich denkbar wäre, so ist es vom Ausgestaltungs­spielraum des Gesetzgebers - auch im Lichte der Europäischen Konvention für Menschenrechte - gedeckt, wenn die rechts­fol­genlose Klärung der Abstammung nur innerhalb der rechtlichen Familie, nicht aber gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater besteht.

Die im Jahr 1950 nichtehelich geborene Beschwer­de­führerin des zugrunde liegenden Verfahrens nimmt an, dass der Antragsgegner des Ausgangs­ver­fahrens (im Folgenden: Antragsgegner) ihr leiblicher Vater ist. Im Jahr 1954 nahm die Beschwer­de­führerin den Antragsgegner nach damaligem Recht auf "Feststellung blutsmäßiger Abstammung" in Anspruch. Das Landgericht wies die Klage im Jahr 1955 rechtskräftig ab. Im Jahr 2009 forderte die Beschwer­de­führerin den Antragsgegner zur Einwilligung in die Durchführung eines DNA-Tests auf, um die Vaterschaft "abschließend zu klären". Der Antragsgegner lehnte dies ab, woraufhin die Beschwer­de­führerin im vorliegenden Ausgangs­ver­fahren den Antragsgegner unter Berufung auf § 1598 a BGB auf Einwilligung in eine genetische Abstam­mungs­un­ter­suchung und auf Duldung der Entnahme einer für die Untersuchung geeigneten genetischen Probe in Anspruch nahm. § 1598 a BGB gibt dem Vater, der Mutter und dem Kind innerhalb der rechtlichen Familie gegenüber den jeweils anderen beiden Famili­en­mit­gliedern einen solchen Anspruch. Die Beschwer­de­führerin vertrat die Auffassung, die Norm des § 1598 a BGB sei im vorliegenden Fall verfassungs- und menschen­rechts­konform dahingehend auszulegen, dass auch der Antragsgegner als mutmaßlich leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater auf Teilnahme an einer rechts­fol­genlosen Abstam­mungs­klärung in Anspruch genommen werden können müsse. Das Amtsgericht verneinte die Anwendbarkeit dieser Vorschrift und wies den Antrag der Beschwer­de­führerin zurück. Die dagegen gerichtete Beschwerde zum Oberlan­des­gericht blieb ebenfalls erfolglos.

Isolierter Abstam­mungs­klä­rungs­an­spruch gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater nicht gegeben

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass die zulässige Verfas­sungs­be­schwerde nicht begründet ist. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwer­de­führerin nicht in ihren Grundrechten. Die Auslegung des § 1598 a BGB durch das Amtsgericht und das Oberlan­des­gericht ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Die von der Beschwer­de­führerin angestrebte erweiternde verfas­sungs­konforme Auslegung der Norm kommt nicht in Betracht, weil die geltende Rechtslage, die weder in § 1598 a BGB noch an anderer Stelle einen isolierten Abstam­mungs­klä­rungs­an­spruch gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater vorsieht, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Es verstößt insbesondere nicht gegen das allgemeine Persön­lich­keitsrecht eines Kindes, dass es seine leibliche Abstammung von einem Mann, den es für seinen leiblichen Vater hält, der ihm jedoch rechtlich nicht als Vater zugeordnet ist, gegen den Willen dieses Mannes nur im Wege der Feststellung der rechtlichen Vaterschaft (§ 1600 d BGB), nicht aber in einem isolierten Abstam­mungs­un­ter­su­chungs­ver­fahren klären kann.

Gesetzgeber kommen bei Ausgestaltung privater Rechts­be­zie­hungen weite Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­tungs­spielräume zu

Die Frage der Aufklärbarkeit der eigenen Abstammung vom vermeintlich leiblichen Vater betrifft das allgemeine Persön­lich­keitsrecht, das vor der Vorenthaltung verfügbarer Informationen über die eigene Abstammung schützt. Dem Staat kommt dabei die verfas­sungs­rechtliche Verpflichtung zu, der Schutz­be­dürf­tigkeit des Einzelnen vor der Vorenthaltung verfügbarer Informationen über die eigene Abstammung bei der Ausgestaltung der Rechts­be­zie­hungen zwischen den Betroffenen angemessen Rechnung zu tragen. Bei der Ausgestaltung privater Rechts­be­zie­hungen kommen dem Gesetzgeber jedoch grundsätzlich weite Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­tungs­spielräume zu. Sie bestehen vor allem dort, wo es um die Berück­sich­tigung wider­strei­tender Grundrechte geht. Nur ausnahmsweise lassen sich aus den Grundrechten konkrete Regelungs­pflichten des Privat­rechts­ge­setz­gebers ableiten. Zwar hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht gerade hinsichtlich der Kenntnis der Abstammung dem Gesetzgeber konkretere Regelungs­pflichten aufgegeben. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, dem Kind einen isolierten Abstam­mungs­klä­rungs­an­spruch gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater einzuräumen, hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hingegen nicht festgestellt.

Im Falle einer gegen den Willen des vermeintlich leiblichen Vaters durchgeführten Abstam­mungs­klärung sind mehrere Grund­recht­s­träger in unter­schied­lichem Maße betroffen.

Resultierend aus Recht auf Privat- und Intimsphäre müssen geschlechtliche Beziehungen nicht offenbaren

Sowohl dem Mann, dessen leibliche Vaterschaft gegen seinen Willen festgestellt werden soll, als auch der Mutter steht das mit dem Recht auf Achtung der Privat- und Intimsphäre (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) spezifisch geschützte Recht zu, geschlechtliche Beziehungen nicht offenbaren zu müssen. Die Schutz­wür­digkeit der leiblichen Eltern, eine geschlechtliche Beziehung nicht offenbar werden zu lassen, wäre zwar von vornherein zugunsten des Interesses ihres Kindes reduziert, seine eigene Abstammung zu kennen, wenn das Kind tatsächlich aus dieser geschlecht­lichen Beziehung hervorgegangen wäre. Gerade darüber besteht jedoch Ungewissheit, die mit dem angestrebten Verfahren erst noch beseitigt werden soll.

Entnahme genetischer Proben ist mit Eingriff in Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung verbunden

Daneben sind weitere Grundrechte des Mannes, dessen leibliche Vaterschaft gegen seinen Willen geklärt werden soll, betroffen. Die Durchführung einer genetischen Abstam­mungs­un­ter­suchung und die Entnahme einer für die Untersuchung geeigneten genetischen Probe ist mit einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und in das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) verbunden.

Abstam­mungs­un­ter­suchung kann zur Beein­träch­tigung des grundgesetzlich geschützten Familienlebens führen

Darüber hinaus kann die Abstam­mungs­klärung den zur Mitwirkung verpflichteten Mann und seine Familie in ihrem durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familienleben beeinträchtigen. Dieses bleibt nicht unberührt, wenn die Möglichkeit im Raum steht, dass der Mann ein weiteres Kind haben könnte. Das gilt unabhängig davon, ob sich der Verdacht durch die Abstam­mungs­un­ter­suchung bestätigt oder nicht, und ist auch bei negativem Ausgang der Abstam­mungs­klärung nicht vollständig reversibel. Die Belastung besteht aber erst recht, wenn sich eine weitere Vaterschaft im Abstam­mungs­klä­rungs­ver­fahren tatsächlich als gegeben erweist.

Die Anordnung und Durchführung einer Abstam­mungs­un­ter­suchung, durch welche die leibliche Vaterschaft geklärt wird, beeinträchtigen unter Umständen auch das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familienleben der Mitglieder der bestehenden rechtlichen Familie des Kindes. Die Familie ist bereits durch das Verfahren zur Abstam­mungs­klärung mit dem Verdacht und einer Möglichkeit der Aufdeckung fehlender leiblicher Abstammung des Kindes vom rechtlichen Vater konfrontiert. Das nimmt den Beteiligten Gewissheit und Vertrauen in ihre familiären Beziehungen. Die Belastung tritt spiegelbildlich zu derjenigen Familie des angeblich leiblichen Vaters bereits dadurch ein, dass die Möglichkeit der leiblichen Abstammung von einem anderen Mann im Raum steht. Die Belastung des Familienlebens ist aber besonders groß, wenn sich bei der Abstam­mungs­klärung herausstellte, dass der rechtliche Vater nicht leiblicher Vater des Kindes ist.

Isolierte Abstam­mungs­klärung birgt Gefahr einer Abstam­mungs­un­ter­su­chungen "ins Blaue" hinein

Die Abstam­mungs­klärung beeinträchtigt zudem das allgemeine Persön­lich­keitsrecht des rechtlichen Vaters, in dessen Selbst­ver­ständnis die Annahme, in genealogischer Beziehung zu seinem Kind zu stehen, eine Schlüs­sel­stellung einnehmen kann. Mit der Ermöglichung der isolierten Abstam­mungs­klärung zwischen Personen, die nicht durch ein rechtliches Eltern-Kind-Verhältnis verbunden sind, geht zudem die Gefahr einher, dass Abstam­mungs­un­ter­su­chungen "ins Blaue" hinein erfolgen. Die genannten Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen könnten daher eine erhebliche personelle Streubreite entfalten. Bei der Klärung nach § 1598 a BGB, also innerhalb der rechtlichen Familie, besteht diese Gefahr nicht, weil der Kreis der Berechtigten und Verpflichteten hier auf die Mitglieder der rechtlichen Familie beschränkt ist. Dieses Regulativ entfällt aber, wenn wie in der vorliegenden Konstellation zwangsläufig auch Außenstehende als Verpflichtete einbezogen werden.

Kind kann regulär gemäß § 1600 d BGB Feststellung der Vaterschaft des betroffenen Mannes beantragen

Die Entscheidung des Gesetzgebers, keine isolierte Abstam­mungs­klärung gegenüber dem angeblich leiblichen Vater zu ermöglichen, wahrt die verfas­sungs­recht­lichen Grenzen zulässiger Ausgestaltung. Die Bereitstellung eines solchen Verfahrens wäre dem Gesetzgeber verfas­sungs­rechtlich möglich. Zwingend vorgegeben ist ihm dies durch das allgemeine Persön­lich­keitsrecht des Kindes jedoch nicht, zumal ein Kind, das seine Abstammung von einem Mann klären will, den es für seinen leiblichen Vater hält, nach der aktuellen Gesetzeslage nicht rechtlos ist. Vielmehr kann es gemäß § 1600 d BGB die Feststellung der Vaterschaft dieses Mannes beantragen und damit inzident dessen leibliche Vaterschaft klären. Bei positivem Ausgang führt es zur Begründung eines rechtlichen Vater-Kind-Verhältnisses einschließlich aller damit verbundenen wechselseitigen Rechte und Pflichten. Der Beschwer­de­führerin ist diese Möglichkeit - nach ihrer eigenen Einschätzung - nur deshalb verstellt, weil sie bereits einmal erfolglos im Wege der Vater­schafts­fest­stel­lungsklage gegen den Antragsgegner vorgegangen ist.

Ausschluss des isolierten Abstam­mungs­klä­rungs­ver­fahrens gerechtfertigt

Die vom Gesetzgeber gewählte Lösung, kein isoliertes Abstam­mungs­klä­rungs­ver­fahren gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater zuzulassen, trägt dem für die Grundrechte der Betroffenen ungünstigsten und wegen der Ungewissheit der leiblichen Vaterschaft nicht ausschließbaren Fall Rechnung, dass ein Abstam­mungs­klä­rungs­ver­fahren zu negativem Ergebnis führt. Die Abstam­mungs­un­ter­suchung würde dann auf der einen Seite dem Kind nicht die gewünschte Gewissheit über seine leibliche Abstammung verschaffen, beeinträchtigte aber auf der anderen Seite - weitgehend irreversibel - die Grundrechte der anderen Betroffenen. Weil die Eröffnung eines isolierten Abstam­mungs­klä­rungs­ver­fahrens weder durch gesetzliche Regelung noch im Einzelfall durch die Gerichte von vornherein auf jene Fälle beschränkt werden könnte, in denen der mutmaßlich leibliche Vater tatsächlich der Erzeuger des Kindes ist, durfte der Gesetzgeber seine Abwägung auch an der Konstellation ausrichten, dass der zur Mitwirkung an einer Abstam­mungs­un­ter­suchung gezwungene vermeintlich leibliche Vater nicht der Erzeuger ist.

Grundrechte der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und Rechtsprechung des EGMR bleiben gewahrt

Die Berück­sich­tigung der als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten heran­zu­zie­henden Europäischen Menschen­rechts­kon­vention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte führt zu keinem anderen Ergebnis. Das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schließt zwar nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Recht auf Identität ein, zu dem auch das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gehört. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich jedoch nicht ableiten, dass neben der rechtlichen Vater­schafts­fest­stellung auch eine Möglichkeit der isolierten Abstam­mungs­klärung bereitstehen müsste.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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